Eine zu lang geratene S.P.O.N.-Kolumne

Jakob Augstein spürt in seinem Buch „Sabotage. Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen“ dem Verhältnis von Kapitalismusauswüchsen und Demokratieverlust nach

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jakob Augstein – linker Querdenker der Publizistenszene, gern geladener Talkshowgast, wenn es einen Polarisierer braucht, „Spiegel Online“/“S.P.O.N.“-Kolumnist, Besitzer und Chefredakteur von „der Freitag“, umstritten unter anderem wegen seiner israelkritischen Äußerungen – legt ein neues Buch vor. „Sabotage“ lautet der provokante Titel, der an längst vergangene Tage – Stichwörter: RAF, Startbahn West, Castortransporte, Brokdorf – erinnert.

Augstein ist überzeugt, dass das Regieren längst der Kapitalismus und ’die Märkte‘ – Banken mit faulen Krediten und windigen Finanzspekulationen oder Konzerne, die satte Gewinne einfahren und Vorstandsgehälter massiv erhöhen, auf der anderen Seite aber Massenentlassungen rechtfertigen – übernommen haben, indem sie die Politik entmachtet und demokratische Prozesse usurpiert haben. In der Politik gehe es nur noch um die Aufrechterhaltung einer Demokratie-Fassade; Politik kümmere sich nicht mehr um die Menschen, sondern nur noch um sich selbst, werde zum Selbstzweck, zum selbstreferenziellen System, um mit Niklas Luhmann zu reden. Die wirklich drängenden Probleme wie das Auseinanderdriften von Arm und Reich würden ignoriert, ohne dass es jemanden wirklich störe, nicht einmal die Betroffenen selbst, schon gar nicht die Wähler. Das Wahlvolk, also wir alle, habe sich in dieser Szenerie eingerichtet, sei apathisch geworden und nehme den Verlust demokratischer Grundprinzipien nicht mehr wahr oder stehe ihm gleichgültig gegenüber.

Augstein verlangt ein Aufwachen, eine neue Radikalität im Denken wie im Agieren, eine neue Moral, denn der Verlust gehe auf Kosten der Schwachen, also der Armen, Minderheiten, sozial Ausgegrenzten, Zuwanderer. Für diese setzt sich Augstein ein, er meint, es sei zu kurz gedacht zu glauben, wenn es der Wirtschaft gut gehe, gehe es auch den Menschen gut.

So weit, so hehr. Für seine Thesen bietet Augstein eine Fülle an Material. Er zitiert aus Statistiken der Bundesregierung oder von Forschungsinstituten, seziert Äußerungen von Politikern wie Angela Merkel oder Guido Westerwelle, analysiert Positionen der etablierten Parteien, wobei einzig die Grünen seine Absolution erhalten, und bettet Vorgänge um Stuttgart21 oder die Occupy-Bewegung ein. Wo angezeigt, streut er theoretische Grundsätze von Karl Marx oder Herbert Marcuse ein oder rekurriert anklagend etwa auf die Positionen des konservativen Philosophen Peter Sloterdijk und dessen umstrittene Thesen zur Handhabung von Sozialleistungen.

Man kann dem Buch vorwerfen, dass es nicht wissenschaftlich fundiert ist oder dass Augstein mitunter eine stringente Argumentationskette einer plastisch-sarkastischen Bemerkung opfert, die sich zwar gut liest, aber die Seriosität eines Befundes zu unterminieren droht; oder dass er mitunter verwegen argumentiert, etwa wenn er die Behandlung von Demonstrationen und Demonstranten durch staatliche Organe mit Vorgängen in der DDR gleichsetzt.

All dies ändert nichts daran, dass Augstein viel Richtiges und Relevantes sagt zu den Verfehlungen seitens Politik, Wirtschaft und Banken sowie dem nachlassenden Demokratieinteresse in der Bevölkerung, auch wenn dies nicht erst mit der Finanzkrise eingesetzt hat und Kapitalismuskritik ein mehr oder weniger alter Hut ist (was sie keinesfalls obsolet macht!).

Augstein ist ganz in seinem Element: Er provoziert, er spitzt zu, er bürstet gegen den Strich, er polemisiert, er teilt aus. So kennt man ihn, dafür kann man ihn mögen oder ablehnen. Augstein-Jüngern wird das Buch ohnehin zusagen, seine Gegner werden es als unsinnig, intellektuell verquer, ja gefährlich abtun. Aber all die dazwischen? Diejenigen, die Augstein gewogen sind, aber dennoch nicht alle seine Standpunkte immer und unbedingt teilen? Diesen macht Augstein, bei aller Zustimmung zu den Inhalten, die Lektüre mitunter nicht ganz einfach. Er vereinnahmt den Leser – und die Leserin – voll und ganz, lässt ihm keinen Raum: weder zur Entwicklung eigener Gedanken noch zum Widerspruch noch zum selbständigen Zu-Ende-Denken eines Gedanken. Augstein will den Leser nicht gewinnen, sondern belehren: Man fühlt sich bevormundet. Die Stilmittel und der Erzählduktus, die in Augsteins Kolumnen so gut funktionieren – Polarisierung, Polemik, Sarkasmus, Belehrung –, wirken über eine Strecke von 300 Seiten angestrengt und anstrengend. Augsteins Text wirkt wie eine zu lang geratene „S.P.O.N.“-Kolumne. Das ist schade, denn es mindert die Durchschlagskraft, die Augstein durchaus haben könnte.

Und der Aufruf zur Gewalt, zur Sabotage, für den Augstein in manchen konservativen Blättern, allen voran in der „Welt“, gescholten worden ist? Nun, es gibt keinen Aufruf. Das beschriebene Basteln eines Farbbeutels, die Anwendung von Sabotage, die Augstein als Gewalt gegen Sachen klar vom Terror trennt, sind Teil eines Gedankenspiels, Teil des radikalen Denkens und ein Rütteln am Tabu, das laut Augstein die Anwendung von Gewalt seit den unseligen RAF-Zeiten geworden sei. Insofern ist das Nachdenken über Sabotage Teil der kalkulierten Provokation, die vom Buch ausgehen soll und die Augstein als Meister der medialen Inszenierung gekonnt beherrscht. Augstein weiß genau, dass es keinen Nährboden gibt, auf welchem die Saat illegaler, aber eventuell moralisch legitimierter Gewaltanwendung zu einer Revolution für Besseres gedeihen könnte. Er selbst konstatiert, dass die Mehrheit der Deutschen das Gefühl habe, dass es ihnen gut gehe. Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen, friedlich zu einem politischen Umsturz zu gelangen, und noch schlechtere, diesen unter Gewalteinsatz einleiten zu wollen. Er stellt fest, dass es keine Revolution brauche, sondern eine Reform reiche, aber eine, die diesen Namen wirklich verdiene.

Was bleibt, ist ein engagiertes und wichtiges Plädoyer für die Schwachen der Gesellschaft, gegen ein autistisches, selbstreferenzielles politisches System und gegen Auswüchse der Finanzwelt; ein Plädoyer für Nonkonformismus, Radikalität im Denken und Handeln und für eine Neubestimmung von Werten. Insofern wünscht man dem Buch eine Vielzahl kritischer Leser und eine hohe Reichweite. Viele Saboteure wird die Lektüre des Buchs jedoch nicht hervorbringen. Nicht mal Farbbeutelwerfer. Das mag manchen beruhigen.

Titelbild

Jakob Augstein: Sabotage. Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
304 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243484

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