Von Orten, unheimlich und episch

Giuseppe Ungarettis „Süditalienische Reise“ von Salerno bis Neapel

Von Francesca GollRSS-Newsfeed neuer Artikel von Francesca Goll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er gilt als einer der größten italienischen Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts und er entpuppt sich in diesem Büchlein mit dem Titel „Süditalienische Reise“ auch als großartiger Prosaist: Giuseppe Ungaretti. Eine lyrische Kunstprosa, die seine Reise von Salerno nach Neapel über Paestum, Agropoli, Elea, Punta Licosa, Palinuro, Pompei und Herculaneum nachzeichnet. Die geographischen Angaben überschneiden sich mit historischen Daten, mythischen Sagen und Figuren, sodass Byzantiner, Longobarden, Cicero, Xenophanes, Parmenides, Archimedes und viele mehr durch Ungarettis Reiseprosa plötzlich wieder belebt werden, als wären sie in jenen Frühlingstagen des Jahres 1932 tatsächlich dabei gewesen. Er war an Orten, die von Vergil besucht wurden, nimmt der Erzähler vorweg, und schildert dabei die Schwierigkeit „sich nicht seinen [Vergils] Augen anzuvertrauen“ – eine Schwierigkeit, die dem Leser doch einige Freude bereitet. Die Streifzüge durch die süditalienische Landschaft, geprägt von Buchten und Burgen, Olivenbäumen und dem satten Türkis des Meeres, werden von Anspielungen und Zitaten aus Vergils „Aeneis“ begleitet, wodurch sich die tatsächliche Reiseerfahrung des Autors Ungaretti nur schwer von den lyrischen Beobachtungen des Dichters Vergil trennen lassen. In seinen Anmerkungen zur Übersetzung schreibt Stefan Ruess, dass ihm manche Zeilen „halsbrecherisch vorkamen, wie verfasst unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Drogen“. Tatsächlich schwebt die Erzählung in einem heiklen Balanceakt zwischen Traum, Beschreibungen, Erinnerungen und Zitaten, der eine fast mystische Atmosphäre erzeugt, in der sich der Leser wie traumwandelnd durch die Landschaft und ihre Geschichte(n) führen lässt. Ansatzweise führt diese Überschneidung dazu, dass der Leser, dem lyrischen Ton folgend, den eigentlichen Faden des Reiseberichts verliert. Darin liegt die Ambivalenz von Ungarettis Kunstprosa: Man lauscht den kunstvollen Worten und Ideen des Sprachmeisters Ungaretti mit solchem Genuss, dass die eigentlichen Anekdoten an einigen Stellen in der Hintergrund treten. Und doch sind die einzelnen Kapitel so kurz, dass der Anschluss immer wieder hergestellt und der Leser zurückgeführt wird in die eigentliche Handlung des Reiseberichts. Dennoch wäre es ein Fehler zu denken, die Handlung des Textes verschwinde neben Ungarettis Prosa – ganz und gar nicht! Nur werden die Episoden bisweilen von der wundersamen Sprache überschattet. Von den literarischen und kunsthistorischen Anspielungen abgesehen, skizzieren die acht Kapitel dieses Buches verschieden Aspekte des süditalienischen Lebens, von der „Herzlichkeit des hiesigen Menschenschlages“ über die Stimmung im berühmt-berüchtigten neapolitanischen Stadtviertel Forcella bis zum engen Verhältnis zwischen körperlicher Liebe und Tod. Die dialektische Wechselwirkung von Zerstörung und Fruchtbarkeit beobachtet der Erzähler in Pompeijs Wandmalereien und in Zusammenhang mit den gruseligen Namen der Gebäude in Herculaneum: „Haus des Skeletts“ oder „Haus der verkohlten Zwischenwand“ stehen für die blinde Gewalt des Vulkans, die Zerstörung gebracht und gleichzeitig üppigen, nährstoffreichen Boden hinterlassen hat. Diese Spannung zwischen Gegensätzen charakterisiert Ungarettis Reiseprosa, in der der Erzähler mit Nuancen spielt, sie durcheinanderwirbelt und somit immer wieder die sogenannte ‚Normalität‘ in Frage stellt. Der Herr, den der Erzähler im Garten der Klarissen von Santa Chiara in Neapel trifft, schwebt in einem Zustand zwischen Wahnsinn und Weisheit, wobei die Grenzen zwischen den beiden verschwimmen, und somit ein stimmungsvolles und anregendes Gefühl der Verwirrung entsteht. Ungarettis Buch ist inspirierend, unheimlich und episch, wie die Region, die es beschreibt. Es hinterlässt ein Fernweh nach fruchtbarem Chaos und Poesie, oder kurz gesagt: Sehnsucht nach dem Süden.

Titelbild

Giuseppe Ungaretti: Süditalienische Reise. Reiseprosa.
Übersetzt aus dem Italienischen von Stefan Ruess.
edition taberna kritika, Bern 2013.
88 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783905846232

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