Eine doppelte Optik

Janet Frame erkundet in ihrem Roman „Auf dem Maniototo“ das Gelände der Literatur und stiftet kreative Verwirrung

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Janet Frame legt es in ihren Büchern nicht darauf an, eine Geschichte so zu erzählen, dass am Ende alle Erzählfäden schön verwoben und abgenäht sind. Ja, streng genommen verstößt sie gerne gegen die Regeln des Schreibseminars. Genau das verleiht ihrer Prosa ein Schillern und Funkeln, das die Lektüre mit erzählerischem Charme zu verzaubern vermag. Ihr neu aufgelegtes Buch „Auf dem Maniototo“ (1979 im Original erschienen) demonstriert es aufs Schönste. Frame zieht darin einige Register ihrer hohen Kunst.

Die Icherzählerin hat zwei Männer begraben, damit pflegt sie sich anderen gegenüber vorzustellen. Auf diese Weise fällt es ihr leichter, den richtigen Namen zu verschweigen. Ihrer Leserschaft empfiehlt sie sich in vielen Variationen als „Alice Thumb, Toms Schwester, Mavis Postle, Mavis Barwell, Mavis Halleton, Violet Pansy Proudlock, Lorna Greenbanks etc. etc.“.

Zwei Ehemänner also sind todeshalber von ihr gegangen, der bemitleidenswerte Rohrleger Lewis Barwell (mit dem sie zwei nunmehr erwachsene Kinder hat) und der spätere Schuldeneintreiber Lance Halleton; beides rechtschaffene Gatten, doch jeder für sich ein wenig bedeutungslos. Das Leben der Erzählerin beginnt erst nach ihrem Ableben, als sie die kleinbürgerliche Existenz in der neuseeländischen Provinz, auf dem Maniototo (einer Hochebene im Süden der Südinsel), aufgibt und Schriftstellerin zu werden beschließt. Kostproben ihrer Kunst gibt sie, indem sie sich an ihre beiden Verflossenen erinnert. Dann reist sie zu einem Freund nach Baltimore, Brian, und bald weiter nach Kalifornien. Das Ehepaar Garrett, das ihre ersten zwei Bücher gelesen hat und aufs Höchste schätzt, hat sie eingeladen, während ihrer Abwesenheit das Haus zu hüten und es als Schreibresidenz zu benutzen. In den Hügeln oberhalb von Berkeley bezieht sie ein stattliches Anwesen, in dem sie alles Nötige vorfindet, eine Bibliothek inklusive, bloß die Gedichte von William Butler Yeats fehlen, wie sie sogleich bemerkt.

Die Icherzählerin, auf dem Weg zur schriftstellerischen Vollendung, gibt im ersten Teil ihres Romans ein paar ihrer ästhetischen Richtlinien preis. Sie dürfen wohl auch auf Janet Frame selbst angewendet werden. Etwa, dass erst „ein Satz, der einen berührt wie ein Brenneisen“, gut ist; schlecht hingegen sei ein „Satz, der über wertlose Dinge stolpert statt über vergrabene Schätze“ – „und noch schlechter, wenn er wertlose Dinge mit künstlichem Licht erhellt; aber er ist gut, wenn er einzigartigen Glanz auf sie wirft“.

Damit ist vieles ausgedrückt, was Frames Prosa ausmacht: dieses einzig- und eigenartige Schillern, das ihrer Sprache innewohnt. Etwas später räsoniert die Erzählerin über das „Ich-Buch“, dessen hohen Anforderungen sie sich stellen will, weil auch für sie „allein der Blick durch das schmale ‚Ich‘-Fenster möglich war, das den Gesichtskreis einengte und nur das Abschießen vereinzelter Pfeile erlaubte“. Selbst diese Erörterungen weiß sie genuin erzählerisch mitzuteilen, bevor sie sich wieder ihrem zweiten Mann zuwendet, der eben am Ziel seiner Karriere angelangt ist. Nach Langem hat der Schuldeneintreiber Lance endlich den notorischen Schuldenmacher Yorke ausfindig gemacht, „verkleidet als Schuldeintreiber“. Daraufhin geht es mit ihm schnell zu Ende.

Tempi passati. Die Erzählerin ist in Kalifornien angekommen, wo mitten im Roman eine dramaturgische Wende für Verblüffung sorgt. Unverhofft erhält sie eine bedeutende Erbschaft zugesprochen. Die kinderlosen Garretts kommen bei einem Erdbeben in Italien zu Tode. Testamentarisch wird der verehrten Autorin das schöne Haus übertragen, was sie selbst stutzig macht – als Person und erst recht als Schriftstellerin. Ein derartiger Zufall muss verwirren, denkt sie, „weil es sich um einen Zufall handelte, den die Literatur nie zugelassen“ und den „vielleicht sogar ich, mit der Arroganz einer aufstrebenden Schriftstellerin, verworfen hätte“. Seine geradezu plumpe Unvermitteltheit entbehrt jeder Subtilität – auf den ersten Blick. Hintergründig zeigt die Wende jedoch Wirkung, indem sie der Autorin respektive der Schriftsteller-Erzählerin erlaubt, neues Personal einzuführen, das für sie zum narrativen Spielball wird. Janet Frame zieht einen doppelten Boden in ihre Prosa ein. Sie verheimlicht es nicht und tut es doch mit listiger Souplesse.

Es treten zwei Ehepaare auf, die für sich reklamieren, die verstorbenen Garretts besser gekannt zu haben – ein wenig zumindest. Alle beide beabsichtigen sie, zwei Wochen zu bleiben, wie es noch mit den Garretts vereinbart war. Dass ausgerechnet eine unbekannte Schriftstellerin das schöne Haus erben soll, darüber kommen die Prestwicks aus London und die Carltons aus Berkeley nur schwer hinweg. Zumal letztere gerade selbst eine neue Bleibe suchen. Ihre Anspielungen und feindseligen Blicke vergiften das Zusammenleben, auch wenn die Erzählerin sich darob amüsiert, weil sie ihre Gäste, „wären es literarische Figuren gewesen, einer viel genaueren Prüfng unterzogen und ihnen vielleicht das Haus verwehrt hätte“.

So geraten Wahrheit und Fiktion im Roman vollends durcheinander. Die Erzählerin träumt von den Gästen als „zwei Geier namens Plusquamperfekt und Historisches Präsens“, woraus sie folgerichtig einen Schluss zieht. Sie verlegt ihr Domizil in die kleine Wohnung im Untergeschoss und überlässt die beiden Paare sich selbst. In der Klausur besinnt sie sich auf ihre Stärken: „Eine Schriftstellerin hortet wie eine einsiedlerische Holzbiene Stückchen aus dem Reservoir der Vielfalt und beginnt dann wie besessen zu kauen; so errichtet sie einen langen Gang und bettet ihre eigene Existenz in ihre Nahrung ein“ – im Plusquamperfekt und im Historischen Präsens. Sie lässt die vier Gäste selbst zu Wort kommen, und verfolgt sie mit scharfem Blick auf ihren Expeditionen, um hinter ihre Maskeraden und Träume zu blicken.

Diese Textspur erhält Eigenleben – bis die Autorin wieder aus ihrem Arbeitszimmer auftaucht und zu erkennen gibt, dass Wirklichkeit und Erfindung, in einem „abschließenden Zugeständnis an das historische Präsens“ gipfelnd, längst auseinander gedriftet sind. Sie trifft eine Entscheidung und schenkt das Haus den Carltons.

In dem narrativen Vexierspiel bleibt am Ende lediglich die Autorschaft von Janet Frame gewiss. Ihr Roman fasert aus, treibt bunte Blüten und wird doch immer wundersam durch eine Handschrift zusammengehalten, die einzigartigen Glanz auf unscheinbare Dinge wirft. Janet Frame kreiert Bilder von überraschender Genauigkeit: „Er hatte einen Staubsaugerblick, der das gesamte Blickfeld säuberte.“

Es ist vor allem jener einengende „Blick durch das schmale ‚Ich‘-Fenster“, der ihrer Prosa besonderen Reiz verleiht. Wie die solitäre Holzbiene zehrt sie aus dem geheimen „Reservoir der Vielfalt“ und schmuggelt die eigene Existenz in ihre Fiktion mit hinein. Ihre Icherzählerin beobachtet einen schmalen Auszug der Welt und reichert ihn an den Rändern mit der eigenen Fantasie an. Dies erlaubt den Lesenden eine doppelte Optik: Wir blicken mit den Augen der Icherzählerin auf die Welt und schauen ihr (respektive der Autorin) zugleich tief in die Seele. Darin liegt das berührende Geheimnis von Frames Prosa. Sie selbst reizt diese Wirkung aus, indem sie ihre Leserschaft durch kleine Anreden, „wie Sie sehen werden“, subtil mit einbindet.

Im Roman „Auf dem Maniototo“ erweist sich Janet Frame (einmal mehr) als eine meisterhafte Erzählerin, die brillante Pirouetten dreht und funkelnde Reflexionen zum Besten gibt. Daraus entsteht ein Irrgarten der Emotionen und der wunderlichen Bilder, der die Lesenden bezaubert.

Am Ende veschwinden die Gäste im Haus oberhalb von Berkeley so schnell und spurlos, wie sie gekommen sind. Die Fiktion zerstiebt, als ob alles gar nicht stattgefunden hätte – und dann steigen die Garretts aus dem Taxi.

Titelbild

Janet Frame: Auf dem Maniototo. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Lilian Faschinger.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
302 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406653858

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