Im Reiche der Pentakosiomedimnoi

Jochen Schmidt und Line Hoven brechen eine Lanze für das Altgriechische

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Soviel vorweg: Der Rezensent hat eine dieser humanistischen Schulen besucht, die seit Jahrhunderten existieren und sich auf ihre Vergangenheit viel zu Gute halten. Vergangenheit hieß dabei in erster Linie die klassische Antike, einschließlich Winckelmann-affiner Statue im ersten Stock und in den Boden eingelassener Sprüche wie „non mihi sed patriae“ oder „odi profanum vulgus“, die mindestens so viel über die Mentalität Preußens in den 1880er-Jahren aussagen wie über das alte Rom. Latein lernen war Pflicht, und es blieb immerhin genug davon hängen, um zu wissen, dass „principiis obsta“ nicht „im Prinzip Obst“ hieß und zu einer gesünderen Ernährung anregen sollte. Mit Altgriechisch sah das anders aus. Auch das stand seit Jahrhunderten auf dem Lehrplan, galt aber mittlerweile als dispensabel und war daher Wahlfach, so dass die meisten das vermeintlich leichtere Französisch vorzogen. Ein großer Fehler, wie wir viele tausend Akzentverrenkungen später konzedieren mussten.

Man hätte so schlau sein können wie der 1970 geborene Autor Jochen Schmidt. Der bricht nun eine Lanze für das Altgriechische, das er selbst nicht unter den Zwangsbedingungen des Schulalltags erworben hat – sondern viel später in einem Graecumskurs, den er das „beglückendste Bildungserlebnis“ seines Lebens nennt. Und das geschah ausdrücklich nicht aus praktischen Gründen, denn: „Das angenehme […] war ja gerade, daß man sich keine Dialoge mit seinem Banknachbarn ausdenken mußte, in denen man ihm den Weg von Bahnhof zur Post beschreibt oder ein Rezept für Auberginensalat.“ Trotzdem hat Schmidt aus seinen Griechischlektionen Honig gesogen und in ihnen die Wurzel der abendländischen Bildung ausfindig gemacht. Das ist zwar einer der ältesten Hüte deutscher Bildungsgeschichte (siehe oben), aber was er in „Schmythologie“ daraus gemacht hat, ist ebenso originell wie einleuchtend. Seine Basis sind gebräuchliche und entlegene Fremdwörter aus dem Griechischen. Übersetzung und sprachliche Herleitung bleiben dabei lakonisch (auch so ein Gräzismus). Einige sind so allgegenwärtig, dass uns Lesern ihr griechischer Ursprung oft nicht einmal geläufig ist – Pirat, Banause, Migräne, Pantoffel, Creme zum Beispiel. Bei anderen wie Christus, Pädagoge, Parodontose weiß man vielleicht um diesen Ursprung, reflektiert ihn im Alltag aber nicht. Und dann ist da die größte Gruppe, ein liebevoll zusammengetragener Schatz entlegenster Begriffe – etwa das Odontometer, das die Zähnung von Briefmarken misst, das Propemptikon, ein antikes Geleitgedicht für einen Abreisenden, oder die Phonotaxie, der „sich nach Schallwellen richtende[n] Ortsbewegung bestimmter Tiere“. Nicht zu vergessen natürlich die Pentakosiomedimnoi, die „Mitglieder der höchsten Steuerklasse in Athen“. Hätten Sie’s gewusst?

Herleitungen und Definitionen sind aber nur der Aufhänger für den eigentlichen Kern des Buches. Zu jedem der über siebzig Begriffe schreibt Schmidt eine kleine Vignette, die von wenigen Zeilen bis zu einer halben Seite reicht, und in der er sie weniger erklärt als frei über sie assoziiert. Zum Hapaxlegomenon etwa, dem „nur einmal belegte[n] Wort einer Sprache, einer Gattung, bei einem Autor oder einem Werk“ setzt er Hergés Abenteuercomics ein Denkmal. Aus dessen „Tim & Struppi“-Bänden habe er zuerst Worte wie „Piranha“, „Komplott“ oder „Elmsfeuer“ gelernt. Dann aber schlägt die Hommage in einen melancholischen Schlusssatz um: „Nur ein Titel wie Tim in Deutschland war undenkbar, in Deutschland gab es für Tim nichts zu tun, unser Land hatte einem solchen Charakter nichts zu bieten.“

Auf der Basis dieser Miniaturen wiederum zeichnet Line Hoven ihre wunderschönen, mindestens ebenso melancholischen Illustrationen. Das heißt, eigentlich ist zeichnen das falsche Wort – es müsste „kratzen“ heißen. Denn wie schon in ihrem preisgekrönten Comic-Band „Liebe schaut weg“ (2007) arbeitet Hoven mit wachsbeschichteten Schabkartons, aus denen sie in mühseliger Kleinarbeit ihre Bilder herausarbeitet. Wie bei einem Holzschnitt bringt sie nicht schwarze Linien auf weißes Papier, sondern zieht weiße Linien in eine massive schwarze Fläche. Das sorgt für eine ganz eigene, unverwechselbare Ästhetik.

Hovens Illustrationen basieren nun nicht auf den griechischen Begriffen selbst, sondern assoziieren ihrerseits über Schmidts Vignetten. Mal geschieht das ganz wörtlich: Wenn Schmidt den Begriff „Xerokopie“ mit langen Kopiernachmittagen als Hilfskraft im Studium verbindet und daran lobt, dass er die Texte immerhin nicht wie ein Mönch im Mittelalter abschreiben musste, dann zeichnet Hoven eben einen Mönch, der von einem modernen Kopiergerät träumt. Oft sind die Illustrationen – anders als im realistisch erzählten „Liebe schaut weg“ – aber sehr viel skurriler. Etwa, wenn das erwähnte „Propemptikon“ als handgeschriebenes Abschiedsgedicht für E.T. gezeichnet ist, der eben im Begriff ist, in den Weltraum zurückzukehren. Wer meint, das sei ja nichts Neues, solche Paarungen von Kurztexten und Zeichnungen habe er doch schon gesehen, der hat recht. Vor der Buchveröffentlichung waren die Beiträge bereits in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschienen, ebenso wie der vorhergehende Zyklus der „Dudenbrooks“, in denen Schmidt sechsundzwanzig kurze Erzählungen schrieb, für die er jeweils sieben Worte mit dem gleichen Anfangsbuchstaben aus dem Duden herausgeschrieben hatte.

Dass es für Bücher wie „Schmythologie“ oder eben die „Dudenbrooks“ einen Markt gibt, ist eine Folge des Pisa-Schocks, der auch die Bücher Bastian Sicks und ähnliche Werke hervorgebracht hat – ein Beharren auf den Feinheiten der deutschen Sprache und althergebrachtem Bildungsgut, das zwar keinen ökonomischen Nutzen mit sich bringt und oft nicht einmal mehr dem sozialen Distinktionsgewinn dient. Sehr wohl dienen solche Bücher aber der Selbstvergewisserung einer gebildeten Mittelschicht, der auch die meisten Leser und Beiträger dieser Internetseite angehören dürften, und die sich nicht mit der Forderung nach Zeitungssätzen mit maximal sieben Wörtern abfinden wollen, und die im Postamt beim Warten auf einem Schirm vorbeiflirrende Minimalschlagzeilen nicht schon für Nachrichten hält. Dahinter steht eine sehr sympathische Liebe zur Sprache und ihren Idiosynkrasien, um einmal einen weiteren, hier ebenfalls behandelten Gräzismus in den Raum zu werfen. Diese Liebe trägt zwar konservative Züge, kommt aber ohne jeden Anflug eines Chauvinismus aus, der die deutsche Sprache in den Grenzen von 1914 oder doch wenigstens der Dudennorm von 1902 zurückhaben möchte. Stattdessen wird hier einfach gefeiert, was Sprache überhaupt kann – die deutsche oder eben auch die griechische. Das mag manchmal an „Omphaloskopie“ (Nabelschau) grenzen, „Schmythologie“ ist trotzdem ein zutiefst liebevolles und sympathisches Buch. Schade ist höchstens, dass es nun schon so lange keinen neuen Solo-Comic von Hoven zu lesen gibt. Wäre es dafür nicht wieder mal an der Zeit? Und diese Frage ist keinesfalls als metaphorische Lykorexie gemeint.

Titelbild

Jochen Schmidt / Line Hoven: Schmythologie. Wer nicht Griechisch kann, kann gar nichts.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
160 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406653674

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