Klassikerexegese einmal anders

Niklas Luhmanns Systemtheorie zum Handbuch verdichtet

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Aufsatz „Wie ist soziale Ordnung möglich?“, der im Jahre 1981 erschienen ist, hat der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) den in seiner Disziplin gepflegten Umgang mit den „Klassikern“ ironisiert. Dieser sei gekennzeichnet durch erstens die „Sicherung und Edition eines authentischen schriftlichen Corpus“, zweitens die „Zurechnung all dessen, was in diesem Corpus geschrieben ist, auf den Klassiker selbst, also Personifizierung der Theorie unter Außerachtlassen der überwiegend […] reformulierenden Tätigkeit eines jeden Autors“, drittens die „[…] interpretatorische Steigerung der Konsistenz des Werkes unter Eliminierung kognitiver Dissonanzen, notfalls durch Bildung verschiedener interpretatorischer Schulen“, viertens die „Kritik und Interpretation von Interpretationen (Tertiärliteratur)“, fünftens die „Rekontextierung des Klassikers und Wiederentdeckung der Herkunft seiner Gedanken“ und sechstens schließlich „mehr oder weniger desparate Bemühungen um Entdeckung seiner eigentlichen Gestalt“. Daraus entstehe, so Luhmann, ein „so stark mumifizierter Komplex, daß man den Klassiker nur noch im Kontext einer eigenen, neuen Theorie wieder in Bewegung bringen kann“.

Mittlerweile ist Luhmann selbst zu einem Klassiker der Soziologie avanciert, dessen Exegese immer in der Gefahr steht, jene Vorgehensweise zu reproduzieren, die er in diesen sechs Punkten so meisterhaft karikiert hat. In nicht gerade wenigen Einführungen in die Geschichte der Soziologie, in soziologischen Lehrwerken und Aufsatzsammlungen wird Luhmann genau diese Art von Behandlung zuteil: er wird kanonisiert, als Person verdammt, vereinfacht, kritisiert, einseitig historisiert und inhaltlich zugerichtet. Nur innerhalb des überschaubaren Kreises der Luhmann-Sympathisanten sowohl inner- wie außerhalb der Soziologie vollziehen sich die Bemühungen um die Aneignung systemtheoretischen Gedankenguts in der Regel recht umsichtig. Ein beredtes Beispiel dafür ist das vorliegende Luhmann-Handbuch, das ein an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität beheimatetes Team um den Soziologen Armin Nassehi, einen Schüler Luhmanns, und den Germanisten Oliver Jahraus herausgegeben hat. Es umfasst 90 Artikel von 64 ausgewiesenen Autorinnen und Autoren aus allen nur erdenklichen Disziplinen, eine (verzichtbare) Zeittafel, eine Gesamtbibliografie Luhmanns, eine nach Sprachen angeordnete Auswahl seiner übersetzten Monografien, eine knappe Auflistung der wichtigsten Sekundärliteratur und, last but not least, ein Personenverzeichnis.

Das Handbuch ist in acht Abschnitte gegliedert. In Abschnitt I „Zur Biographie“ zeichnen Dirk Baecker, Peter Fuchs und Johannes F. K. Schmidt Luhmanns Werdegang, seine Arbeitsweise und die Genese seines berühmten „Zettelkastens“ nach. Abschnitt II „Grundlagen“ behandelt Luhmanns wichtigste Bezugspersonen und -theorien, die man auch als (System-)Theoriegeneratoren bezeichnen könnte: Edmund Husserl, Talcott Parsons, die amerikanische Organisationssoziologie, die Kybernetik und die Allgemeine Systemtheorie sowie den Logiker George Spencer-Brown. In Abschnitt III „Theoriestränge“ werden die Säulen seines systemtheoretischen Gebäudes vorgestellt: Differenzierungstheorie (Irmhild Saake), Evolutionstheorie (Armin Nassehi), Kommunikationstheorie (Dirk Baecker), Medientheorie (Julian Müller) und Gesellschaftstheorie (Armin Nassehi). In Abschnitt IV geht es um Entstehungsgeschichte und funktionalen Stellenwert von 30 Grundbegriffen Luhmanns. Die Liste beginnt mit „Autopoiesis“ (Iryna Klymenko), reicht über „doppelte Kontingenz“ (Sven Opitz), „Inklusion/Exklusion“ (Sina Farzin), „Operation/Beobachtung“ (Mario Grizelj), „Sinn“ (Christian Kirchmeier), „strukturelle Kopplung“ (Oliver Jahraus) bis hin zu „Zeit“ (Armin Nassehi). Dabei bleiben jedoch einige Begriffe Luhmanns, so die von Fritz Heider inspirierte Unterscheidung „Medium/Form“, „Reflexion“, „Reflexionstheorie“, „symbiotische Mechanismen“, „Wahrnehmung“ und „Weltgesellschaft“ vergleichsweise unterbelichtet, weil für sie kein eigenes Stichwort reserviert ist. Zwar widmet Mitherausgeber Nassehi der „funktionalen Analyse“ einen überaus lesenswerten Artikel; eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Funktion“, der bei Luhmann trotz theorietechnisch überragender Bedeutung merkwürdig unterbestimmt geblieben ist (man lese nur das einschlägige erste Kapitel in „Soziale Systeme“ von 1984, das zwar „System und Funktion“ übertitelt ist, sich allerdings im Wesentlichen um die selbstreferentielle Reproduktion von Systemstrukturen in der Zeitdimension dreht). Vielleicht markiert gerade dieser Begriff das wissenschaftstheoretisch Unbewusste in Luhmanns Systemtheorie, die gemeinhin dem Funktionalismus zugerechnet wird.

Abschnitt V über „Werke und Werkgruppen“ ist der umfangreichste des Handbuchs und nimmt Luhmanns zentrale Monografien in den Blick, beginnend mit „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ von 1964 (André Kieserling). Die Autoren verfahren entweder analytisch-rekonstruktiv, das heißt, sie zeichnen die Hauptargumente der betreffenden Monografie und den Stand der damaligen Theoriediskussion nach, oder selektiv-aktualisierend, das heißt, sie lesen Luhmanns Ausführungen zu einzelnen Themen primär auf dem Hintergrund spezifischer theoretischer Eigeninteressen oder neuer gesellschaftlicher Entwicklungen. Kieserlings herausragender Beitrag zu Luhmanns „Zweckbegriff und Systemrationalität“ von 1968 ist ein Beispiel für die erstere Lesart. Er gewinnt dieser Monografie eine neue Facette von Luhmanns Theorietechnik ab, die, so Kieserling, „bis heute nicht einmal ansatzweise rezipiert wurde“, nämlich eine bewusste Kombination der Systemtheorie mit damals gängigen, aber komplementär angelegten Handlungs- und Entscheidungstheorien und deren parallele Anwendung auf organisierte Sozialsysteme. Reiner Grundmanns nicht minder interessanter Artikel über Luhmanns „Ökologische Kommunikation“ von 1986 hingegen liest das Buch in erster Linie auf dem Hintergrund der aktuellen Debatte um den Klimawandel und betont den Aspekt der „Umweltethik“, die vorschnelle Moralisierungen vermeiden helfen solle. Etwa in der Mitte zwischen beiden Lesarten bewegen sich Artikel wie Urs Stähelis Auseinandersetzung mit Luhmanns „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ (1980-1995), in der er einige exemplarische Aufsätze dieser vierbändigen Sammlung analysiert und zu einer konzisen Kritik am darin vertretenen Konzept der „gepflegten Semantik“ verdichtet.

Leider fehlen in diesem Abschnitt Analysen wichtiger verwaltungssoziologischer Arbeiten Luhmanns, etwa von „Grundrechte als Institution“ (1965), „Theorie der Verwaltungswissenschaft (1966) und die Aufsatzsammlung „Politische Planung“ (1971). Auch Luhmanns rechtssoziologische Arbeiten, so die „Rechtssoziologie“ (1971, 2., erweiterte Auflage 1983), „Rechtssystem und Rechtsdogmatik“ (1974) sowie „Ausdifferenzierung des Rechts“ (1981) werden hier nicht gewürdigt, sondern finden erst später im Zusammenhang mit der Rezeption Luhmanns in der Rechtswissenschaft Erwähnung. Am schmerzlichsten vermisst man jedoch Luhmanns Monografien „Macht“ (1975) und „Funktion der Religion“ (1977), die für seine Konzeption der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien von entscheidender Bedeutung waren und in der Entwicklung der Systemtheorie daher eine Scharnierstelle einnehmen, die mit dem Übergang von der Handlungs- zur Kommunikationstheorie nur unzureichend beschrieben ist. Sicherlich mussten die Herausgeber angesichts von Luhmanns immenser Produktivität eine Auswahl treffen. Vielleicht wäre eine durchgängige Zusammenfassung von Luhmanns monografischen Werken nach Gruppen, wie sie bei den Studien über die Funktionssysteme unter dem Titel „Theorie der Gesellschaft“ erfolgt ist, zielführender gewesen. Dann hätten auch die in den letzten Jahren posthum publizierten Vorlesungen, Monografien und Aufsatzsammlungen wie „Einführung in die Theorie der Gesellschaft“ (2005), „Ideenevolution“ (2008), „Liebe. Eine Übung“ (2008) und die wichtige „Politische Soziologie“ (2011) ihren Platz finden können.

In Abschnitt VI „Verbindungen, Bezüge und Differenzen“ werden sowohl Autoren und Theorieschulen genannt, die für die Ausarbeitung der Systemtheorie zentral waren, als auch solche, die Luhmann, obwohl sie größtenteils Zeitgenossen waren, kaum zitierte, geschweige denn überhaupt zur Kenntnis nahm. Zu ersteren zählen etwa George Herbert Mead, Ernst Cassirer und Gotthard Günther, zu letzteren Gabriel Tarde, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Harrison C. White, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Bemerkenswerterweise fehlen Max Weber, Émile Durkheim und Georg Simmel, die für Luhmanns Organisations- beziehungsweise Religionssoziologie zentralen Bezugsquellen, sowie der in Deutschland immer noch recht unbekannte französische Soziologe Edgar Morin, den Luhmann sehr früh und in unterschiedlichsten Zusammenhängen rezipiert hat. Dieser Abschnitt beinhaltet auch vier wichtige Artikel zu „Semiotik“ (Frank Habermann), „Wissenssoziologie“ (Christian Kirchmeier), der „Leipziger Schule“ um Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky und zu „Konstruktivismus“ (Bernd Scheffer), die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Luhmann und den Vertretern dieser Theorierichtungen präzise herausarbeiten.

In Abschnitt VII „Rezeption“ finden sich, mit Ausnahme der Sportwissenschaft, der Sozialen Arbeit und der Sozialen Bewegungsforschung, nahezu alle wissenschaftlichen Disziplinen, in denen Luhmanns Systemtheorie mehr oder weniger signifikante Spuren hinterlassen hat. Dabei weist Mitherausgeber Mario Grizelj selbst für die Kulturwissenschaft, die sich bis heute durch eine beharrliche Rezeptionsverweigerung auszeichnet, eine stillschweigende Aneignung systemtheoretischen Gedankengutes nach. Man wird der offenkundigen Präferenz des Autors, die beiden Ansätze miteinander zu verbinden, nicht unbedingt folgen müssen, um seinen Beitrag mit einigem Gewinn zu lesen.

Besonders interessant ist schließlich der letzte Abschnitt „Diskussionen“, in dem sich die Autoren mit den stets wiederkehrenden Kritikpunkten an Luhmanns Systemtheorie auseinandersetzen. Dazu zählen deren „antihumanistische“ Ausgrenzung des Menschen aus der Gesellschaft, der Vorwurf der Abstraktion und Empirieferne systemtheoretischen Denkens, dessen angeblich affirmative Haltung, dessen expliziter Anspruch, alles Soziale erfassen zu können („Supertheorie“) sowie das Insistieren auf dem Vorrang der Theoriearbeit vor empirischer Sozialforschung („grand theory“), wie es Luhmann von Parsons übernahm. Vielleicht hätten an dieser Stelle auch die Weiterentwicklungen der Systemtheorie, die im Handbuch nur selten thematisiert werden, Berücksichtigung finden können. Immerhin sind mit Dirk Baeckers Formtheorie des Sozialen, Armin Nassehis operativer „Gesellschaft der Gegenwarten“ und Rudolf Stichwehs „Weltgesellschaft“, der auf innovative Art und Weise die Kategorie „Raum“ als vierte Sinnebene neben der Zeit-, Sach- und Sozialdimension einführt, drei Theoriestränge vorhanden, die Luhmanns systemtheoretisches Erbe in kritischer Auseinandersetzung weiterzutreiben versuchen. Zwar blitzen diese Ansätze im vorliegenden Handbuch immer wieder auf; ein synthetisierender Artikel wäre jedoch wünschenswert gewesen, um zu demonstrieren, wie produktiv sich die Systemtheorie den Herausforderungen der „nächsten Gesellschaft“ (Dirk Baecker) und dem damit verbundenen Übergang von der Buchdruck- zur Computerkultur stellt, der sich in den letzten beiden Dekaden vollzogen hat.

Dennoch bleibt das Luhmann-Handbuch eine imponierende Leistung nicht nur soziologischer, sondern auch interdisziplinärer Gelehrsamkeit. Luhmanns Lust an der Theorie, oder besser: seine Theorielust, findet in nahezu allen Artikeln eine kongeniale Entsprechung. Alle Autoren haben Lust auf Luhmanns Systemtheorie, auf deren Möglichkeiten wie Leerstellen und auf deren Paradoxien wie ihre Entfaltung, und verfallen an keiner Stelle in die von Luhmann eingangs ironisierte Art der Klassikerexegese. Die Systemtheorie scheint noch kein „mumifizierter Komplex“ zu sein, den man mittels neuer Theorien erst reanimieren muss. In diesem Handbuch kommt sie so frisch und unbekümmert daher wie eh und je.

Titelbild

Oliver Jahraus / Armin Nassehi / Mario Grizelj / Irmhild Saake / Christian Kirchmeier / Julian Müller (Hg.): Luhmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2012.
471 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783476023681

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