Vorsicht vor roten Pferden

Javier Fernández de Castros „Die berauschende Wirkung von Bilsenkraut“ handelt von Fatalismus und einer durchzechten Nacht

Von Susanne HeimburgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Heimburger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hyoscyamus, das Bilsenkraut, auch Hexenkraut genannt, ist eine Pflanze aus der Familie der Nachtschattengewächse und weithin für seine betäubende und halluzinogene Wirkung bekannt. Sprich: Es lässt sich wunderbar als Rauschmittel einsetzen. Schon im Altertum wurde es nicht nur gezielt für Giftmorde verwendet, sondern diente auch Wahrsagern, um sich in Trance zu versetzen und den Lauf des Schicksals vorhersagen zu können.

Einen kräftigen Schuss an Schauergeschichten, Hexerei und Alchemie hat Javier Fernández de Castro auch seiner Erzählung „Die berauschende Wirkung von Bilsenkraut“ verpasst, in der das giftige Gewächs für einiges an Aufruhr sorgt. Hier köchelt es zusammen mit anderen ebenso wenig vertrauenerweckenden Substanzen in einer Art Hexenkessel vor sich hin und soll als Kaffeeersatz einer übersättigten Wirtshausgesellschaft beim Verdauen helfen.

Und das kam so: Mitten im Juli im Jahre 1958 fängt es im Kantabrischen Gebirge aus heiterem Himmel an zu schneien. Chema Salinas und Santiago Malpás, die sich gerade auf einer ihrer Motorradtouren befinden, suchen Schutz in einem Gebäude, das sich glücklicherweise als Gasthaus herausstellt, und schließen sich einer Gesellschaft von Reisenden an, die dort ebenfalls Schutz vor dem Unwetter sucht. Dann macht auch noch die Nachricht vom ungewöhnlichen Tod eines Pferdes die Runde: Es hat sich versehentlich an der Kirchturmglocke erhängt und trotzdem noch ein gesundes, rotes Fohlen zur Welt gebracht. Die Geschichte versetzt die Einheimischen der Region in Angst und Schrecken, kündigt doch, einer Legende zufolge, die Geburt eines roten Fohlens eine Reihe von Fehlgeburten in der Gegend an.

Die Reisegesellschaft indes versteht den abergläubischen Aufruhr nicht, macht es sich erst einmal bequem und plündert alle Essensvorräte, die der Wirt in der Herberge versteckt hält. Und während sich alle an den Leckereien gütlich tun, erzählt ein komplett in Schwarz gekleideter Herr, der von allen als „der Ingenieur“ angesprochen wird und wie ein undurchsichtiger Weiser die Wege des Schicksals zu kennen scheint, die Geschichte, die hinter der Angst der Einheimischen vor roten Fohlen steckt. Es ist die Geschichte eines spanischen Adligen, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, einen riesigen Fluss auszugraben, der Kantabrien mit Flandern verbindet – dann aber in Ungnade fällt und als hinkender, vom König geächteter alter Mann auf seinem roten Gaul ums Leben kommt.

Unterbrochen wird die Geschichte immer wieder von Überlegungen, was man als Nächstes essen könnte, und von der erschreckenden Entdeckung, dass der Kaffee alle ist. Zum Glück ist einer der Motorradfahrer Chemiker und weiß einen köstlichen Kaffeeersatz auf der Basis von Bilsenkraut herzustellen. Doch auch der Ingenieur hat eine geheime Rezeptur in der Tasche. Das Gebräu wird seine Wirkung zeigen.

Geschichtenerzählen in einer gemütlichen Runde – das ist eine der Weltliteratur nicht unbekannt Situation: In Wilhelm Hauffs „Das Wirtshaus im Spessart“ halten sich die Anwesenden durchs Geschichtenerzählen wach, weil sie jederzeit den Angriff von Räubern fürchten müssen. Diese Situation erinnert gleichzeitig an eine Zeit, in der Geschichten noch nicht schriftlich fixiert wurden beziehungsweise nur wenige Leute überhaupt lesen konnten, sie also von Geschichtenerzählern weitergegeben wurden. Tatsächlich wird die Wirtshausgesellschaft in de Castros Erzählung durch das Wetter fast in eine entfernte, vormoderne Zeit versetzt: Versammelt in einem alten, eher unwirtlichen Saal bereiten sie ihr Essen nicht auf einem Herd, sondern einer Feuerstelle zu, Strom und Telefon sind ausgefallen. Dass man sich dabei auf eine der ältesten Formen der Unterhaltung – das Geschichtenerzählen – besinnt, liegt somit nahe. „Sich zusammenzusetzen, um eine gute Erzählung zu hören, ist eine sehr gemütliche und unterhaltsame Form, den Einbruch des Unvermeidlichen, so lange es geht hinauszuzögern“ – so der Geschichtenerzähler in Castros Erzählung. Und tatsächlich schlägt am Ende das offenbar unvermeidbare Schicksal zu.

Auf einer gemeinsamen Reise mit Juan Benet von Madrid nach Reinosa soll de Castro die Idee zu dieser Erzählung gekommen sein. Benet hatte ihm zum Zeitvertreib die Geschichte des spanischen Adligen erzählt: Tatsächlich soll Carlos V. einst den Plan gehabt haben, einen Kanal bauen zu lassen, der von der kantabrischen Küste bis Valladolid verläuft, und der spanische Adlige hatte sich vorschnell dieser Aufgabe gewidmet. Die Rahmenhandlung, die die Geschichte über den überehrgeizigen spanischen Conde einkleidet, nimmt die Reisesituation, in der die Idee zur Erzählung entstanden ist, auf. Schön schaurig und urkomisch zugleich verbindet sie intelligente Unterhaltung mit metapoetischen Reflexionen über das Wesen des Geschichtenerzählens. Und genau das, das Erzählen, beherrscht de Castro meisterhaft.

Leider ist der aus Burgos stammende Autor in Deutschland bisher kaum bekannt. „Die berauschende Wirkung von Bilsenkraut“ war in Spanien bereits vor fast 20 Jahren erschienen. Sie ist nach „In Erinnerung an einen vorzüglichen Wein“ erst die zweite Geschichte des Autors, die ins Deutsche übersetzt wurde.

Titelbild

Javier Fernández de Castro: Die berauschende Wirkung von Bilsenkraut.
Übersetzt aus dem Spanischen von Timo Berger.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
140 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-13: 9783803112972

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