Der Mythos von Camus

Ein Versuch über das Absurde

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Vor hundert Jahren, am 7. November 1913, wurde Albert Camus geboren, und so sind denn in diesen Tagen die Medien voll von Camus. Sogar unsere Freundinnen Berit und Angelika lesen in ihrer Frauen-Lesegruppe „Der Fremde“ von Camus – oder war es „Der Fall“? Egal.

Das Camus-Fieber hat mich angesteckt, ich lasse mir von Phonostar.de die 8-teilige NDR-Lesung von „Der Fall“ herunterladen und stieg gestern mit Teil 7 verspätet in die 10-teilige Camus-Dokumentation „Leben heißt Handeln“ ein.

Von Camus wusste ich bis dahin nur, dass er aus Algerien stammte, in der Résistance war, mit Sartre erst befreundet und dann verfeindet war, für sein philosophisch-schriftstellerisches Werk den Nobelpreis bekam und 1960 mit 46 Jahren durch einen Unfall starb.

Im siebten Teil von „Leben heißt Handeln“ war Camus’ Essay „Der Mythos von Sisyphos: Ein Versuch über das Absurde“ dran. Ich merkte auf, als der Sprecher folgendes vortrug: „Sisyphos wollte, als er zum Sterben kam, törichterweise die Liebe seiner Frau erproben. Er befahl ihr, seinen Leichnam unbestattet auf den Markt zu werfen. Sisyphos kam in die Unterwelt. Dort wurde er von ihrem Gehorsam, der aller Menschenliebe widersprach, derart aufgebracht, dass er von Pluto die Erlaubnis erwirkte, auf die Erde zurückzukehren und seine Frau zu züchtigen.“

Nun wollte ich natürlich gerne wissen, was der schriftstellernde Philosoph Camus zu dieser fiesen Reaktion des Sisyphos zu sagen hat. Erst der Frau etwas befehlen, ja ihr als seinen letzten Willen den seltsamen Nicht-Bestattungsauftrag erteilen – und wenn sie den Befehl dann ausführt, sie noch aus der Unterwelt heraus dafür züchtigen zu wollen. Aus dieser Double-Bind-Situation kommt die namenlose Gattin des Sisyphos nicht heraus. Sie muss bestraft werden, wenn sie den Befehl befolgt und auch, wenn sie ihn nicht befolgt. Egal, was sie tut, sie macht sich schuldig – ein klassisches Beispiel für das Tragische, wie es die griechische Tragödie konzipierte. Pluto, der Herr der Unterwelt, findet anscheinend auch, dass die Frau gezüchtigt gehört und gibt Sisyphos Urlaub für seine Züchtigungsaktion.

Der Sprecher fuhr fort mit dem Camus-Text, aber auf irgendeinen philosophischen Kommentar zu dem Dilemma der Frau, zu dem, was ihr widerfuhr und warum, wartete ich vergeblich. Ich zog mir mein „Sisyphos“-Exemplar aus dem Regal und las noch einmal nach. Möglicherweise war die Lesung ja etwas gekürzt worden. Nein, nichts davon. Die Frau wird einmal erwähnt und dann vergessen. Sie interessiert nicht, schon gar nicht Camus.

Ich war etwas enttäuscht, muss ich zugeben. Dieser nette, gutaussehende Camus, der in der Résistance war und lebenslang für Gerechtigkeit kämpfte – hatte er denn gar kein Herz für die Frau und für die Ungerechtigkeit, die ihr widerfuhr?

Ich las dann weiter im Internet über Camus und die Frauen nach. Was ich erfuhr, war gar nicht schön. Sein Biograf Martin Meyer beschreibt es so: „Er hatte die joie de vivre, o ja. Das früh bemerkte Lungenleiden, das ihn noch Jahrzehnte verfolgte, trieb – dagegen – an zu einer Vitalität, die sich ans Hier und Jetzt verschwendete. Als homme à femmes im Querfeldein zu Beziehungen mit jungen und immer jüngeren Frauen war Camus ein Don Juan. Die Kunstfigur Mozarts faszinierte ihn bis zuletzt.“ (Nachzulesen hier).

Camus’ Biografin Iris Radisch sieht Camus’ „joie de vivre“ etwas kritischer: „Camus und die Frauen. Ein schwieriges Kapitel in seinem Leben, nicht das beste. ,Außer in der Liebe ist die Frau langweilig’ – leider gibt es diesen schrecklichen Satz in seinen Tagebüchern. Dennoch war sein Leben voller Frauen, meist Schauspielerinnen, Künstlerinnen, Journalistinnen, in die er sich in großer Zahl, nun ja, verliebt hat. In seinen Werken sind sie Statistinnen, animierte Requisiten wie die Stenotypistin, mit der der ,Fremde’ nach der Beerdigung seiner Mutter erst ins Kino und dann ins Bett geht. Camus liebt es, noch die entlegensten Körperteile des Mannes zu beschreiben, die Ränder der Ohren, die Fußgelenke, die sehnigen Schultern, die Brauen, die Lippen, den Hals. Der Körper ist die härteste Währung in seinem Universum. Er ist sein Evangelium. Doch in der Beschreibung des weiblichen Körpers ist er ein Analphabet. Von einer Mutter heißt es, sie sei ,ein unförmiges Tier’. An jungen Frauen beeindrucken ihn die ,teilnahmslosen Mienen’ und die ,natürliche Einfalt’. […] Er war ein großer Frauenverbraucher, einer, der sich selber und alle um sich herum verbrannte.“ (Quelle hier).

Camus’ Ehefrau Francine Camus, Pianistin und Mathematikerin, ertrug Camus’ „joie de vivre“ nicht so gut. Sie versuchte mehrfach, sich deswegen umzubringen. Währenddessen frönte Camus weiter seiner „joie de vivre“ und schrieb einen philosophischen Essay über den Selbstmord, betitelt „Der Mythos des Sisyphos“. Ich habe keine Lust, mehr als die vier Seiten davon zu lesen, die ich auf der Suche nach einem Wort über die „gezüchtigte“ Frau des Sisyphos studierte.

Zu dem Wort „Frauenverbraucher“, das mir bis dahin unbekannt war, fiel mir das Pendant „männermordend“ ein. Frauen, die einen großen „Männerverbrauch“ haben, werden von Männern gern als „männermordend“ bezeichnet. Wenn frau bei Google das Wort „männermordend“ eingibt, werden folgende Ergänzungen angeboten:

männermordende Frau


männermordendes Weib


männermordender Vamp


männermordendes Monster

Ist natürlich alles nur metaphorisch gemeint. Wirklich ermorden tun Frauen die Männer in der Regel ja nicht. Diese Untat findet fast ausschließlich umgekehrt statt, und zwar andauernd. Aber ein Adjektiv gibt es dafür nicht. Gibt frau im Duden das Wort „frauenmordend“ ein, so bekommt sie als Antwort: Leider haben wir zu Ihrer Suche nach ,frauenmordend’ keine Treffer gefunden. 
Oder meinten Sie: Frauenorden?

Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag gehört zu Luise F. Puschs Glossen „Laut & Luise“, die seit Februar 2012 in unregelmäßigen Abständen bei literaturkritik.de erscheinen.