Wer spielt, gewinnt

„Schiller, der Spieler“ bekommt in einem von Peter-André Alt, Ulrich Raulff und Marcel Lepper herausgegebenen Sammelband die Aufmerksamkeit, die er verdient

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine „interdisziplinäre Auseinandersetzung“ verspricht Peter-André Alt in der Einleitung zu „Schiller, der Spieler“. Denn der „Begriff des Spiels ist von entscheidender Bedeutung für Schillers Œuvre“ und „führt ins Zentrum von Schillers Denken“, besitzt mithin also Relevanz für „seine Bühnenkunst“, „seine Rhetorik“, „seine lyrische Produktion, seine erzählerischen Texte, seine historischen und ästhetischen Schriften“. Überdies führt er in die „europäische Wirkungsgeschichte“ und von dort zu „Oper und Tanz“. All dem möchte der nun vorliegende, auf eine Tagung im November 2009 zurückgehende Sammelband nachgehen. Hohe Ansprüche, die schon auf der ersten Seite formuliert und gleich noch durch einen Überblick über die wichtigsten Publikationen der Schiller-Forschung seit dem Jubiläumsjahr 2005 bekräftigt werden. Über deren tendenziell bilanzierendes Niveau gelte es hinauszukommen. Die Frage ist also: Hält der Band, was Alt verspricht?

Ein Blick ins Autorenverzeichnis lässt zunächst Zweifel aufkommen: Von den sechzehn Beiträgern und Beiträgerinnen stammt lediglich der Historiker Lucian Hölscher nicht aus der Literaturwissenschaft. Sonderlich interdisziplinär erscheint das nicht, andererseits sagt die akademische Heimat allein noch nicht allzu viel aus.

Auch das Inhaltsverzeichnis wirkt zunächst einseitig: Die ersten beiden der insgesamt drei Abteilungen beinhalten Arbeiten zu „Schillers spielenden Figuren“ und zu „Schillers theatralischen Spielen“. Vielseitiger ist da die letzte Sektion, deren Gegenstand „Anthropologische, psychologische und ästhetische Implikationen von Schillers Spielbegriff und -praxis“ bilden. Mit sieben Beiträgen ist dieser Abschnitt zugleich der umfangreichste.

Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass der Fokus auf der literaturwissenschaftlichen Betrachtung liegt. Und hier leisten die Beiträge vorzügliche Arbeit. Daniel Fulda etwa gelingt es in seinem Aufsatz „Komödiant vs. Kartenspieler?“, die zentrale Bedeutung der Diskrepanz des ästhetisch-anthropologischen und des tragischen Spielbegriffs für Schillers Denken und Schaffen offenzulegen. Während das ästhetische Spiel den ganzen Menschen bildet, führt das strategische Spiel die Handelnden des Dramas in die Katastrophe. Eine Verbindung beider Begriffe scheint somit ausgeschlossen, bestenfalls lässt sich eine Seite zugunsten der anderen aufgeben. Hier setzt Fulda an, indem er einerseits darlegt, dass gerade dort, wo beide Spielarten vermischt werden, die Figuren die Kontrolle verlieren (er zeigt dies am Beispiel Wallensteins), andererseits aber auch die Möglichkeit einer „Einschachtelung“ der strategischen Spiele im Rahmen des ästhetischen Spiels auf der Bühne erörtert. Eine Diskrepanz, ja, aber eine produktive, aus der sich Schillers dramatische Konstruktionen erklären lassen.

Zu den interessantesten Beiträgen gehört Juliane Vogels „Aus dem Takt“. Sie nimmt sich der „Auftrittsstrukturen in Schillers Don Carlos“ an und zeigt, wie die barock-klassizistische liaison des scènes, der strenge, durch Auftritte geregelte Zusammenhang aller Szenen, von Schiller gesprengt wird. Als wirksamstes Mittel erweist sich hier das Erscheinen einer Figur am Ende eines Auftritts, das sich besonders bei Philipp II. beobachten lässt, der immer an den Punkten erscheint, wo normalerweise jemand abgeht. In dieser aufgelösten Ordnung der Auftritte des Königs (die sich zudem durch eine gewisse Unsichtbarkeit auszeichnen) spiegelt sich dessen vereinsamte, ihm aus der Hand geglittene Situation wider – bis zum Ende, wo sich ein plötzlicher Wandel vollzieht, der mit dem Großinquisitor eine neue Qualität ins Spiel bringt, die dazu beiträgt, dass Philipp die Macht nicht endgültig verliert, sondern sogar zurückerlangt: Die Unsichtbarkeit des königlichen Erscheinens in der Schlussszene ist das Mittel, mit dem die Inquisition die weltliche Herrschaft zu retten vermag. Gleichzeitig lässt sich Schillers Neustrukturierung als Kritik der höfischen Struktur und Kultur lesen: „Die Analogie, die das Theater mit dem Hof verknüpfte, besitzt nun keine Grundlage mehr, so wie auch das dramaturgische Regime des Hofes seine Autorität über die Bewegungsabläufe einbüßt.“

An Vogels Aufsatz zeigt sich überdies ein begrüßenswerter Trend des Sammelbands: Verstärkt werden die barock-höfischen Hintergründe von Schillers Schaffen wahrgenommen. Und zwar nicht nur im gewohnten Gestus der Konzentration auf die Neuerungen, sondern auch hinsichtlich bestimmter Anknüpfungspunkte und Traditionsfortschreibungen. Fulda, Alt und Daniel Müller Nielaba zum Beispiel gehen auf ältere Vorlagen oder ideengeschichtliche Vorläufer ein, die Schiller durchaus produktiv rezipiert oder (unbewusst) nachgeahmt hat. Zu wünschen ist, dass in dieser Richtung zukünftig noch mehr unternommen wird.

Nielabas Beitrag, der sich der „Bürgschaft“ widmet, ist der einzige zum lyrischen Werk. Ausgehend von Schillers Kommentar, er habe das Doppel „Die Bürgschaft“/„Der Kampf mit dem Drachen“ „mit ganzer Besonnenheit“ geschrieben, legt der Verfasser hier mit bemerkenswerter Gründlichkeit und auf überzeugende Art und Weise eine auf den ersten Blick völlig abwegige Vorlage für die Ballade frei: Die Passion Christi, die sich gleichermaßen auf der Ebene der Handlung wie der der Sprache erkennen lässt, wenn man nur genau genug hinschaut.

So viel als Einblick in die genuin literaturwissenschaftliche Seite; nun zu den versprochenen interdisziplinären Ansätzen.

Alexander Košenina präsentiert in seinem Beitrag drei Kupferstiche, die August Wilhelm Iffland als Franz Moor zeigen und beschreibt anhand dieser Abbildungen unter der Überschrift „Iffland spielt mit Schiller“, wie der Mime aus seiner Paraderolle eine neue Bühnenästhetik entwickelt und – das ist entscheidend – sie anhand eigener Darlegungen zu den Stichen zu vermitteln sucht. Zu Recht verweist Košenina auf die enorme Bedeutung grafischer Aufführungsdarstellungen für die Forschung, die nicht nur die Theaterpraxis erhellen, sondern auch deren Auswirkungen auf die Texte der Bühnenautoren verstehbar machen können.

Einem zunächst kurios wirkenden Thema nimmt sich Thomas Schmidt an: Er diskutiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Spieltheorie bei Schiller und dem Turner und Pädagogen Johann Christoph Friedrich Gutsmuths. Damit liefert er nicht nur einen Einblick in die unterschiedlichen Ansätze, die um 1800 an die Konzeption des Spiels herangetragen wurden, sondern erklärt zugleich auch, wie man in der Mitte des 20. Jahrhunderts Schillers Bedeutung für den Sport postulieren konnte (so etwa in zwei Zeitungsartikeln zum Jubiläumsjahr 1959), obwohl der Dichter bekanntlich wenig Sinn für körperliche Ertüchtigung besaß.

Um der Gefahr der bloßen Reihung zu entgehen, muss die eingehendere Beschreibung hier abbrechen – das bedeutet aber auch ein Lob für den Band, der eine wahre Fülle ausgezeichneter Arbeiten bietet, die Grundlage weiterer Forschung sein können. Themen wie das „Metatheater“ in den „Räubern“ (Steffen Martus) oder der „Chiasmus in Schillers ästhetischen Schriften“ (Alice Stašková) schließen Lücken in der (literaturwissenschaftlichen) Forschung und bereiten neue Arbeiten vor; Beiträge wie der bereits erwähnte zu Gutsmuths, aber auch Liliane Weissbergs Auseinandersetzung mit „Kindheit und Spiel“, die einen Einblick in die Rolle des Spiels in der Psychoanalyse bietet und diese auf Schiller rückbezieht, tragen zu einem umfassenderen Gesamtbild bei, das ebenfalls dazu angetan ist, Schillers Einflüssen und Auswirkungen in viele Richtungen nachzugehen.

Mit dieser hochwertigen Vielfalt gelingt es dem Band tatsächlich, neue Wege zu eröffnen und den Blick zu erweitern. Nachdem in den letzten Jahren die philosophische Seite Schillers (mit Monografien etwa von Frederick Beiser und Laura Anna Macor) genauso in den Fokus gelangt ist wie die politische (man denke an die Bücher von Walter Müller-Seidel und Hans-Jürgen Schings), erweist sich der Spielbegriff nun als fruchtbar, um auch dem Dichter (mit allen, vielfältigen Auswirkungen) neues Interesse zu schenken.

Wenn hier also die Interdisziplinarität nicht unbedingt in der von Alt angedeuteten Form gewährleistet ist, so bleibt doch zu sagen, dass die Beiträge Wichtiges leisten und vereinzelt sogar Maßstäbe setzen. Damit gehört „Schiller, der Spieler“ zu den wichtigsten Publikationen der Schillerforschung in den letzten Jahren.

Titelbild

Marcel Lepper / Ulrich Raulff / Peter-André Alt (Hg.): Schiller, der Spieler.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
308 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835307896

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