Erdrückende Fülle

Marcel Leppers Einführung in die Philologie scheitert in ihrem Gelingen

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fünfzehn engbedruckte Seiten umfasst der Artikel „Philologie“ in der vierten Auflage von Brockhaus‘ „Allgemeiner Hand-Encyclopädie für die gebildeten Stände“ aus dem Jahr 1814. Zehnmal so viele, deutlich übersichtlicher gedruckte Seiten braucht es gut zweihundert Jahre später, um den geneigten Leser in das Thema einzuführen. Es scheint also vermehrten Erklärungsbedarf zu geben. Aber abgesehen vom Umfang unterscheiden sich beide Darstellungen in manchen Punkten gar nicht so sehr, wie man es in Anbetracht der historischen Entwicklungen und unterschiedlichen Anliegen erwarten würde. Das zeugt von einer gewissen Konstanz in der Begriffs- und Problemgeschichte und kann dem Leser von Leppers Darstellung gewissermaßen als rettender Strohhalm dienen, den zumindest das Zielpublikum nach der Lektüre durchaus braucht.

Zunächst muss man einräumen: Eine Einführung in die Philologie ist kein leichtes Unterfangen. Die unterschiedlichsten Entwicklungen, Vorstellungen und Erwartungen sind an diesen Begriff geknüpft, er ist so facettenreich, dass man sich fast fragen muss, wie seriöse Wissenschaften auf ihm aufbauen können. Orientierungshilfen müssen aus dieser Fülle auswählen, einige Punkte übergehen, andere vereinfachen – ganz gleich, ob sie eine Disziplin wie die germanistische oder die romanistische Literatur- oder Sprachwissenschaft behandeln oder, wie hier, gleich den Oberbegriff „Philologie“ in den Blick nehmen. Man muss Marcel Lepper ein großes Lob dafür aussprechen, dass er das Wagnis eingegangen ist, sich gerade dieses Oberbegriffs anzunehmen – obwohl er an dieser Aufgabe scheitert.

Das hat einen einfachen Grund, der vielleicht in der Natur der Sache liegt: Indem der Autor zwar die schon hinreichend verworrenen historischen Entwicklungen weitgehend ausspart, zugleich aber den Facettenreichtum des Begriffs aufscheinen lässt, beweist er einerseits ein glückliches Händchen und eine beachtenswerte Sachkenntnis, andererseits tappt er aber auch in die Falle, seinen Leser im Wirrwarr zu verlieren. Das ahnt er selbst, wenn er in der Einleitung schreibt, dass „die ungewohnten, problemorientierten Konstellationen über einen engen Fachhorizont hinweg zweifellos das Konzentrationsvermögen der Leserinnen und Leser“ fordern. Sein Ziel ist es, die Leser „zur eigenständigen Detaillektüre“ anzuregen. Das ist durchaus löblich, und zu diesem Zweck findet sich in der Tat hinreichendes Material im Text, aber es deutet auch an, dass der Leser, selbst bei größter Konzentration, letzten Endes doch auf sich und den Gang in die Bibliothek zurückgeworfen bleibt. In diesem Fall hätte eine kommentierte Bibliografie den gleichen Nutzen gehabt.

Lepper, der seine Einführung von der „Geradlinigkeit philologischer Grundrisse des 19. Jahrhunderts“ abgrenzen möchte, da „Fortschrittsgeschichten und Klassizitätsgeschichten […] in dieser Form nicht mehr erzählbar“ sind, stellt drei Fragen, die er in sechs Abschnitten zu beantworten versucht. Daraus ergibt sich ein Raster, das in seinen vielen Wegen und Möglichkeiten unübersichtlich scheint (und mitunter auch ist), zugleich aber auch die relevanten Fragestellungen und wesentlichen Probleme der Philologie berührt. Die Fragen kreisen um Grundhaltung, Aufgabenbereich und Effizienz der Philologie und drücken in ihrer antithetischen Form zugleich deren Selbstzweifel aus (jede von ihnen taugte als Überschrift einer krisenbewussten Fachtagung): „Wissen – oder wissen wollen?“, „Bestandssicherung – oder Grundlagenkritik?“, „Erfolgsbilanz – oder strukturelles Defizit?“

Antworten sollen die sechs Bereiche „Definitionen“, „Traditionen“, „Institutionen“, „Erkenntnis“, „Konjunkturen“ und „Habitus“ liefern, die sich jeweils nochmal in drei bis fünf Unterabschnitte gliedern. Der Eintrag im Brockhaus kam demgegenüber noch mit zwei Teilen aus: Geschichte und Aufgabe der Philologie.

Besondere Beachtung verdient das Kapitel „Habitus“. Immerhin beschäftigt sich der Verfasser hier mit der Haltung und dem Charakter derjenigen, die – in welcher Form auch immer – Philologie betreiben. Handelt es sich bei diesen Menschen um Gelehrte, Kenner oder Forscher? Und sollten sie sich in ihrer Intellektualität gesellschaftlich und politisch engagieren? In der für die ganze Arbeit üblichen Materialfülle (das Literaturverzeichnis umfasst ganze achtzehn Seiten; zum Vergleich: Hans-Jörg Rheinbergers ebenfalls bei Junius erschienene Einführung in die „Historische Epistemologie“ begnügt sich mit gerade einmal fünf Seiten) stellt Lepper verschiedene Sichtweisen vor, weist auf einzelne Aspekte hin, benennt Vor- und Nachteile. Man erfährt, was Gelehrte von Kennern unterscheidet und diese wiederum von Forschern, und lernt aus einzelnen Beispielen, dass politisches Engagement erfolgreich sein, aber auch fehlgehen kann. Eine endgültige Antwort, welche Charakterisierung nun zutrifft oder zutreffen könnte, bleibt aber aus. Das fordert natürlich – und so hat der Autor sich das ja auch vorgestellt – zur weiteren Recherche auf, es lässt die Lektüre aber auch zutiefst unbefriedigend werden. Schon wegen des außergewöhnlichen Ansatzes, an eine Charakteristik der Philologen zu gehen, ist diese Konsequenz daher äußerst bedauerlich.

Nicht minder rühmlich in der Konzeption und genauso kenntnisreich und belesen gestalten sich die übrigen Teile – aber auch hier bleiben die letzten Antworten aus. Man könnte hier unterstellen, dass Lepper in seinem Text so sehr damit beschäftigt ist, (rhetorische) Fragen zu stellen, dass er gar nicht mehr zu den Antworten kommt. Man sollte darin aber viel eher das Bewusstsein dafür erkennen, dass der behandelte Gegenstand nicht abschließbar vorgestellt werden kann. Und außerdem besteht auch hier noch der Anspruch, zum Selbststudium anzuregen.

Genau hier scheitert Leppers Versuch letztlich: Indem er die schiere Komplexität des Themas mit beiden Händen greifbar macht, verlässt er seinen Leser im entscheidenden Moment. Eine Einführung nimmt der zur Hand, der am Anfang einer Beschäftigung steht, deren drohende Komplexität ihm zumindest andeutungsweise bewusst ist. Um zum (unerlässlichen) Selbststudium zu gelangen, bedarf es aber erst einmal einer festen Grundlage – die mit wachsenden Kenntnissen natürlich auch wieder verworfen werden kann. Gerade diese Grundlage wird ihm hier aber nicht geboten – unter den auf ihn einprasselnden Positionen und Fragestellungen lässt sich kein Punkt ausmachen, von dem aus ein erster Schritt getan werden könnte: Hermeneutisch vorgehen oder doch lieber dem close reading frönen? Kulturwissenschaft oder New Philology? Lepper versucht sich am Ende an kurzen Antworten auf seine drei Kernfragen und plädiert darin für ein stärkeres wissenschaftshistorisches Bewusstsein, für eine Bestandssicherung, die nicht unkritisch bleiben darf, und für den Wert philologischer Forschung, die auch heute noch relevant sei. Man wird ihm in jedem dieser Punkte, je nach eigener theoretischer Position, zustimmen oder widersprechen können. Für die Frage aber, was Philologie eigentlich ist und wie sie arbeitet, ist das alles wenig hilfreich.

Insofern richtet sich diese Einführung weniger an jene, die zum ersten Mal an die Philologie herangeführt werden wollen (oder sollen), sondern eher an diejenigen, die in ihr schon eine Weile heimisch sind, ohne sich bereits endgültig eingerichtet zu haben. Leppers Buch liest sich sehr viel leichter (und äußert gewinnbringend), wenn man eine eigene, ruhig auch vorläufige Antwort auf die Frage „Was ist Philologie?“ gefunden hat.

Insofern ist, wie eingangs erwähnt, ein Strohhalm für all jene hilfreich, die noch nicht an diesem Punkt angelangt sind. Und so sei nun auf die Gemeinsamkeiten mit dem „Brockhaus“ verwiesen.

Wie Lepper benennt auch das Lexikon die Grammatik, die Hermeneutik und die Kritik als Kernaufgaben der Philologie (wobei diese Benennung im „Brockhaus“ viel eindeutiger und freilich auch selbstverständlicher erfolgt). Hinzu kommt die Metrik als vierter Bereich, der heutzutage in diesem Rahmen eher ausgespart wird. Man kann sich also damit trösten, dass es sprach- und literaturwissenschaftliche Basiskonzepte gibt, die den Kern der Philologie ausmachten und auch heute noch ausmachen. Auch der Unterschied zwischen einer eher materialistischen Sammlung von Textzeugnissen gegenüber einer eher kritischen Bewertung dieser Zeugnisse findet sich schon 1814 – noch etwas also, worüber schon immer gestritten wurde. Und zu guter Letzt weist eben nicht nur Marcel Lepper, sondern schon der Artikel im „Brockhaus“ darauf hin, „daß man den Titel eines Philologen und eines Pedanten ziemlich gleichbedeutend gebraucht hat.“ Wenn also alle Stricke reißen und man im Labyrinth der Begriffsgeschichte den Faden verliert, kann man sich immer noch damit retten, eine hübsche Beleidigung gelernt zu haben.

Titelbild

Marcel Lepper: Philologie. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2012.
180 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783885060635

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