Ein Leben für die Freiheit

Über Gerhardt Stengers „Diderot. Le combattant de la liberté“

Von Konstanze BaronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konstanze Baron

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich mit Denis Diderot beschäftigt, steht zwar vor einer Fülle von Literatur, die sich – den Gepflogenheiten der akademischen Disziplinen entsprechend – jedoch in der Regel mit einem Teilaspekt seines Werks beschäftigt. Selbst im Prinzip so gelungene Bücher wie Colas Duflos „Diderot philosophe“(Paris 2003), die den Anspruch haben, das Denken des Aufklärers in seinem systematischen Zusammenhang darzustellen, sehen sich gezwungen, ihrer Themenstellung gemäß eine Auswahl innerhalb des Diderot’schen Œuvres zu treffen. Eine solche ist jedoch überaus schwierig und wirkt sich meistens in irgendeiner Hinsicht nachteilig aus: Schließlich war der Handwerkersohn aus Langres in der Champagne eines der letzten ‚Universalgenies‘ Europas, der sich über Kunst und Theologie ebenso sachkundig zu äußern wusste wie über Mathematik und Physik, der das Theater seiner Zeit reformierte und in seinen literarischen Texten Formen erprobte, die uns heute geradezu als Vorwegnahme der ‚Postmoderne‘ anmuten; der mit der von ihm verantworteten „Encyclopédie“ kein geringeres Ziel verfolgte, als das gesamte Wissen seiner Zeit zu sammeln und in allgemeinverständlicher Form darzustellen, wofür er in mehr als 6.000 Artikeln persönlich die Feder führte.

Es ist daher ein rechtes Mammutprojekt, das sich Gerhardt Stenger vorgenommen hat, wenn er nun zum 300. Geburtstag von Diderot eine umfassende „biographie intellectuelle“ des Aufklärers vorlegt. Stenger ist, das muss man vorausschicken, prädestiniert für dieses Vorhaben: Er beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit Diderot und hat sich in vielen Fachdiskussionen als Experte ausgewiesen. Auf über 700 Seiten ist ihm nun eine Synthese gelungen, die nicht nur auf das Lebenswerk Diderots, sondern auch auf seine eigene langjährige Beschäftigung mit der französischen Aufklärung verweist. Das Buch ist nah dran am Stil seines Protagonisten: flott und teilnahmsvoll geschrieben, richtet es sich an den Diderot-Experten ebenso wie an eine Leserschaft, die wenige Vorkenntnisse im Bereich der Aufklärungsepoche mitbringt. Zahlreiche Querverweise zu anderen Größen der Zeit (Rousseau, Voltaire, Locke, Condillac etc.) vermitteln ein gutes Verständnis des historischen Kontextes; Parallelen zu neueren wissenschaftlichen Entwicklungen wie auch Beispiele aus der heutigen Kultur machen die Lektüre nicht nur anschaulicher, sondern unterstreichen auch die erstaunliche Modernität Diderots. Im Gegensatz zu diesem, der – im vollen Wissen um die Radikalität seiner Anschauungen – einen seiner Texte mit der Kautel ‚Piscis hic non est omnium‘ überschrieb, kann man daher feststellen: dieser Fisch ist für alle gut.

Das Genre der ‚intellektuellen Biographie‘ als solches ist ebenso reiz- wie anspruchsvoll: verlangt es doch, dass das Leben nicht weniger zur Geltung komme als die Gedankenwelt des behandelten Autors. Stenger wird dieser doppelten Herausforderung gerecht, indem er in chronologischer Abfolge die Kapitel seines Buchs jeweils einem bestimmten Aspekt oder Werk (gelegentlich auch Werkgruppen) Diderots widmet. In vier großen Blöcken (Naissance d’un philosophe – Die Geburt eines Philosophen; L’Encyclopédiste – Der Enzyklopädist; Le Bon, le Vrai et le BeauDas Gute, das Wahre und das Schöne – sowie Le Bourgeois révolutionnaire– Der revolutionäre Bourgeois) werden Lebensphasen Diderots thematisch gebündelt. Die einzelnen Kapitel liefern neben der inhaltlichen Darstellung auch Hintergründe zu einem bestimmten Werk und dessen ideengeschichtlichen Voraussetzungen. So sind synthetisierende Übersichten ebenso möglich wie detaillierte Textanalysen, in denen einzelne Passagen fast schon akribisch unter die Lupe genommen werden. Die gelegentliche Einbeziehung der Forschungsliteratur sorgt auch hier für eine solide akademische Unterfütterung, ohne die Lektüre zu überfrachten. Dass die Zusammenschau von ‚Leben und Werk‘ gerade bei Diderot besonders fruchtbar ist, zeigt sich unter anderem daran, wie sehr dessen literarische Produktion von bestimmten Kontakten und sozialen Konstellationen geprägt war: Das gilt für die Zusammenarbeit mit dem Mathematiker und Co-Herausgeber der „Encyclopédie“ d’Alembert ebenso wie für die Freunde Grimm und Naigeon oder den Zirkel des Baron d’Holbach, in dem Diderot gewissermaßen zu Hause war; auch die Freundschaft und der Bruch mit Rousseau sowie die langjährige außereheliche Beziehung zu Sophie Volland haben ihre Spuren in Diderots Schaffen hinterlassen.

Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach einem übergreifenden Interpretationsmodell. Was ist das für ein Bild Diderots, das dieses Buch entwirft? Wie stellt sich Stengers Diderot dar? Der Untertitel des Buches lautet „Le combattant de la liberté“ (Der Kämpfer der Freiheit) und benennt damit ein allgemein-aufklärerisches Muster. Andere Bezeichnung aus dem Vorwort („le plus grand philosophe français du 18e siècle“ – der größte französische Philosoph des 18. Jahrhunderts –, „l’esprit le plus universel de son temps“ – der universellste Geist seiner Zeit –, „notre compagnon du 21e siècle“ – unser Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts) sind noch weniger aussagekräftig. Nun kann sicherlich kein Zweifel daran bestehen, dass Diderot ein Vorreiter für Freiheit und Selbstbestimmung war – in seinem Leben wie auch in seinen Werken. Aber das unterscheidet ihn nicht grundlegend von seinen Mitstreitern. Das Besondere an Diderot ist vielmehr die ungelöste Spannung, in der sein politisch-moralisches Engagement zu seinen philosophischen Einsichten steht, die sich durch einen radikalen Materialismus auszeichnen. Die Diderot-Forschung hat hier schnell ein persönliches „Dilemma“ konstatiert (Carl Becker). Dieser Diagnose muss man nicht unbedingt folgen, um gleichwohl festzustellen, dass Diderots Verhältnis zur Idee der Freiheit wesentlich komplexer, daher vielleicht auch wesentlich ehrlicher und aufregender war als das vieler seiner Zeitgenossen. Und das nicht obwohl, sondern gerade weil er die damit verbundenen Probleme ganz lebenspraktisch und gewissermaßen ‚am eigenen Leib‘ erfahren und ausgetragen hat.

Stengers Buch gibt sich in Fragen einer übergreifenden Interpretation eher zurückhaltend. Das traditionelle Bild vom innerlich zerrissenen, schillernden Diderot, das gerne propagiert wird, das aber in mancherlei Hinsicht auch ein Ausdruck entweder von Hilflosigkeit oder einer gewissen Romantisierung auf Seiten der Interpreten sein mag, findet sich hier jedenfalls nicht wieder. Es wird vielmehr abgelöst durch eine evolutionäre Perspektive: Diderot, so zeigt Stenger, wird im Laufe seines Lebens immer entschiedener in seinem Einsatz für die Freiheit, während er zugleich den abstrakt- mechanistischen Materialismus seiner Freunde kritisch zu hinterfragen beginnt. Als einschneidendes Erlebnis muss hier die – im Ergebnis frustrierende – Zusammenarbeit mit der Zarin Katharina der Großen von Russland gelten. Danach rechnet Diderot in verschiedenen Schriften mit dem Despotismus ab, bevor er sich in seinem letzten großen Essay über Seneca nicht nur abschließend zu moralischen Fragen äußert, sondern auch ein dezidiert politisches Zeichen setzt. So wird er zu einem Vorläufer der Revolution, die ihn selbst nie unter ihre Väter gezählt hat. Für den heutigen Leser hingegen wird ersichtlich, wie wenig selbstverständlich nicht nur die Freiheit selbst, sondern auch das Reden darüber bzw. die Frage nach ihrer angemessenen Darstellung im 18. Jahrhundert war. Am Beispiel Diderots zeigt sich, dass die Freiheit der Aufklärung weder eine einfache Gegebenheit, noch (wie man im Hinblick auf die Philosophie Immanuel Kants vielleicht meinen könnte) ein moralisches Postulat war, sondern eine echte Errungenschaft – eine Errungenschaft, die in diesem Fall die Erfahrungen und Erkenntnisse eines ganzen Lebens in sich verdichtet.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Gerhardt Stenger: Diderot. Le combattant de la liberté.
Librairie Académique Perrin, Paris 2013.
800 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9782262036331

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