Die pharmazeutische Wirkung von Literatur

Diderots Urteile über die Romanlektüre

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Als Friedrich Schlegel 1800 in seiner Zeitschrift „Athenäum“ einen „Brief über den Roman“ veröffentlichte, der als „kritische Epistel“ deklariert und an eine junge Dame namens Amalia adressiert war, fanden sich darin einige Leseempfehlungen zu literarischen Neuerscheinungen. Der Brief, so erfahren wir, sei die Verlängerung eines geselligen Gesprächs, das der Verfasser am Vorabend mit Amalia geführt habe und in dessen Verlauf es zu Meinungsverschiedenheiten im Blick auf die literarischen Qualitäten einiger Produkte der neueren Literatur gekommen sei. Der Streit zwischen Amalia und dem Briefschreiber habe sich an der Bewertung der Romane Friedrich Richters entzündet, also des Autors, der vor allem als Jean Paul bekannt ist und dessen 250. Geburtstag wir 2013 begehen konnten. Amalia habe behauptet, Jean Pauls Romane seien gar keine, sondern bloß „ein buntes Allerlei von kränklichem Witz“. Diesen Vorwurf nimmt der Briefschreiber auf, wendet ihn aber in ein positives Urteil: Das „bunte Allerlei“ gebe er zu, aber er „nehme es in Schutz und behaupte dreist, dass solche Grotesken und Bekenntnisse noch die einzigen romantischen Erzeugnisse unseres unromantischen Zeitalters“ seien. Er wirft Amalia im Folgenden vor, dass sie ihre Zeit mit der Lektüre sentimentaler Romane vergeude und sich zu wenig aus Literatur mache, in der der Witz vorherrsche. Als Gegengift empfiehlt er der jungen Dame die Lektüre von Laurence Sternes Romanen – also eines weiteren Autors, dessen 300. Geburtstag wir 2013 feiern können –, die einen Kompromiss zwischen Sentimentalität und Witz bildeten. Wenn sich Amalia jedoch an einen Text heranwagen wollte, der in der Tradition Sternes stehe, ohne empfindsam-sentimental zu sein und der sogar „das Unglück oder das Glück“ habe, „ein wenig verschrien zu sein“, dann würde er ihr „Diderots Fataliste“ empfehlen. Amalia werde „die Fülle des Witzes hier ganz rein finden von sentimentalen Beimischungen“. Für Schlegel ist Diderots Roman deshalb das reine Gegengift gegen die Überdosis sentimentaler Lektüren, an der sich die empfindsame Amalia ihren literarischen Geschmack verdorben hatte. Aber hätte Diderot selbst der jungen Dame dazu geraten, seinen Jacques zu lesen?

Zunächst ist an der Zusammenstellung von Sterne, Jean Paul und Diderot im Schlegelschen „Brief über den Roman“ bemerkenswert, dass aus der Perspektive von 1800 der 1784 verstorbene Diderot der unbekannteste und gleichzeitig der neueste Romanautor unter den drei genannten war. Während Sternes „Tristram Shandy“ (englisch 1759–1767) ab 1774 in deutscher Übersetzung vorlag und seine „Sentimental Journey Through France and Italy“ sogar schon im Jahr des Erscheinens des englischen Originals, 1768, ins Deutsche übersetzt worden war, und während Amalia von Jean Paul bis 1800 immerhin „Die unsichtbare Loge“ (1793), den „Hesperus“ (1795), das „Leben des Quintus Fixlein“ (1796) und den „Siebenkäs“ (1796) hätte lesen können, kannte man von Diderots Romanen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, wenn man von dem skandalumwitterten Frühwerk der „Indiskreten Kleinode“ (1748) absieht, erst seit 1796 „Die Nonne“ (vgl. die Rezension des Films von Dominik Rose in literaturkritik.de 12/2013) und eben „Jacques le fataliste“, dessen Lektüre der Verfasser des Romanbriefs Amalia so nachdrücklich empfiehlt.

Diderot hatte einige seiner aus heutiger Sicht bedeutendsten Texte entweder für die Schublade oder für die lukrative, aber sehr exklusive Publikation in der von seinem Freund Friedrich Melchior Grimm herausgegebenen „Correspondance littéraire“ geschrieben, die handschriftlich vervielfältigt und nur an etwa 20 hochadlige Empfänger in ganz Europa per Diplomatenpost versendet wurde (vgl. Caroline Mannweiler: Diderot: Unerschöpflich aktuell. Zum 300. Geburtstag des französischen Philosophen). Nachdem Diderot 1749 unter der Anklage des Atheismus mehrere Monate im Gefängnis hatte verbringen müssen, hatte er sich selbst größte Vorsicht im Umgang mit der Zensur auferlegt, ab 1750 auch und vor allem, um das Großprojekt der „Encyclopédie“, deren Leitung er in dem Jahr übernommen hatte, nicht zu gefährden.

Das Bild, das sich das europäische Publikum, das nicht zu den wenigen privilegierten Lesern der „Correspondance littéraire“ gehörte, bis zu Diderots Tod vom Werk des Philosophen machen konnte, war unter literarästhetischem Aspekt eher das eines sensibel-empfindsamen Autors, der rührselige bürgerliche Dramen wie den „Fils naturel“ („Der natürliche Sohn“, 1757) und den „Pére de famille“ („Der Familienvater“, 1758) verfasste oder erbauliche moralische Erzählungen wie die „Deux amis de Bourbonne“ („Die zwei Freunde von Bourbonne“) oder den „Entretien d’un père avec ses enfants“ („Gespräch eines Vaters mit seinen Kindern“). Der moralisierende Aspekt dieser beiden 1770 entstandenen Erzählungen wurde noch dadurch betont, dass sie 1772 zuerst in einer deutschen Übersetzung des Schweizer Idyllendichters Salomon Gessner gemeinsam mit dessen Idyllen erschienen und dann 1773 in derselben Kombination in einer französischsprachigen Ausgabe.

Ansonsten war Diderot europaweit vor allem als der Herausgeber der „Encyclopédie“ bekannt, der zu theologisch und philosophisch bedenklichen, materialistischen Positionen neigte, sich mit offen anstößigen Publikationen seit seinem Gefängnisaufenthalt aber zurückhielt. Außerdem kannte man von ihm seit 1762 eine begeisterte Lobeshymne auf Samuel Richardson, den berühmten Verfasser sentimentaler Briefromane wie „Pamela“ (1740), „Clarissa“ (1748) und „Sir Charles Grandison“ (1753–1754). Aber war das nur Tarnung für die klandestinen Meisterwerke, die er gleichzeitig oder wenig später in Angriff nahm? An der „Religieuse“ („Die Nonne“) arbeitete er vermutlich ab 1760,am „Neveu de Rameau“ („Rameaus Neffe“) ab 1761, an „Jacques le fataliste“ ab 1765. Für welches Publikum hatte Diderot diese Texte bestimmt, die er zu Lebzeiten gar nicht (wie den „Neveu“) oder nur für den beschränkten Leserkreis von Grimms „Correspondance littéraire“ zugänglich machte?

In einem Brief an seine Tochter teilte der alte Diderot 1781 ein Lektürerezept mit, das er seiner trübsinnigen Frau verordnet habe, um sie wieder aufzumuntern. Er verabreiche ihr jeden Tag drei Prisen des „Gil Blas“, des ab 1715 erschienenen Schelmenromans von Alain-René Lesage. Wenn diese Medizin aufgebraucht sei, wolle er sie mit Lesages weiteren humoristischen Werken kurieren. Diderot hält diese Methode für so aussichtsreich, behauptet er gegenüber seiner Tochter, dass er seinem Bekannten, dem berühmten Arzt Tronchin, ähnliche Rezepte empfehlen wolle, da auf diese Weise die Romane, die ihm als Gattung insgesamt bislang als „frivol“ erschienen seien, endlich einen sinnvollen Zweck erfüllen könnten: „Ich habe Romane immer als ziemlich frivole Produktionen betrachtet; endlich habe ich entdeckt, dass sie gut gegen weibliche Verstimmungen sind“ („J’avais toujours traité les romans comme des productions assez frivoles; j’ai enfin découvert qu’ils étaient bons pour les vapeurs“).

In dem Rezept, das er für Tronchin entwirft, will er dann acht bis zehn Seiten von Paul Scarrons „Roman comique“(1651–57) über die komischen Abenteuern einer Schauspieltruppe, vier Seiten aus dem „Don Quijote“ und einen „gut ausgewählten Absatz“ aus Rabelais vermischen und das alles zusammen in einer „vernünftigen Dosis“ seines eigenen „Jacques le fataliste“ oder in der „Manon Lescaut“ des Abbé Prevost auflösen („faites infuser le tout dans une quantité raisonnable de Jacques le fataliste ou de Manon Lescaut“).

Um die spezifische „Frivolität“ der von Diderot zu einem Rezept zusammengerührten Texte zu erkennen, muss man nach deren strukturellen Gemeinsamkeiten suchen. Der rührselige Roman des Abbé Prevost (die siebenbändige „Geschichte des Chevalier des Grieux“und der „Manon Lescaut“,1728–1731), ist sicher nicht frivol im moralischen Sinn, sondern ist es aus Diderots Sicht durch sein kompositorisches Prinzip, das ihn mit allen anderen in den Rezepten genannten Texten verbindet, nämlich in seiner Eigenschaft als episodenhafter Abenteuerroman.

So ist es auch zu verstehen, wenn der Erzähler in „Jacques le fataliste“ nach der Skizze eines potentiellen Handlungsverlaufs, der von Zufällen und Unwahrscheinlichkeiten geprägt gewesen wäre, einen anderen sentimentalen Prévost-Roman als negatives Beispiel wählt: „[…] das hätte allzusehr nach dem Cleveland gestunken“. Genau dieses Konstruktionsprinzip treibt Diderots „Jacques“ auf die Spitze, indem er ständig die vollkommene Beliebigkeit und Zufälligkeit der Abfolge der erzählten Abenteuer thematisiert. Das Rezept gegen Trübsinnigkeit beruht also auf der Wirkung der Episodenstruktur, die künstlich immer wieder neue Spannungsmomente aufbaut und vor allem dadurch eine zerstreuende Lektüre bietet.

Man darf deshalb bezweifeln, dass Diderot sich seine eigenen Romane als Lesestoff für ein großes Publikum vorstellen konnte. Seine Erfahrung der Lektüre von Richardsons sentimentalen Romanen in der Originalfassung hatte ihn sogar dazu geführt, dass er in seiner 1760 verfassten und 1762 erschienenen „Eloge auf Richardson“ für diese Texte eine neue Gattungsbezeichnung forderte, da ihm der Begriff des Romans dafür zu negativ vorbelastet schien. Unter Romanen habe man bis zu Richardsons Auftreten immer ein „schimärisches und frivoles Gespinst von Ereignissen“ verstanden, dessen Lektüre „gefährlich für den Geschmack und für die Sitten“ gewesen sei. Man müsse daher für Richardsons Werk eine neue Bezeichnung finden, da die Werke des Engländers „den Geist erheben, die Seele berühren, an allen Stellen die Liebe zum Guten atmen“ und dennoch Romane genannt werden. Richardsons Romane leisteten damit genau das, was Diderot sich von seinen eigenen bürgerlichen Dramen von 1757 und 1758 versprochen hatte, mit dem erheblichen Unterschied, dass „Pamela“, „Clarissa“ und „Sir Charles Grandison“ ein wesentlich größeres und anhaltend begeistertes Publikum fanden. In Richardsons Romanen werde dem Leser die Tugend in Aktion vor Augen gestellt, und da man sich bei der Lektüre stärker mit den Personen identifiziere als beim Betrachten eines Bühnenstücks, sei die Wirkung der episodenarmen, aber tränenreichen Texte des Engländers gar nicht hoch genug zu preisen.

Mit der „Religieuse“, die Diderot 1760 zu schreiben begann, während er an seinem Lob auf Richardson schrieb, versuchte er offensichtlich einen ähnlich finster-rührseligen Roman zu verfassen wie Richardsons „Clarissa“, doch war die Kirchenkritik in Diderots Text so scharf formuliert, dass eine Publikation in Buchform ausgeschlossen war und er seine Klostergeschichte erst ab 1780 in der „Correspondance littéraire“ als Fortsetzungsroman erscheinen ließ, nachdem er Grimms hochadligem Leserkreis dort zwischen 1778 und 1780 bereits „Jacques le fataliste“ präsentiert hatte. Einem solchen Publikum konnte man offenbar auch frivole Lektüren zumuten, die selbst für übellaunige bürgerliche Ehefrauen nur in kleinen Dosen verdaulich gewesen wären. Dass Diderot seinen eigenen Roman aber sentimentalen jungen Damen wie Schlegels Amalia empfohlen hätte, kann man mit großer Sicherheit ausschließen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz