Die singende Nation

Miriam Noa untersucht den Beitrag der volkstümlichen Musik zum deutschen Einigungsprozess im 19. Jahrhundert

Von Jesko ReilingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jesko Reiling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Miriam Noa hat sich in ihrer musiksoziologischen Studie „Volkstümlichkeit und Nationbuilding. Zum Einfluss der Musik auf den Einigungsprozess der deutschen Nation im 19. Jahrhundert“, die 2012 als Dissertation von der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde, einem epochalen Thema angenommen: der Entstehung des ‚modernen‘ deutschen Nationalstaates. Sie interessiert sich dabei insbesondere für den Beitrag der Musik an der Nation-Werdung; im Fokus steht der Aspekt der Volkstümlichkeit, konkret soll die Frage beantwortet werden, welchen Einfluss das musikalische „Interesse an der Volkstümlichkeit auf das deutsche Nationbuilding“ beziehungsweise auf den „Einigungsprozess der deutschen Nation“ hatte.

Diese Leitfrage ist sehr voraussetzungsreich und sie geht letztlich auch über das hinaus, was Noas Studie an Antworten leisten kann. Wenn es nämlich am Ende der Analyse heißt, dass die volkstümliche Musik in Form von Volksliedern einen „entscheidenden Anteil“ am „kulturellen Nationbuilding“ gehabt habe, so wird damit eine Einsicht formuliert, die dem Leser in dieser allgemeinen Fassung im Grunde schon vor der Lektüre bekannt war. Frage wie Antwort drohen in ihrer Vagheit den Blick auf den eigentlichen Erkenntnisgewinn zu verstellen. Die Verfasserin liefert vielmehr den eindrücklichen Nachweis, dass im 19. Jahrhundert Vorstellungen von Volkstümlichkeit, die sich in Begriffe wie Einfachheit, Naivität, Ursprünglichkeit und Reinheit weiter untergliedern, „jahrzehntelang tragfähig genug [waren], ästhetische Parameter in Musik und Literatur grundlegend zu beeinflussen“. Das bezieht sich nicht nur auf die ‚Pflege‘, die Sammlungen, Weitergaben und Neudichtungen der Volkslieder im engeren Sinne, sondern auch auf Werke, die man ansonsten zur Hochkultur rechnet, wie etwa Ludwig van Beethovens „Neunte Sinfonie“ oder Johannes Brahms „Ein deutsches Requiem“. Hier zeigt sich paradigmatisch, welche Wirkungskraft das ‚Volkstümliche‘ im 19. Jahrhundert auch in Bereichen hatte, wo man es eher nicht vermuten würde; dabei ist jedoch zu bedauern, dass Noa diesen Aspekt nicht ausführlicher oder gar systematischer ausbaut und darstellt.

Gleichwohl reiht sich die Studie in eine kulturwissenschaftlich orientierte 19. Jahrhundert-Forschung ein, die sich etwa auch in der Germanistik verstärkt ausbreitet und die herkömmliche Wertungs- und Ordnungskategorien wie zum Beispiel ‚niedere‘ oder ‚hohe‘ Kunst, mit denen man (auch) die kulturellen Erzeugnisse des 19. Jahrhunderts ansonsten gerne belegt, allmählich aufweicht.[1] Dass diese Neuperspektivierungen nicht bloß eine ‚Forschungsmode‘ darstellen, die eher der Profilierung des Wissenschaftlers dienen sollen, sondern sich aus der sorgfältigen Analyse des jeweils herangezogenen Quellenmaterials ergeben, zeigt sich auch bei Noa deutlich.

Während schon die berühmten Volksliedersammler Johann Gottfried Herder, Clemens Brentano und Achim von Arnim die Volkslieder gerade für ihre Einfachheit lobten und darin ein sie im positiven Sinne auszeichnendes Merkmal erkannten, so galt die darin begründete Popularität von Liedern auch den Komponisten und Musikkritikern im späteren 19. Jahrhundert als Qualitätszeugnis. Wilhelm Heinrich Riehl etwa kritisierte die Werke Richard Wagners, weil sie „meilenweit von der erstrebenswerten einfachen Form des Volksliedes entfernt“ waren. Für ihn, aber auch für seinen heute weit weniger bekannten Zeitgenossen Theodor Hagen, der unter anderem als Kritiker für Robert Schumanns „Neue Zeitschrift für Musik“ arbeitete, leisten Volkslieder deshalb einen immensen Beitrag zum (kulturellen) Nationbuilding, weil sie, so Riehl, aus dem „innersten Gemüthe unseres Volkes“ stammten und deshalb auf dieses selbst positiv zurückwirken konnten. Die auf Herders Überlegungen zur Volkspoesie und Friedrich Schillers Reflexion über die naive und sentimentalische Dichtung zurückgehende Auffassung, dass nur im Volk die wahre und ursprüngliche Poesie, die Natur- oder Volkspoesie, zu finden sei, war im 19. Jahrhundert weit verbreitet und beschränkte sich nicht nur auf die Musik. Auch in der Literatur, man denke etwa nur an die Märchensammlungen der Brüder Grimm, waren die verschiedenen Formen der Natur- oder Volkspoesie hoch geschätzt, für Berthold Auerbach, so lässt sich ergänzen, waren diese gar der Maßstab, nach denen er seine „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ einrichtete.[2] Dass sich diese tradierten ästhetisch-geschichtsphilosophischen Vorstellungen politisch und ideologisch ganz unterschiedlich füllen konnten, arbeitet Noa sorgfältig heraus: Während Hagen in seiner 1846 erschienenen Schrift „Civilisation und Musik“ ein regelrechtes musikästhetisches Nationalerziehungsprogramm von sozialistischem Zuschnitt entwickelt, möchte Riehl – deutlich konservativer – vor allem das Bürgertum stärken und befördern.

Noa sucht ihre (zu unspezifische) Leitfrage in drei Kapiteln zu beantworten. Im ersten geht es um die historischen Vorläufer im 18. Jahrhundert (Jean-Jacques Rousseau und Herder), die eine neue Perspektive auf das ‚Volk‘ eröffneten und damit auch dafür verantwortlich waren, dass die Volkspoesie insgesamt sowie die Volkslieder im Speziellen als ernst zu nehmende Kunstformen in Betracht kommen konnten. Im zweiten Kapitel werden verschiedene Volkspoesie-Sammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts vorgestellt, im dritten schließlich der Umgang von Franz Schubert, Ludwig van Beethoven, Robert Schumann und Johannes Brahms mit der volkstümlichen Musik erforscht. Diese Anordnung ist grundsätzlich nicht unschlüssig, überzeugt aber auch nicht ganz. Offenbar ist sie dem Versuch geschuldet, zunächst die theoretischen Reflexionen zur volkstümlichen Musik in historischer Perspektive aufzuzeigen, um dann konkrete Volkspoesie-Sammlungen zu präsentieren, bevor am Ende die großen Komponisten zu Wort kommen. Warum Herder mit seiner, wie auch Noa festhält, epochemachenden Volkslieder-Sammlung im ersten Abschnitt, aber nicht zusammen mit den ebenso epochalen Sammlungen, Rudolph Zacharis Beckers „Mildheimisches Liederbuch“, dem „Wunderhorn“ von von Arnim und Brentano sowie den verschiedenen Sammlungen der Brüder Grimm, im zweiten Kapitel behandelt wird, ist nicht recht ersichtlich.

Dieser Sachverhalt mag symptomatischen Charakter haben: Noa stellt zwar beeindruckend viel Material zusammen, dessen Kohärenz aber vielfach sehr locker ist. Merkwürdig inhaltlich wie argumentativ unverbunden mit den anderen Kapiteln ist etwa der zweite Teil des zweiten Kapitels, in dem Noa anhand einer empirischen Auswertung von 192 deutschsprachigen Gebrauchsliederbüchern einen Kanon an Volksliedern erstellt, die das ganze 19. Jahrhundert hindurch gesungen wurden. So sinnvoll ein empirischer Zugriff auch ist, so wenig ist er (leider) methodologisch reflektiert. Um nur einen Aspekt herauszugreifen: Die Auswertung führte zu einer „song cloud“ von 74 Volksliedern, die in der Zeit von 1806-1870 am meisten gesungen wurden. Davon streicht Noa 35 aus der Liste, weil sie lediglich punktuell gehäuft auftraten oder aber zu gruppenbezogen seien, um als Lieder für die gesamte Periode und alle Regionen gelten zu können. Von den übrig gebliebenen 39 Liedern werden 25 in den „erweiterten Kanon“ abgeschoben, weil sie nicht in der ganzen Zeitspanne gesungen wurden. Im Kanon der 14 respektive 12 ‚Hits‘ tauchen jedoch ebenfalls Lieder auf, die nicht in dem gesamten Zeitraum gedruckt wurden, unter anderem das erstplatzierte, das heißt das am häufigsten in der Periode aufgelegte Lied „Was ist des Deutschen Vaterlands?“ (erst von 1815 an). In zwei Fällen werden gar Lieder angeführt, die erstmals in Herders Sammlung zu finden sind, dann aber erst wieder von 1833 an abgedruckt wurden („Sah ein Knab ein Röslein steh’n“ sowie „Wenn ich ein Vöglein wär“). Warum dem gegenüber Lieder mit Erstdruckjahr 1818 nicht zum engeren Kanon gehören, bleibt ungeklärt. Insgesamt vergibt die Autorin hier relativ leichtfertig das Erkenntnispotential, das in der aufwendigen Bereitstellung des empirischen Materials eigentlich liegt. Und obwohl Noa konstatiert, dass sich circa alle 10-15 Jahre „das Repertoire in den Sammlungen“ ändere, bezieht sie diesen Sachverhalt in ihre Überlegungen nicht weiter mit ein, wenn sie gleichwohl einen festen Kanon an Liedern erarbeitet. Besonders misslich ist, dass die eigentlich interessierende Frage, wie diese Lieder zum Nationbuilding – ein Begriff übrigens, der angesichts seiner Wichtigkeit für die vorliegende Studie ebenfalls zu wenig reflektiert wird – konkret beitrugen, gar nicht mehr in den Blick gerät: War es das gemeinsame Singen, war es die Zusammenkunft in den Gesangvereinen oder vor allem der Inhalt der Lieder oder alles zusammen?

Obwohl Noas Studie methodologisch etwas wenig reflektiert ist und man ihr eine strengere konzeptionelle Ausrichtung wünschen würde, vermag sie den Nachweis zu erbringen, dass die volkstümliche Musik am kulturellen Nationbuilding im 19. Jahrhundert mitwirkte. Sie kann damit für weitere Forschungen, wie die deutsche Nation singend und musizierend zu sich fand, einen guten Ausgangspunkt bilden.

[1] Vgl. etwa Daniela Gretz (Hg.): Medialer Realismus. Freiburg 2011, Manuela Günter: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008 oder Rudolf Helmstetter: Die Geburt des Realismus aus dem Dunst des Familien­blattes. Fontane und die öffentlichkeitsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Poetischen Realismus. München 1997.

[2] Vgl. J. Reiling: Eine Literatur für alle. Auerbach und die Volkspoesie. In: ders. (Hg.): Berthold Auerbach (1812-1882). Werk und Wirkung. Heidelberg 2012, S. 97-120.

Titelbild

Miriam Noa: Volkstümlichkeit und Nationbuilding. Zum Einfluss der Musik auf den Einigungsprozess der deutschen Nation im 19. Jahrhundert.
Waxmann Verlag, Münster ; New York, NY ; München ; Berlin 2012.
374 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783830927303

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