Wo Spiel und Leben eins sind

Dagmar Leupold zeigt in „Unter der Hand“ das Wesen der Literatur

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schleichend hat es über Jahrhunderte unsere Sprache erobert: Das Spiel ist das Bild fürs menschliche Dasein auf Erden. Wir geraten im Alltag in „Zeitnot“ und „Zugwang“ wie die Gegner im Schach. Treffen wir selbst oder das Leben für uns eine Entscheidung, sind die „Würfel gefallen“. Und ziehen wir die inoffiziellen Gesprächswege den offiziellen vor, handeln wir „unter der Hand“ – wie jene Kartenspieler, die unbemerkt ihr Blatt tauschten, um zu gewinnen.

Unter der Hand pflegt mancher von uns ein weiteres Leben neben dem offiziell privaten, alles akzeptiert, kein Grund mehr zur Empörung. Unter der Hand kann aber ebenso ein ganzes Leben ablaufen, so wie Minnas, die es mit Anfang 50 bisweilen zur Nebenfrau geschafft hat, Nachhilfe in Deutsch gibt – Nebenlehrerin also – sowie nebenbei und verborgen vor dem Finanzamt die Wohnungen im Ausland weilender Erfolgsmenschen hütet. Wird es finanziell bedrohlich für die selbsterklärte „Schwarzarbeiterin“ Minna, korrigiert sie die Druckfahnen des Duden und erliest sich dabei die kostbaren Wendungen, mit denen sie ihre Erfahrungen buchstäblich in Worte kleidet.

In einem Leben, das offiziell kaum der Rede wert ist, nimmt die Fantasie den unbesetzten Raum ein. Die alte Lotte möchte den Beruf jener Frau erfahren, die sich seit der Begegnung an der Bushaltestelle plötzlich ihrer annimmt: „Und dann fällt mir ein, was ich mache, jedenfalls mache, wenn Lotte mich danach fragt, was zwar nicht wirklich, aber wahr ist, und so antworte ich ohne weiteres Zögern: Pferdewirt.“ Wahr ist diese Erfindung – nicht Minnas einzige –, weil sie möglich ist. Das Kind, das sie ungeboren verloren hat, ist Möglichkeit geblieben, doch genauso Erinnerung wie die harsche Erziehung durch die protestantische Mutter oder Tänze und Küsse zu Cat-Stevens-Songs während des Studiums. Eine Zeit, die Minna – nebenbei bemerkt – ohne offiziellen Abschluss hinter sich gelassen hat. Wo die Möglichkeit gleichberechtigter Partner der Wirklichkeit ist, wird die Welt voller an Eindrücken und Reizen. Mit dem Verstand und der Sensibilität der „Dünnhäutigen“ begabt – und gestraft – verarbeitet Minna diese Fülle.

Vollkommen ist Dagmar Leupolds Erzählerin in ihrer Uneignung für das offizielle Geschehen, in ihren Hemmungen, innerlich und körperlich brüchig. Jedes Detail ist doppeldeutig: Die Viel-Nerven-Krankheit – Polyneuropathie im Fachjargon – hat Minna befallen, und eine krumme Wirbelsäule – Skoliose – trägt sie durch eine Existenz in einem ständigen Daneben. Doch wer neben der Geschäftigkeit der Welt dahin lebt, steht noch lange nicht im Schatten. Hell sind Minnas Beobachtungen und Ansichten. Im „bräsigen“ München, so weiß Minna, zählt das Portfolio, dort haben Misserfolgsmenschen wie sie kein Ein-, sondern ein Auskommen. In Lottes Ostpreußen-Hymnen macht sie einen Heimat-Begriff falscher Voraussetzungen aus, der „eher Verlusten entspringt als einem scheinbar bedrohten Leben am ersehnten Ort.“ Und über ihre Tisch-und-Bett-Beziehung zum Physiotherapeuten Franz gibt sie sich keiner Illusion hin: Zwei Menschen im mittleren Alter versichern sich einander körperlich, jede ihrer Begegnungen ist eine Verbindung im Moment, ohne die Möglichkeit einer Zukunft. Es gilt, die Gegenwart zu beruhigen.

Selbstzweifel sind der Preis dieser Feinfühligkeit. Sie haben das „Frühchen“ Minna bis zum Versuch eines frühen Ablebens getrieben. Jener nur angedeutete Selbstmordversuch hat ihre Erzählung überhaupt erst in Gang gebracht. In einer italienischen Pension, wo sie neue Lebenskraft sucht, erhält Minna einen wundersamen Auftrag. Der Geschäftsmann Vico, in gleichem Maße selbstbewusst und schleierhaft, überlässt ihr einen Umschlag mit Bargeld und verlangt Lebenskunst von ihr. Sie könne das; er glaube an sie. Ihre Bemühungen soll Minna für ihn aufzeichnen.

Zurück in München geht Minnas Leben äußerlich den Gang, den es vielleicht auch ohne Vicos Auftrag genommen hätte, kein Spektakel, keine dramatischen Aktionen – 180-Grad-Wenden sind nicht die Sache zaghafter Naturen. Dennoch liegt plötzlich über allem, was ihr widerfährt, ein versöhnlicher Ton. Schreibend, so erkennt Minna, wacht sie auf und tut sich selbst etwas Gutes. Auf dem Papier stellt sich Sinn ein und allmählich auch im Leben. Lottes Starrsinn erinnert zwar an das Mutter-Trauma, ruft Minna aber zur Verantwortung. Für ihren Nachhilfeschüler Parwiz wird sie zur Vertrauensperson, und ebenso beiläufig stellt sich der „reinste aller Zufälle“ ein: Minna verliebt sich in den Mann vom Nebentisch, ihren Nachhilfekollegen Heinrich. Unaufhaltsam nimmt Minnas Schicksal seinen Lauf.

Diese Darstellung eines beiläufigen Lebens enthält kein beiläufiges Wort – alles zählt und ist doch leicht und heiter. Leupolds sprachverliebte Erzählerin macht Unterschiede aus, wo dickhäutigere Zeitgenossen dasselbe sehen; sie schöpft die Sprache in aller Tiefe aus: „Meine Tage sind längst keine Werktage mehr, ich bewirke nichts, ich arbeite nur.“ Liegt Minna richtig, trifft das bildlich und wörtlich zu. Doppelt, gar vielfach bedeutsam wird „Unter der Hand“ auch durch Verweise auf literarische und kulturelle Traditionen. Voran steht dem Text ein Zitat aus Laurence Sternes „Tristram Shandy“, einem der frühen selbstreflexiven Romane. Vicos Abmachung mit Minna hat ihren Ursprung im Mäzenatentum der römischen Antike.

Nicht zuletzt aber steht die Einzelgängerin Minna nicht isoliert in der literarischen Gegenwart. Sie erinnert an Uwe Timms Erzähler in „Rot“, einen kleinen Zeitsprung später geboren. Timms Thomas Linde nahm an der Revolution teil, Minna und ihre Altersgenossen hingegen konnten „die feuchten, noch warmen Laken und Kissen der 68er weiter beschlafen, ohne die Betten bauen zu müssen.“ Beide beschauen ihre Generation mit scharfen Sinnen aus zurückgezogener Warte. Linde trifft sich mit einer verheirateten jüngeren Frau in Hotelzimmern und verdient sein Geld als Beerdigungsredner. „Rot“ setzt ein mit Lindes Sterben auf offener Straße. Bei Dagmar Leupold indessen gelingt das Glück im Ersatz. Oder nur scheinbar?

Einen doppelten Boden haben nicht nur die Sätze im Einzelnen, sondern der Roman als Ganzes. Beim Aufzeichnen literarisiert Minna ihr Leben und ist schließlich selbst Literatur. „Da Capo“ – noch einmal von vorne – lautet das Kommando des letzten Abschnitts. Das Ende entlarvt Minna als Erfindung eines anderen Ich, inspiriert aus Namen und Gegenständen des Alltags. Ein Trost bleibt: Es gibt sie alle jenseits des Papiers. „Da Capo“ verweist einen an den Anfang. Um den Spuren dieser Erfindung nachzugehen? Um die „Zungenfertigkeit der Sprache“ noch einmal zu genießen, wie Minna es nennt? Um zu würdigen, was Leupold kunstvoll geschaffen hat? Viele Wege sind möglich. Wer „Unter der Hand“ liest, wird unweigerlich – auch ohne Anweisung – nach der letzten die erste Seite aufschlagen. Vielleicht nicht nur einmal.

„Unter der Hand“ zeigt ein Gelingen im Nicht-Gelingen. Es handelt von der Literatur und ihrer Gabe, Sinn zu stiften. Vor allem für jene, die sie, die Literatur, schaffen. Leupolds Roman ist, worauf sein Titel verweist: ein Spiel, in dem Tricks erlaubt sind. Und da Spiel und Leben letztlich eins sind – die Sprache zeigt es uns ja: so echt und wahrhaft wie das Leben, das uns lesend umgibt.

Titelbild

Dagmar Leupold: Unter der Hand. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2013.
296 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270448

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