Konsequenter Hedonismus

Die neue Reiseliteratur verschreibt sich einem hedonistischen Wunschbild

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die neuen Reiseformate zeigen ein Paradigma an, das die Wahrnehmung von Ländern, Städten und Kulturen, die als Reiseziele attraktiv genug sind, anscheinend grundlegend verändert. Dabei werden Kernauszeichnungen der Zielorte umgeschrieben, auf andere Bedürfnisse zugeschnitten, teilweise sogar eliminiert, um die hedonistische Grundhaltung des Zielpublikums bedienen zu können.

Die Reiseliteratur der Moderne hat von Beginn an eben auch hedonistische Züge. Zwar dient etwa die historische Rheinreise des 19. Jahrhunderts, mit der der moderne Tourismus begann, vor allem einem bildungspolitischen Ziel – die Wahrnehmung des romantischen Rheins als Essenz der deutschen Kultur. Daneben tritt aber spätestens seit den 1920er-Jahren und dem Beginn des Massentourismus der Genuss der jeweiligen kulturellen und lebensweltlichen Güter – gutes Essen und Trinken und die Kultur des Ziellandes werden zu gleichrangigen Zielen. Die Erholung, der Genuss und das Erlebnis rücken mehr und mehr ins Zentrum des Tourismus’ – wo sie noch lange neben sich die Bildung tolerieren. Mit ihr wird die Konjunktur der Kunstreiseführer begründet, die allerdings heute zum Sonderzweig im Reisegenre geschrumpft ist.

Die hedonistische Wende der Reiseliteratur wird zu Beginn des 21. Jahrhundert zu einer neuen, extremen Konsequenz geführt, wie ein Blick auf die jüngst erschienene New-York-Ausgabe des „DuMont Bildatlas“ zeigt.

Das Format ist anscheinend als Ergänzung zu den gleichfalls von DuMont vertriebenen Reiseführern gedacht. Es wird quartalsweise produziert und mit jeweils neuen Themenheften auf den Markt gebracht. Das Themenspektrum ist weit gefächert, allerdings mit Schwerpunkt auf Europa.

Ziel der Reihe ist allerdings nicht vorrangig die Initiierung eigener Reisen, auch wenn das Zielpublikum reisefähig und -willig ist. Stattdessen stehen das Interesse der Leser und die virtuelle Reise im Vordergrund, wie das bereits bei den Vorgängerformaten wie „Westermanns Monatsheften“ oder den „Merian“-Heften der Fall war. Die einzelnen, regelmäßig erscheinenden Hefte werden über den Bahnhofsbuchhandel oder ähnliche Vertriebswege vermarktet. Sie zielen auf ein Gelegenheitspublikum, die regelmäßige Erscheinungsweise legt eine Ergänzung der Hefte nahe. Der Gelegenheitskauf soll – im optimalen Fall – zum regelmäßigen Kauf führen, für das Abonnement wird mit einem kostenlosen Probeheft geworben.

Die Hefte dienen somit nicht vorrangig der direkten Reisevorbereitung, sondern zielen auf ein interessiertes Publikum. Die Reise selbst ist aber nur eines der Ziele der Publikation, das nicht einmal zentral ist. Vorrangig für den Verlag und angelegt im Reihencharakter des Formats ist der wiederholte Kauf neu erschienener Hefte.

In diesem Kontext besteht die Funktion für die Leser zum einen in der basalen Orientierung über die verschiedenen Reiseziele. Die Hefte sollen Interesse wecken und steigern. Dabei sollen die Bedürfnisse eines breiten Publikums bedient werden, das nicht kulturell oder politisch interessiert ist, sondern lebensweltlich. An die Stelle der konkreten Reise tritt zudem die virtuelle Reise, deren Plateau und Gelände das Heft selbst ist. Die Lektüre der Hefte ist selbstbezüglich und ihre Wirkung beschränkt.

Diese Nutzung liegt in der Tradition des Formats begründet. Reihen wie „Was nicht im Baedeker steht“, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Etablierung des Massentourismus begleiteten, haben bereits ähnlichen, selbstbezüglichen Charakter: Ihre Lektüre ersetzt die Reise selbst. Aufgewertet werden sie nicht zuletzt durch die Verfasser, die verstärkt aus dem literarischen Betrieb stammen. Der Band zu Riviera und Cote d’Azur etwa, 1931 erschienen, stammt von Erika und Klaus Mann.

Was in den 1920er-Jahren vielleicht nur erst angedeutet wird, hat sich mittlerweile zum Hauptzweck der zahlreichen Publikationen gemausert, die das Feld bestimmen. Deren Orientierung folgt strikt einem breiten Publikumsbedarf. Da das Primärinteresse des Touristen nicht politisch oder wirtschaftlich ist, sondern auf die Erholung und die Befriedigung von Interessen wie Abwechslung oder Bildung gerichtet sind, blenden diese Formate unangemessene Themen von vorneherein aus.

Das ist auch am 2013 erschienenen New-York-Heft der DuMont Bildatlas-Reihe zu erkennen. Da die Hefte im Zeitschriftenhandel vertrieben werden, nähern sie sich in der Aufmachung Zeitschriften an, denen sie als Format entsprechend nahegerückt werden.

Das Heft ist mit einem Editorial und einem Inhaltsverzeichnis versehen, die in der Gestaltung Zeitschriftencharakter signalisieren. Aus dem Reiseführerformat stammt hingegen die regelmäßig nachfolgende Doppelseite, in der in diesem Fall Topziele in Manhattan aufgeführt sind und in einem Lageplan eingezeichnet sind.

Zentrales Vermittlungsinstrument ist jedoch die Kombination einer Bildstrecke, in der sich nur geringe Textanteile finden, mit dem Einleitungs- und Haupttext. Auf sieben doppelseitigen Fotos werden die zentralen Ikonen des hier zu vermittelnden New-York-Bildes nacheinander ablaufend präsentiert. Zweimal die Skyline Manhattans, ein Blick auf eine der Ruhezonen der Stadt (allerdings nicht der Central Park), der Blick auf ein Event auf dem Times Square und auf zwei junge Musik hörende Leute in Harlem, eine Besucherin im Metropolitan Museum of Art und eine Straßen- und Kaffeehausszene im Village.

Die Dominanz der Fotos über die Begleittexte wird durch deren Platzierung angezeigt, die beiläufig und aleatorisch ist. Sie werden auf einem weißen Streifen je nach Belieben ober- oder unterhalb, rechts oder links verteilt. Das bedeutet: Sie sind nicht als zentrale Informationslieferanten konzipiert und rücken deswegen an die Peripherie der Aufmerksamkeit: Die Story selbst wird von der Fotostrecke erzählt. Die Texte ergänzen die Fotoerzählung nur oder spitzen sie zu.

Die Fotostrecke zielt dabei auf den nachfolgenden Haupttext, der gleichfalls mit einem doppelseitigen Foto aufmacht. Hier rückt das Foto jedoch nach links und lässt auf der rechten Seite einen weißen Streifen frei, auf dem Titel und Teaser so platziert sind, dass sie vor dem Foto wahrgenommen werden können. Auch dies ist dem Zeitschriftengenre entlehnt, das seine Erzählung immer noch vorrangig über den Text entwickelt. Das Foto selbst zeigt einen Jogger, der über die Brooklyn Bridge nach Manhattan läuft. Die Hinleitung zum Thema ist damit mehr als sinnfällig.

Die Story, die die Fotostrecke und der nachfolgende Haupttext erzählen, ist auf die hedonistischen Interessen von Lesern gerichtet. Hier wird gezielt ein New-York-Bild gezeichnet, das von einem genussvollen, aufregenden und interessanten urbanen Leben geprägt ist. Eine aufregende, die Sinne erregende Stadt – wie auch der Titel des Haupttextes signalisiert: „Ansturm auf die Sinne“.

Der Text selbst fokussiert auf die kleinräumige und damit abwechslungsreiche Struktur Manhattans. Neben der Schwulenszene der Christopher Street wird das konventionelle Abendgarderoben-Publikum der Bedford Street gestellt. Die historisch angelegten Raster der Stadtstruktur hätten zu einer auf die Wohnblocks orientierten Struktur geführt, die jeweils eigen kulturell konnotiert seien. Der Stadt fehle ein Mittelpunkt, wie er durch den Marktplatz in europäischen Städten gebildet werde. Statt des einen Zentrums gebe es zahlreiche einander gleichrangige Viertel, die jedes Bedürfnis befriedigen können und für schnelle Abwechslung sorgen. Für den auch nur virtuellen Besucher ist das von offensichtlicher Attraktivität.

Das Bildprogramm, das dem Text beigegeben ist, unterstützt dieses Bild: Die Fotos zeigen neben der Vielfalt des städtischen Lebens vor allem ruhende und genießende Subjekte: Der Tourist, der sich vor dem (Börsen)Bullen fotografieren lässt, zwei Broker, die sich auf dem Gehweg, einen Kaffee in der Hand, unterhalten, junge Leute, die sich an einem Brunnen erfrischen – es ist keine tosende, überfüllte und hektische Stadt (die im Text zumindest ansatzweise angespielt wird), sondern eine Stadt, die viel Raum zum Genuss gibt und zahlreiche Interessen bedient.

Das lässt sich jedoch nur dann umsetzen, wenn wenigstens Teile des früheren New-York-Bildes verdrängt werden. Die eingeführten Ikonen des New-York-Bildes werden zwar nicht ignoriert, aber sie werden deutlich beiläufiger präsentiert, als zu erwarten wäre: Die Skyline wird, dieses Mal aus der Perspektive des mit dem Boot Anreisenden zum dritten Mal auf wenigen Seiten gezeigt, die Freiheitsstatue wird mit einem kleinen Foto berücksichtigt, die New Yorker Börse wird als amerikanisches Gebäude präsentiert und das Flat Iron Building – eine der Ikonen der New Yorker Architektur und der Fotografiegeschichte – wird gleichfalls in andere Abbildungen eingereiht vorgeführt.

Bild- und Textseiten halten sich im Einleitungstext quantitativ die Waage, was jedoch im Zusammenhang mit der vorangehenden Fotostrecke nur die Dominanz der Fotografie betont.

Die Fokussierung auf ein hedonistisches New-York-Bild, das durch die folgenden Beiträge noch verstärkt wird (zur Kunst-, Musik- und Museumszene und zur Viefalt der Alltagskultur New Yorks), entwickelt, das New-York-Bild auf der einen Seite weiter. Auf der anderen Seite werden jedoch spezifische Elemente des traditionellen Bildes ausgeblendet.

Im Wesentlichen bezieht sich das auf das politische New York. Das pauperistische New York wird jedoch völlig ignoriert (obwohl es, wie jüngst berichtet, keineswegs verschwunden ist), wirtschaftlich problematische Quartiere oder Bildanteile fehlen. Bilder von zu Ghettos heruntergekommenen New Yorker Vierteln werden nicht gezeigt, obwohl sie bis weit in die 1990er-Jahre medial präsent waren. Selbst das ,kriminelle‘ New York fehlt vollends, während es medial ansonsten weiter entwickelt wird.

Die zentrale politische Ikone New Yorks, die Freiheitsstatue, wird an die Peripherie gerückt – allerdings spielen die USA als Emigrationsziel für das Publikum der DuMont Hefte keine Rolle mehr. Mit der Kritik an der Hegemonialmacht USA wird das Bild des Horts von Freiheit und Offenheit immer weniger plausibel und verblasst.

Das schaut in dem 1970 erschienenen New-York-Heft des „Merian“ noch ganz anders aus: Auch hier fehlen schon die Standards der älteren USA-Reiseberichte: Nicht das pragmatische, befremdliche, unglaublich vitale Amerika ist hier Thema, sondern es sind gerade die politischen Brüche, die sich gerade am Beispiel New Yorks vorführen lassen. Geleitet wird dieses New-York-Bild nicht vom Hedonismus des möglichen Besuchers, sondern von der Perspektive des politisierten Beobachters. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die Menschenmassen, die diese Stadt bevölkern. Hermann Kesten überschreibt den einleitenden Text denn auch bezeichnend mit „Hundertfacher Turm zu Babel“. Die gigantischen Ausmaße der Stadt werden auch in den Fotostrecken immer wieder vorgeführt. Die Türme des World-Trade-Centers sind 1970 noch im Bau, 2013 fehlen sie naheliegenderweise.

Die Fotos der Riesenstadt New York stehen 1970 in einer offensichtlichen Spannung zu jenen Bildstrecken, die die bevölkerten Straßen zeigen – eines der wenigen menschenleeren Fotos zeigt die wohl wichtigste Verbindung zwischen dem „DuMont Bildatlas“- und dem „Merian“-Heft: die Brooklyn Bridge, fast in identischer Perspektive. Nur sind es 1970 ein paar wenige Spaziergänger, die die Brücke nutzen, während 2013 ein junger Mann über die Brücke in die Stadt joggt. Das Flat Iron-Building hingegen bildet 1970 den Hintergrund für eine Parade.

Die Slums, die Rassenschranken, die Drogenproblematik einerseits, die vielfältigen Chancen, die die Stadt bietet andererseits: Das Bild von 1970, das von seinerzeit prominenten Autoren wie – neben Hermann Kesten – Norman Mailer, Henry Miller, W. H. Auden, Anais Nin, Hans Sahl oder Uwe Johnson gezeichnet wird, hat eine andere Perspektive gezeigt als das von 2013. Auch wenn der „Merian“-Band die touristischen Interessen nicht völlig ignoriert, lehrt er doch auch, wie der Cocktail Manhattan zubereitet wird und hat auch ein paar Seiten New York auf einen Blick zu bieten – er partizipiert mehr und versucht mehr den Blick in die Tiefe der gesellschaftlichen Strukturen und die Vielzahl der Phänomene zu richten. Das aber geht dem späteren Band beinahe völlig ab.

Man mag das bedauern, verfehlt dabei jedoch, dass auch die USA-Ansichten der 1920er- und 1970er-Jahre jeweils ihrer Gegenwart und den gesellschaftlichen Interessen, aber auch Möglichkeiten geschuldet waren. Dass diese 2013 andere sind als 1970 oder 1925, ist eingängig genug. Auch zielt die kulturkritische Klage über den Verfall des öffentlichen Engagements an den Gründen und Ursachen für die Veränderungen vorbei.

Schließlich lässt sich an der hedonistischen Wende des Interesses an der Neuen Welt (wie an anderen) eben auch eine positive Entwicklung festmachen, die eng mit der Individualisierung und damit an der Befriedigung der persönlichen Interessen verbunden ist: Der Ballast der politisch motivierten Befremdlichkeiten verschwindet. Die Deutschen reisen nicht mehr in die Vorbildwelten jenseits des Ozeans, die für sie lehrreich sein können, sie werden auch nicht mehr mit jenen Extremwelten konfrontiert, an denen sie erkennen können, wohin die eigene Entwicklung gehen könnte. Sie reisen in andere Kulturen und Lebenswelten und versuchen sich ihnen als teilnehmende Genießer auf Zeit zu nähern. Und das scheint am Ende doch deutlich weniger konfliktträchtig zu sein, als das, was die Vergangenheit, auch der Reise, zu bieten hatte.

Literaturhinweise:

Merian. Das Monatsheft der Städte und Landschaften im Hofmann und Campe Verlag. (Hamburg) 12 (1970) H. 9: New York.

Titelbild

Thomas Jeier: New York. DuMont Bildatlas.
DuMont Reiseverlag, Köln 2013.
120 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-13: 9783770193356

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