Albert Camus 1913-2013

Über seine exzentrische Position im intellektuellen Feld, die verschwindende Aura eines Klassikers und die aufgeklärerische Skepsis seines Werkes

Von Pierre KrügelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pierre Krügel

Albert Camus, der vor hundert Jahren, am 7. November 1913, geboren wurde, ist vor mehr als einem halben Jahrhundert, kaum sechsundvierzigjährig, am 4. Januar 1960 zu Tode gekommen. Die Disproportion, die in diesen beiden Daten liegt, verschärft noch die ohnehin gegebene Spannung zwischen einer sich im ständigen Dialog mit den Problemen ihrer Gegenwart entwickelnden literarischen und kritischen Produktion und der posthumen Rezeption, die versucht ist, ein bei näherem Hinsehen vielstimmiges und evident fragmentarisch gebliebenes Œuvre unter wenige generalisierende Begriffe zu fassen.

Die Nennung des Namens Camus löst fast unfehlbar bestimmte Erinnerungsreflexe und Assoziationen aus, die rasch zu einem einigermaßen deutlichen intellektuellen Porträt zusammenschießen, das bestimmt wird durch Konzepte wie „Existentialismus“ und „Engagement“, das „Absurde“ und die „Revolte“, und die Erinnerung an den plötzlichen, zufällig wirkenden Tod des noch nicht siebenundvierzigjährigen Autors bei einem Autounfall – einem „absurd“ erscheinenden Ende –, das in tragischer Weise eine Einheit von Leben und Werk zu beglaubigen scheint. Das Bild des immer wieder seinen Stein bergan wälzenden Sisyphos und des zwischen den Polen „solitaire“ („vereinzelt“) und „solidaire“ („solidarisch“) zu verortenden „Künstlers bei der Arbeit“ (so das Ende einer Erzählung aus dem Jahr 1956, „Jonas ou l’artiste au travail“) vervollständigen diesen Schattenriss einer intellektuellen Physiognomie.

Diese Assoziationen zum literarischen Werk verbinden sich dann, ganz unliterarisch, mit dem Bild der Person. Camus’ Präsenz ist ganz ausgeprägt die des Autors einer medial vermittelten Welterfahrung. Er ist nicht nur durch seine philosophischen und literarischen Texte, seine politischen Interventionen gegenwärtig gewesen, sondern buchstäblich – vielfach photographiert – auch im Bild. Neben Hemingway war er wahrscheinlich der am häufigsten in Zeitungen und Hochglanzmagazinen abgebildete Schriftsteller der vierziger und fünfziger Jahre: ein hochgewachsener, leicht melancholisch wirkender Mann im Trenchcoat, der sein Äußeres einmal als eine „Mischung aus Fernandel, Humphrey Bogart und einem Samurai“ beschrieb[1]. Dass Camus zu einem „generationsprägenden“ Autor der fünfziger und sechziger Jahre in der westlichen Welt werden konnte, mag durchaus auch an den Identifikations- oder zumindest Spiegelungsmöglichkeiten gelegen haben, die der Autor als Ikone zu vermitteln schien: Literatur und Lebensgefühl treten nebeneinander.

Wie sehr Camus’ Werk dabei in Deutschland in den sechziger Jahren in Deutschland auch als Möglichkeit gelesen wurde, sich von familiärer und gesellschaftlicher Enge zu distanzieren, lässt sich Uwe Timms 2005 erschienener Erzählung „Der Freund und der Fremde“ entnehmen,in der er erinnernd ein doppeltes Porträt entwirft, das seine eigene intellektuelle Biographie zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr mit der seines Freundes Benno Ohnesorg, dessen gewaltsamer Tod bei der Anti-Schah-Demonstration am 2. Juni 1967 in Berlin zu einer Zäsur der Studentenbewegung werden sollte, verknüpft. Am Braunschweig-Kolleg, einer Institution, die Erwachsenen ermöglichen sollte, das Abitur nachzuholen, habe ihre Freundschaft „als Gespräch über Literatur“[2] begonnen, das zunächst um ein Buch kreiste, Camus’ „Fremden“:

„Ich hatte das Buch, als ich in das Kolleg kam, eben zum zweiten Mal gelesen und las es mit ihm gemeinsam zum dritten Mal. Wir lasen uns kleine Abschnitte vor, sprachen über die Stimmung, über die Umgebung der algerischen Stadt, in der Meursault lebt, eine Stimmung, die uns vertraut schien, dieses von der Gesellschaft Abgesondertsein. Dieser stereoskopische Blick auf Dinge und Menschen. […] Was uns in Der Fremde ansprach, war die Abgrenzung von all dem, was Konvention war, die Infragestellung der großen Gefühle und Tugenden: Nation, Familie, Heimat, Pflicht, Glaube, Treue. […] Die indifférence war der geheime Treibsatz, um sich selbst das Interesse zu geben, fern und fremd zu sein, ein Interesse, das man dadurch – und das war sicherlich ein wenig pubertär – auch von den anderen für sich erhoffte.“[3]

Uwe Timms Erinnerung an „eine Lektüre, die in dem Alter der Selbstfindung ihre Kraft entfaltet“[4] beschwört die Erinnerung an einen ethischen Anspruch in der Negation der überkommenen Werte und einen etwas vagen Stoizismus. Eine solche Form der Rezeption begünstigt durch die zu Abstraktion einladende Oberfläche Lesarten, die widerständige Texte parabelhaft verkürzen und andere, die tatsächlich klassisch-einfach daherkommen („L’hôte“, „Les muets“), ins Zeitlos-allgemeingültige verschieben. Wenn sich solche Leseerfahrungen in kollektiver Erinnerung sedimentieren, bleibt das Œuvre eines Schriftstellers zwar präsent, aber um den Preis, dass es zugerichtet und verkürzt wird.

Die innerfranzösische Wahrnehmung von Camus’ Werk dagegen ist in sich viel differenzierter und alles in allem weit kritischer gewesen, da er viel stärker vor dem Horizont literarischer Traditionen und ideologischer Positionskämpfe wahrgenommen wurde und wird. Einerseits avancierte er auch hier rasch zum modernen Klassiker, wurde als Schulautor institutionalisiert und blieb als Person im öffentlichen Bewusstsein – ein wenig so, wie sein Antipode Sartre einmal formuliert hatte: „das wunderbare Zusammentreffen einer Person, einer Aktion und eines Werkes“[5]. Andererseits finden sich schon bald – und dann durchgängig – Versuche, seine Bedeutung zu relativieren. Sie gründen nicht durchgängig in politisch-philosophischer Differenz, sondern wenden sich durchaus auch gegen das literarische Werk. Ein sicherlich extremes, dennoch symptomatisches Zeugnis für diese Distanzierung findet sich in der Invektive, die der Romancier und Literaturkritiker Angelo Rinaldi 1987 anlässlich einer biographischen Studie Roger Greniers über Camus gegen diesen richtet:

„In der Rolle des offiziellen Denkers, als unerschöpfliche Quelle für Prüfungsaufgaben im Baccalauréat und der Agrégation wird er von Grundschullehrern und Absolventen der ENA gleichermaßen verehrt. […] Es ist jetzt die vierte Generation junger Leute, die, fiebrig wie die russischen Nihilisten, den ersten Satz des ‚Mythos von Sisyphos’ deklamieren: ‚Es gibt nur ein einziges wirklich ernsthaftes philosophisches Problem: den Selbstmord.’ Später haben sie dann ein Landhaus, die Ehrenlegion und Kinder, die ihnen vorwerfen, diese Frage in der Schwebe gelassen zu haben. […] – Das beste, was Camus widerfahren könnte, wäre ein der Überdosis folgendes zeitweiliges Vergessen.“[6]

Camus war in den Bildungsinstitutionen, die das kulturelle Gedächtnis tradieren, präsent geblieben, aber an den Rand der literarischen, philosophischen und politischen Diskurse geraten. Währenddessen dauerte die unspektakuläre literaturwissenschaftliche, im engeren Sinn philologische Arbeit der Textsicherung und -konstitution an, die – unabhängig von und zeitlich deutlich vor der Planung der einzelnen Etappen des offiziellen Gedenkprogramms 2013 – zu einer neuen Gesamtausgabe führte. Sie erleichtert einen differenzierten Blick auf das Werk in seiner Zeit erheblich.

Sehr bald nach Camus’ Tod waren 1962 und 1965 in der „Bibliothèque de la Pléiade“ zwei voluminöse Bände herausgekommen, die die überlieferten Texte in die primär literarischen und primär essayistisch gehaltenen teilten. 2006 und 2008 sind die vier Bände einer neuen Ausgabe in der „Pléiade“ erschienen, die den Umfang ihrer Vorgängerin sehr erheblich erweitert hat. Diese Erweiterung verdankt sich nicht nur der Berücksichtigung von Texten aus dem Nachlass und der Tagebuchaufzeichnungen, die in Einzeleditionen bereits seit Jahren vorlagen, sondern vor allem der Neubewertung der politischen und literarkritischen journalistischen Arbeiten. Die neue Pléiade-Ausgabe verfährt so, dass nicht mehr Werkgruppen zusammengestellt werden, sondern die Texte in ihrer ursprünglichen chronologischen Abfolge erscheinen. Die Notate in den „Carnets“, die Privates zurückdrängen, dafür in gedrängter Form das „work in progress“ reflektieren, erhellen die literarischen und journalistischen Arbeiten. Indem die Herausgeber den Autor historisieren, Entstehungskontexte, Wandlungen und Brüche betonen, gewinnt gerade der Camus der vierziger und fünfziger Jahre neue Prägnanz.

Die letzten fünfzehn Lebensjahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die spätestens nach Erscheinen von „La peste“ im Juni 1947 im Zeichen des Weltruhms stehen, bilden einen scharfen Kontrast zu Camus’ im ursprünglichen Wortsinn randständiger Position in der französischen Literatur seiner Zeit.

Die erste Randständigkeit ist geographischer, die zweite sozialer Natur. Albert Camus wird am 7. November 1913 in Mondovi, Algerien, geboren, das 1830 von Frankreich erobert, aber erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts gegen wiederholte Aufstandsbewegungen unter europäische Kontrolle gebracht worden war. Das Territorium genoss dabei einen rechtlichen Sonderstatus, wurde nicht als Kolonie (wie der Senegal) oder als Protektorat (wie Tunesien), sondern als integraler Teil der französischen Republik betrachtet und demgemäß vom Innen-, nicht vom Kolonialministerium verwaltet. Dieser Sonderstatus erstreckte sich staatsrechtlich allerdings nur auf das Gebiet, nicht auf seine Bewohner, unter denen die Europäer eine rechtlich unvergleichlich bessere Stellung als die arabische Bevölkerung hatten. Für das damals (wie in seinen grundlegenden Strukturen noch heute) politisch und kulturell zutiefst zentralistisch geprägte Frankreich war Algerien literarisch und intellektuell zu jener Zeit allenfalls Peripherie. Zur geographischen Randständigkeit tritt die soziale Marginalisierung des Halbwaisen hinzu, der nur auf die Initiative seines Grundschullehrers hin eine weiterführende Schule besuchen kann, die ihm Zugang zur Universität in Algier ermöglicht. Frühe Theaterarbeit und erste Publikationen dringen nicht über die enge algerische Umgebung hinaus, was sich mit „L’étranger“ und „Le mythe de Sisyphe“, die beide im gleichen Jahr, 1942, im besetzten Frankreich erscheinen, schlagartig ändert. Ihr Autor, der neben seiner 1943 aufgenommenen Arbeit als Lektor bei Gallimard, der seine Bücher veröffentlicht hat, für „Combat“, eine klandestine Zeitung der Résistance, arbeitet, ist mit einem Mal in der französischen Literatur etabliert.

Mit Ende des Zweiten Weltkriegs steht diese vor einem Umbruch, der neben dem politischen auch einen thematischen und stilistischen Orientierungswandel bedeutet. Die Kollaborateure (Louis-Ferdinand Céline, Robert Brasillach, Pierre Drieu la Rochelle und manch anderer) sind diskreditiert; Paul Valéry und Jean Giraudoux sind tot; André Gide und Roger Martin du Gard erscheinen als Autoren des bürgerlichen Zeitalters, das, wenn schon nicht der Erste, so doch der Zweite Weltkrieg in seinen Grundfesten erschüttert hat. In der Nachkriegssituation sind den Lesern weder Maximen des l’art-pour-l’art noch surrealistische Experimente plausibel zu machen. Dagegen gewinnt Zeitbezogenheit unter dem Signum politischer Fragestellung, wie sie eine „littérature engagée“ einzulösen fordert, an Resonanz. Dass Jean-Paul Sartre 1947 in seinem programmatischen Text „Qu’est-ce que la littérature?“ hier gerade die gemeinsame Anstrengung von Autor und Leser betont, kommt einem verbreiteten Bedürfnis in den westeuropäischen Gesellschaften nach 1945 entgegen, in dem sich skeptische Infragestellung einerseits und der Wunsch nach neuer  Sinnstiftung andererseits verbinden.

Camus erstes nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschienenes Prosawerk schreibt sich dieser Situation ein und entspricht einem allgegenwärtigen, wenn auch etwas diffusen Rezeptionsbedürfnis, das weit über Frankreich hinausreicht. „La peste“ verfährt stilistisch ganz anders als „L’étranger“; es ist die weithin einem traditionellen Verständnis von Realismus verpflichtete Darstellung unterschiedlicher exemplarischer Reaktionen der Bewohner einer algerischen Stadt auf den unerwarteten Ausbruch einer „mittelalterlichen“ Seuche, gleichzeitig eine – zum Teil didaktisch akzentuierte – Parabel über die Bedrohung jeder zivilen Gesellschaft durch politischen Totalitarismus. Didaxe und Parabolik begründen dabei eine gewisse Unschärfe, ja lassen Missverständnisse zu. Die französische und internationale Rezeption hat den Widerstand gegen die Seuche als eine unmittelbare Allegorie der Résistance verstanden. Die Rezeption im Deutschland der fünfziger Jahre verdrängte demgegenüber zumeist diese Dimension, um zu metaphysischen, das konkrete Übel ins unverbindlich Allgemeine verschiebenden Interpretationen ihre Zuflucht zu nehmen. „La peste“ macht Camus weltweit bekannt; 1949 wird ihr Autor erstmals, von schwedischer Seite, für den Nobelpreis vorgeschlagen. Aber trotz des äußerlich so glänzend zurückgelegten Wegs von der algerischen Peripherie ins Zentrum des literarischen Systems Frankreichs bleibt die Integration in dieses System, wie sie die Verlagsarbeit für Gallimard, Theaterinszenierungen in Paris, seine ausgedehnte journalistische Tätigkeit zu beglaubigen scheinen, in gewisser Weise prekär. Zwischen 1950 und 1955 publiziert Camus „L’homme révolté“, die kurze Sammlung impressionistisch getönter Essais „L’Été“ und bearbeitet Theaterstücke von Calderón, Dino Buzzati und des französischen Renaissancedramatikers Pierre de Larivey für die Bühne, veröffentlicht aber kein neues erzählendes Werk.

Camus’ exzentrische Position im literarisch-journalistischen Feld hat sicherlich nicht nur eine Ursache, seine relative Marginalisierung verschärft sich jedoch zusehends mit seiner Weigerung, in der weltpolitischen Konfrontation des Kalten Krieges auf eine Kritik der sowjetischen Politik in ihrem Machtbereich zu verzichten; Sartre und der Kreis um „Les Temps modernes“ hielten es zumindest aus taktischen Erwägungen nicht für opportun, die orthodoxe Position der Kommunistischen Partei Frankreichs durch Stellungnahmen gegen die Politik der KPdSU zu schwächen. Maurice Merleau-Pontys Versuch, in „Humanisme et terreur“ 1947 die Moskauer Prozesse in einer gewundenen Interpretation geschichtsphilosophisch zu legitimieren, hatte tiefe Differenzen sichtbar gemacht. Die Positionen klärten sich zur Kenntlichkeit nach der Veröffentlichung von „L’homme révolté“, Camus’ weitausholendem Versuch, eine nicht mehr nur individuell konzipierte, sondern als „solidarisch“ gedachte Revolte philosophisch zu fundieren. Camus skizziert hier in zwei weitgeschlagenen Bögen zunächst verschiedene Stufen der „metaphysischen Revolte“ (u. a. Dostojewski, Nietzsche, die Surrealisten) und der „historischen Revolte“ (von Saint-Just über Hegel, den russischen Anarchismus unter dem Zarismus bis zu den faschistischen und kommunistischen Bewegungen nach 1917). Er kritisiert den moralischen Nihilismus totalitärer politischer Ordnungen, die – „irrational“ wie die faschistischen Bewegungen, „rational“ wie die kommunistischen Kader – zugunsten politischer Utopien elementare ethische Forderungen der Gegenwart negieren. Nach einem Abschnitt über „Revolte und Kunst“ entwirft er in „La pensée de Midi“ den Rückbezug auf gegenwärtige, innerweltliche Ansprüche der solidarischen Individuen, gefasst in ein idealisiertes Bild mediterraner, von utopischer Teleologie freier Kultur als Perspektive. Sehr viel bleibt in diesem Buch eklektizistisch, rhetorische Geste und aphoristische Zuspitzung treten an die Stelle von Argumentation. Die Gruppe um „Les Temps modernes“ musste sich – ungeachtet aller essayistischen Schwächen des Buchs – durch die an Koestler und Orwell gemahnende Sicht auf die kommunistische Bewegung provoziert fühlen, so dass Sartre, nach einer vorausgegangenen unfreundlichen Rezension durch seinen Mitarbeiter Francis Jeanson, auf die Camus gereizt geantwortet hatte, die Auseinandersetzung mit einem offenen Brief ins Persönliche wandte: Der Autor von „L’homme révolté“ habe seinen Thermidor gemacht[7], mit anderen Worten: seinen Platz im juste Milieu der saturierten Bourgeoisie gefunden, seine Moral habe „sich zunächst in Moralismus gewandelt, heute sei sie nichts weiter als Literatur, morgen werde sie vielleicht Immoralität sein“[8].

Die Artikel, die Camus in den folgenden Jahren regelmäßig in Reaktion auf die politischen Ereignisse seiner Gegenwart schrieb, widerlegen diesen Angriff auf seine persönliche Integrität schlagend, wie immer man seine Auffassungen in jedem einzelnen Fall beurteilen mag. Am wenigsten an unmittelbare Anlässe gebunden ist hier Camus’ langjähriges, wenn auch zu seinen Lebzeiten weitgehend erfolgloses Engagement gegen die Todesstrafe. „Réflexions sur la guillotine“ von 1957 ist ein kriminologisch, psychologisch und soziologisch gründlich dokumentiertes Plädoyer von nüchterner Überzeugungskraft. Sein Eintreten für die streikenden Arbeiter in Ostberlin im Juni 1953 wie für den Aufstand in Posen drei Jahre später zogen in Fortsetzung des „Homme révolté“ erneut die Trennlinie zur dominanten Gruppe der französischen Intelligentsia. Selbst als sich Teile der französischen Linken nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 mehr oder minder vorsichtig von einer bedingungslosen Verteidigung der sowjetischen Politik zu distanzieren begannen, änderte sich nichts grundlegend an der öffentlichen Wahrnehmung Camus’, die weiterhin jener politischen Schablone folgte, die Sartre vier Jahre zuvor geliefert hatte. Die exzentrische Position Camus’ in Bezug auf das literarische Feld verschärfte sich vielmehr mit der zunehmenden Eskalation des Algerienkriegs, der die französische Gesellschaft der fünfziger Jahre nachhaltig prägte und die politische Legitimität des Regierungssystems der IV. Republik zusehends zerfallen ließ. Für ihn als Algerienfranzosen, der die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich ablehnte, ohne den spätkolonialistischen status quo zu verteidigen, gestaltete sich der eskalierende Konflikt als Zerreißprobe.

Vom 1. November 1954 bis zum 9. September 1962 herrschte ein lange nicht offen deklarierter, aber außerordentlich brutaler Krieg, bemäntelt als „opérations de maintien de l’ordre“, „opérations de rétablissement de l’ordre“, „événements d’Algérie“. Die häufig wechselnden französischen Regierungen versuchten, gegen die zunehmenden Guerilla-Aktionen der algerischen Befreiungsbewegung, die auch die Zivilbevölkerung nicht verschonten, die territoriale Integrität der Republik zu erhalten – zusehends um beinahe jeden Preis. Sich häufende Fälle von Folter durch das französische Militär in Algerien unterminierten das Selbstverständnis der französischen Zivilgesellschaft, die für sich reklamierte, den universalen Werten der Aufklärung verpflichtet zu sein und den französischen Staat als deren aktiven Träger sah. Zwar hatte Camus schon nach dem blutig unterdrückten Aufstand in Sétif 1945 in einer Artikelserie in „Combat“ zu Reformen in Algerien aufgerufen (und damit an seine Haltung in den dreißiger Jahren angeknüpft) und diese Position auch später mit großer Beharrlichkeit gegen alle Widerstände bis zu den Thesen und Antithesen zur algerischen Situation in „Algérie 1958“[9] vertreten, aber die Versuche, den Konflikt durch Appelle zu entschärfen, fanden zusehends keinen Adressaten mehr: weder unter den anderen Algerienfranzosen noch unter den in Europa lebenden Franzosen – und schon gar nicht unter der autochthonen Bevölkerung Algeriens, die für die Unabhängigkeit kämpfte. Camus’ Haltung war angesichts unüberbrückbarer Antagonismen anachronistisch geworden. Kritik erfuhr er nun nicht allein seitens der antikolonialistischen Linken, sondern auch von Seiten des liberal-konservativen Raymond Aron.

Unter dem Eindruck dieser Entwicklung publizierte Camus zwei literarische Werke: zunächst im Mai 1956 „La chute“, einen knapp hundertseitigen Prosatext, dann „L’exil et le royaume“, eine Sammlung kürzerer Erzählungen, die im März 1957 herauskam. Die sechs Erzählungen von „L’exil et le royaume“ sind vielstimmig; der Autor erprobt verschiedene Stillagen. Das lyrische Pathos in „La femme adultère“ steht neben der aggressiven, fast expressionistischen Suada des Missionars in „Le rénégat“, die erst der letzte, auktoriale Satz („Eine Handvoll Salz schloß den Mund des geschwätzigen Sklaven“) abschneidet. Manchmal erinnern die einzelnen Texte an Pastiches. Jean Grenier berichtet, Camus habe ihm erklärt, er habe in „Les muets“ zeigen wollen, dass man sozialistischen Realismus verfertigen könne, ohne daran zu glauben.[10] Ironie und Pathos verschränken sich in bisher ungewohnter Weise. Das zweite Buch geht weiter.

„La chute“ hatte ursprünglich in „L’exil et le royaume“ veröffentlicht werden sollen, war aber wegen seines Umfangs aus der Sammlung ausgeschieden worden. Es ist ein formal wie inhaltlich erstaunliches Buch. Schon der Schauplatz, ein nebelverhangenes, ausgesprochen düsteres Amsterdam, steht in drastischem Kontrast zu der Atmosphäre des Mittelmeers, auf die Camus so oft vorschnell festgelegt wird. Die virtuos gehandhabte äußere Form ist denkbar weit von der Nüchternheit der Erzählhaltung der Prosawerke der vierziger Jahre, erst recht von den Lyrismen der frühen Versuche entfernt. „La chute“ besteht aus einer Reihe fortgesetzter Monologe, in denen der Sprecher die Reaktionen des Adressaten, der selbst nie zu Wort kommt, aufnimmt, Camus selbst sprach davon, es sei ein „dramatischer Monolog und impliziter Dialog“[11]. Die Form annonciert von Beginn an subjektive Brechung anstelle auktorial verbürgter Objektivität. Variierende Erzählformen werden nicht mehr wie in „L’exil et le royaume“ an unterschiedlichen Texten erprobt; die gleitende Vielfalt stilistischer Register begründet das Misstrauen in den Sprecher, der seine Rollen zwischen Causeur und (Selbst-)ankläger ineinander spiegelt.

Der Protagonist, der sich mit dem sprechenden Namen Jean-Baptiste Clamence vorstellt (und in dieser Rolle verbirgt), entwickelt seinem Gegenüber in fünf Dialogen, wie ihn eine Reihe verstörender persönlicher Erfahrungen dazu gebracht habe, seine glänzende Anwaltskarriere in Paris aufzugeben, um im Hafenviertel von Amsterdam das Leben eines „Buß-Richters“ zu führen. Alles, was er berichtet, steht unter dem Vorbehalt, auf Wirkung berechnet zu sein; die überlieferten Formen von Beichte und Anklage, die ineinander umschlagen, sind in ihrem Zusammenhang kalkuliert, ohne dass die Mechanik ins Leere liefe oder durch einen Eingriff des Autors am Ende sistiert würde. Trotz aller Konstruktion, die den Text prägt, sind Gesprächssituation, Dekor und Charakterisierung so differenziert, dass „La chute“ ein hohes Maß an realistischer Plausibilität bewahrt.

Camus hatte einige Zeit erwogen, in das Buch einen Beilagezettel („prière d’insérer“) einlegen zu lassen, der aus dem Vorwort von Michail Lermontovs „Ein Held unserer Zeit“ zitierte: „‚Ein Held unserer Zeit’ ist tatsächlich ein Porträt, aber es ist nicht das Porträt eines Mannes. Es ist die Versammlung aller Mängel unserer Generation auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung.“[12] Lermontovs Roman ist ein frühes Beispiel für den Desillusionsroman im 19. Jahrhunderts; Camus’ „récit“ ließe sich vielleicht als Fortsetzung dieser Tradition mit den ästhetischen Mitteln des 20. Jahrhunderts beschreiben. Jedenfalls wird eine Lektüre, die versucht, den Text allein als satirisch sublimierte Abrechnung mit dem Kreis seiner Kritiker um die „Temps Modernes“ zu lesen, „La chute“ nicht gerecht. Noch da, wo solche Referenzen nahezuliegen scheinen oder durch Aufzeichnungen in den „Carnets“ gestützt werden können, ist der in der Fiktion gegebene Überschuss frappant.

Für eine Lektüre abseits des in Deutschland lange tradierten reduktionistischen, Widersprüche in erbauliche Vereinfachungen auflösenden Zugangs zum genuin literarischen Teil der von Camus publizierten Texte bietet „La chute“ daher einen denkbar geeigneten Ansatzpunkt. Die Aura des scheinbar allbekannten Klassikers verliert sich – und mit ihr die Gefahr, das allmählich verblassende Abziehbild der Person als Repräsentant und Märtyrer, zwei Rollen, für die er sich nicht eignete, mit dem Werk in eins zu setzen. Dagegen steht ein Kritiker kaustischer Phantasie. Paul Valéry hat 1924 in „Situation de Baudelaire“ formuliert: „Classique est l’écrivain qui porte un critique en soi-même, et qui l’associe intimement à ses travaux.“[13] „La chute“ löst dies ein.

Die auf die Gesellschaft als sozialen Handlungsraum gewandte littérature engagée in aufklärerischer Tradition findet in Camus’ Œuvre ihr Gegenstück in einer weiter zurückreichenden Traditionslinie der französischen Literatur: der moralistischen Reflexion auf die condition humaine.[14] Nüchterner formuliert: Albert Camus’ Verhältnis zu einer littérature engagée, die glaubt, die Lösung sozialer und politischer Probleme einem vom Individuum abstrahierenden teleologischen Fortschrittsdenken anheimstellen zu können, bleibt in innerweltlicher Skepsis gegründet. Wenn dies auch vielleicht nur eingeschränkt eine auflärerische Position sein sollte, ist es allemal eine aufgeklärte.

[1] Olivier Todd, Albert Camus. Ein Leben, Reinbek bei Hamburg 1999, p. 660

[2] Uwe Timm, Der Freund und der Fremde, Köln ²2005, p. 8

[3] op. cit., p. 64f.

[4] op. cit., p. 64

[5] „l’admirable conjonction d’une personne, d’une action et d’une œuvre“ (Jean-Paul Sartre, Situations IV, Paris 1964, p. 111)

[6] Angelo Rinaldi, Un certain Camus, Albert. [Rezension von:] Albert Camus, soleil et ombre, par Roger Grenier. Gallimard, in: L’Express, 13. März 1987, p.56

[7] „ vous avez fait votre Thermidor“ (Jean-Paul Sartre, Réponse à Albert Camus, Les Temps Modernes, no 82, août 1952 ; zitiert nach idem, Situations, IV, Paris 1964, p. 90-125, hier p. 91.

[8] „Votre morale s’est d’abord changé en moralisme, aujourd’hui elle n’est plus que littérature, demain elle sera peut-être immoralité“ (op. cit., p. 125)

[9] Albert Camus, Œuvres complètes, IV, 1957-1959, Paris 2008, p. 387-394

[10] „J’ai voulu montrer que l’on pouvait faire du réalisme socialiste […] tout en n’y croyant pas.“ (Albert Camus, Œuvres complètes, IV, 1957-1959, Paris 2008, p. 1348)

[11] „J’y ai utilisé une technique de théâtre (le monologue dramatique et le dialogue implicite) […]“ Interview für die  „Venture Review“, Frühling-Sommer 1960, nach: Albert Camus, Œuvres complètes, IV, 1957-1959, Paris 2008, p. 663

[12]  „Un héros de notre temps est effectivement un portrait, mais ce n’est pas celui d’un homme. C’est l’assemblage des défauts de notre génération dans toute la plénitude de leur développement. “, nach: Albert Camus, Œuvres complètes. III, 1949-1956, Paris 2008, p. 1366f.

[13] Paul Valéry, Œuvres, I, Paris 1957, p. 604

[14] Auf diese Traditionslinie  bezieht sich Jean-Paul Sartre in seinem Nachruf, der im „France-Observateur“ vom 7. Januar 1960, noch am Abend des Todestages von Camus, erschienen ist: „Il représentait en ce siècle, et contre l’Histoire, l’héritier actuel de cette longue lignée de moralistes dont les œuvres constituent peut-être ce qu’il y a de plus original dans les lettres françaises.“ (erneut in: Jean-Paul Sartre, Situations, IV, Paris 1964, p. 127)

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz