Flüchtige Schaumkronen

Über Hanna Schygullas Autobiografie „Wach auf und träume“

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang ist der Stoff, aus dem Träume sind. Hier ist die Schauspielerin und Sängerin Hanna Schygulla, die am 25. Dezember 70 Jahre alt wird, zu Hause und gerettet. Der Titel ihrer Autobiografie „Wach auf und träume“ ist Peter von Beckers Theaterstück „Wach auf und träume“ entlehnt, das von Henrik Ibsen inspiriert wurde. In 18 Kapiteln und zahlreichen „Verpuppungen“ beschreibt sie das, was sie auf der Bühne empfindet: „Ein starkes Gefühl von Dasein und ein starkes Gefühl von Träumen, Schlafwandeln, Trance.“

Der erste Teil entstand bereits vor 30 Jahren – er wurde nicht wesentlich verändert und ist die knappe Beschreibung ihres Lebens bis 1981, als der Publikumserfolg „Lili Marleen“ in die Kinos kam. Im zweiten Teil folgt sie keiner stringenten Chronologie. Er enthält kaum Zeitangaben oder Jahreszahlen, sondern ist eine Montage ihres Selbstbildes. Sie beschreibt Gedanken, Gefühle, vollkommene Augenblicke, die einem zerstückelten Leben den Entwurf von Ganzheit entgegensetzen, prägende Erlebnisse wie die Flucht mit der Mutter aus dem oberschlesischen Kattowitz, die Kindheit im München der Nachkriegszeit, die Jahre um 1968, ihre Zeit mit Rainer Werner Fassbinder, die Pflege ihrer Eltern – und „Ferien von der Zeit“ und der Karriere.

Die Heimkehr des Vaters 1948 aus der Kriegsgefangenschaft gehört zu den ersten schmerzhaften Kindheitserfahrungen: „Er war sehr bedrückt. Er hatte seine Illusionen verloren, er hatte an Hitler geglaubt“. Er ist für sie ein Fremder, der sie nicht in den Arm nehmen und Gefühle zeigen kann. So habe sie „in der Luft gehangen“. Dieses Lebensgefühl ist ihr geblieben. Und sie fragt sich, ob ihre tranceartige Ausstrahlung, ein „Narzissmus ohne Eitelkeit“ (Georg Stefan Troller), mit diesen frühen Erfahrungen zu tun hat.

Das Ambivalente fasziniert sie, das Gleich- und Anderssein. Ihre frühe Faszination für Hans Christian Andersen mag damit zu tun haben. Søren Kierkegaard polemisiert 1838 gegen den Dichter und macht sich über dessen Sexualität lustig: Er sei eine jener seltenen Pflanzen, bei denen beide Geschlechter auf demselben Stengel säßen. Andersen fühlt sich von solchen Herabsetzungen tief gekränkt und flüchtet immer öfter ins Ausland. Vermutlich lebt er seine mögliche Homosexualität niemals aus. Das Motiv der stummen Liebe ist seiner Biografie und seinen Märchen gleichermaßen eingeschrieben. „Die kleine Meerjungfrau“ ist auch eines der Lieblingsmärchen von Hanna Schygulla, auf das sie immer wieder im Buch Bezug nimmt: Die kleine Meerjungfrau will nicht das sein, was sie ist – sie will etwas anderes werden. Das Mischwesen zwischen den Elementen muss für seine Verwandlung in eine landläufige Menschengestalt mit der Zunge bezahlen und fortan bei jedem Schritt den Phantomschmerz des amputierten Unterleibs spüren. Wie die Meerfrau soll auch Andersen seinen Prinzen, der wie im Märchen eine Prinzessin bevorzugt, nicht bekommen. Die kleine Meerjungfrau entsteht, als sein Geliebter Edvard Collin heiratet. Über das, was im Inneren seiner Seele verborgen bleibt, kann er mit niemandem sprechen.

Die Märchen ihrer Kindheit verweisen auf das, was im Leben folgt: Aus den kleinen Verhältnissen, aus der „Enge“, wollte sie sich immer befreien: „Ein Ausgang ins Freie ist die Phantasie.“ Schon früh erkannte sie, dass sie anders ist – und alles Fremde, das nicht zu fassen ist, zog sie an. Ein ‚Möchtegernbub‘ möchte sie zuerst sein, später eine Prinzessin, die mit dreizehn Jahren im Riviera-Urlaub einen Schönheitswettbewerb gewinnt. Nach dem Abitur lebt sie ein Jahr als Au-pair in Paris, dann studiert sie in München Germanistik und Romanistik.

Der Zufall, die Antithese der Planung, hat sie immer „geführt“. Kurz vor seinem Tod sagte Albert Einstein, der Zufall sei das Pseudonym vom lieben Gott, wenn er inkognito bleiben will. Aber dieser Gott tat es bei Schygulla nur dann, wenn sie lange genug dranblieb an dem, worum es ihr ging und nicht aufgab: Zufällig begleitet sie eine Freundin in die Schauspielschule – zufällig lernt sie dort Fassbinder kennen. Sie spürte von Anfang an, dass sie füreinander bestimmt waren, auch wenn sie nicht viel gemeinsam hatten bis auf die „tiefe Vorliebe fürs Labyrinth der Widersprüche“: Er lud sie in sein Improvisationstheater ein und drehte mit der „Einzigartigen“ Film um Film. In seinem Anti-Theater wurde sie ein unverzichtbarer Teil des Ensembles.

Hanna Schygulla wandert in dieser Zeit zwischen den Welten – von einer Kunstsprache in die andere: „Tagsüber intellektuelles Säbelrasseln und abends vertrackter Primitivo-Talk.“ Je länger sie studierte, desto lebloser fühlte sie sich. Die Zulassungsarbeit für das Staatsexamen über „Schizophrenie und Sprache bei Karl Valentin“ bleibt ungeschrieben. Sie will nicht mehr „gescheit daherreden“, zu viel denken, sondern stärker empfinden, raus aus dem Kopf und rein in die Mitte. Dabei entdeckte sie die Kraft des „magischen Denkens“: „Bilder erfinden, die zu Entwürfen von neuen Wirklichkeiten werden“. Das Unvollendete und Provisorische sind ihr lieber als Perfektion, Intuition und Gefühl wichtiger als Verstand: Auch hier wird der Bezug zu einem ihrer Lieblingsmärchen deutlich, ohne dass sie an dieser Stelle darauf Bezug nimmt – Andersens „Schneekönigin“: Sie sitzt mitten in einem gefrorenen See, im Spiegel des Verstandes. Wenn es dem kleinen Kay gelingt, das Wort „Ewigkeit“ aus Eisstücken zusammen zu setzen, so will sie ihm „die ganze Welt“ schenken. Herrschaft ist als Preis auf die Verfluchung des warmen Herzens gesetzt.

Mit Hanna Schygulla entstanden die ersten Fassbinder-Filme, darunter „Katzelmacher“, „Liebe ist kälter als der Tod“, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ und die Fernsehreihe „Acht Stunden sind kein Tag“. Sie ist Motor seiner Arbeiten, aber das wird der Regisseur niemals zu ihr sagen. Nach „Effi Briest“ stieg sie aus der Gruppe aus, weil der „verhexte Hexer“ sie als steife Puppe totinszeniert hatte. Sie wollte nicht so leblos sein, kein „dressiertes Wesen“.

Sie erinnert sich an ein weiteres Märchen von Andersen, der die phantasielosen Verstandesmenschen ablehnt, denen Künstlichkeit über Natürlichkeit geht. In „Der Kaiser und die Nachtigall“ wird ein Automat höher geschätzt als Rose und Nachtigall. Der Kunstvogel hat ebenso viel Erfolg wie der wirkliche, denn er ist viel reizender anzusehen. „Bin ich denn nicht auch so ein künstlicher Vogel geworden?“, fragt sie sich.

In „Die Ehe der Maria Braun“, „Berlin Alexanderplatz“ und „Lili Marleen“ wurde sie zur Ikone von Fassbinders Geschichtsbildern. Er starb 1982 „jung an Jahren und alt an Werken“, wie Willy Rabenbauer, sein erster und wichtigster Wegbegleiter, sagte, bevor er sich zu Peer Raben umbenannte: „Vielleicht in Anlehnung an Peer Gynt, der nicht so scharf unterscheiden wollte zwischen Traum und Wirklichkeit, wie wir alle anderen auch, die wir am Rande des Traums die Samen der Wirklichkeit streuen und unser Brot verdienen durch spielen. Für uns gilt das Wort Henrik Ibsens: Wach auf und träume!“

Zwei Jahre vorher hatte er sein „Geschöpf“ nach einem Gagenkonflikt aus seinem Kosmos verstoßen. Die „Andere“, die dazugehörte und doch nie so ganz, spielte inzwischen in Filmen von Jean-Luc Godard, Carlos Saura, Ettore Scola, Marco Ferreri, Andrzej Wajda und Kenneth Branagh, war in Kuba an zwei Romanverfilmungen von Gabriel García Marquez beteiligt und stand mit George Tabori auf der Bühne.

Seit 1978 befasste sie sich immer wieder mit eigenen Video-Kurzfilmen, die sie mit minimalen Mitteln selbst produzierte und in denen sie auch selbst mitwirkte. „Angefangen hat es mit dem Träumen, denn wenn wir schlafen und träumen, erwacht in uns ein Dichter, der uns mit gewagten Bildern und Worten das sagt, was unser Wachsein uns verbirgt“, so ihre Intention für die Videos.

1982 geht sie ein zweites Mal nach Paris und bleibt, auch wenn die Liebe zu Jean-Claude Carrière, den sie als Drehbuchautor für Volker Schlöndorffs „Die Fälschung“ kennenlernte, nach 13 Jahren zerbricht. Mit ihm wollte sie ein Kind. Doch er bekommt es mit einer anderen. Die Männer haben sie nie ganz „gehabt“ – so wie auch sie sie nie ganz haben wollte: „Sich ganz gehören – ja – für Stunden, für Augenblicke. Dann muss wieder Einsamkeit sein, loslassen, sich fremd werden, und dann kann das Ganze wieder von vorne losgehen – das Abenteuer der Begegnung.“ Zusammensein ist für sie Unterbrechung vom Alleinsein.

Sie beginnt eine zweite Karriere als Sängerin, inspiriert von Alicia Bustamante aus Kuba, ebenfalls Schauspielerin und Sängerin, mit der sie bis heute befreundet ist. Hanna Schygulla pendelt in den nächsten zehn Jahren zwischen Frankreich und Deutschland und stellt Beruf und Karriere hintenan – die eigene Mutter wird zum Kind. 2007 wurde sie in Fatih Akins Film mit einem Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk auf der Berlinale geehrt. 2011 bei Dreharbeiten zu „Avanti“ zwingt ein Wirbelsäulenvorfall Hanna Schygulla in den Rollstuhl. Sie erfährt, dass nur das hilft, „wenn die Gefahr am größten ist: Glauben, dass es gelingen wird, und dem Zweifel keinen Platz geben.“

Mit dem Älterwerden werde die Zeit kostbarer denn je, schreibt sie. Damit verbunden ist für sie auch die Rückkehr in die Heimat – in die eigene Sprache: „Im Alter kehrt man zurück zu den Anfängen des Lebens.“ Doch es gibt kein Bleiben. Nirgends. Alles ist wie ein Fluss, der weiterfließt und doch bleibt, immer im Aufbruch und Ankommen zugleich. Das ist der Stoff ihres Buches, auf dessen ruhiger Oberfläche immer wieder poetische Tiefe aufleuchtet. Wirklicher ist die Welt Schygullas nicht zu haben.

Titelbild

Hanna Schygulla: Wach auf und träume. Die Autobiographie.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2013.
197 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783829606585

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch