Es geht wieder mal um alles

Das neue Album „Reflektor“ ist eine gute Gelegenheit, die lyrischen Qualitäten der Band Arcade Fire etwas genauer unter die Lupe zu nehmen

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Seltsame Symbole tauchen plötzlich an zentralen Orten in den Metropolen der Welt auf: Ein Kreis, darin ein Quadrat, dieses aufgeteilt in kleinere Quadrate, in denen ein Buchstabe steht. Mit etwas Phantasie konnte man das Wort lösen, das da am Kolosseum von Rom, an der Fifth Avenue in New York oder sonstwo auf der Welt an Wände gesprüht war: REFLEKTOR.

Da im Internetzeitalter nichts lange geheim bleibt, war das Rätsel nach kurzer Zeit gelöst. Ein Sprayer hatte angeblich ausgeplaudert, im Auftrag der Band Arcade Fire zu handeln, die ihr neues Album gleichen Titels bewerben wolle. Prompt tauchten unter den Symbolen plötzlich Zahlen auf. Diese wiederum, wieder ein viel zu schnell gelöstes Geheimnis, verwiesen auf den Veröffentlichungstag und -uhrzeit der ersten Single, dem Titelsong, im Internet. Wenige Tage darauf konnte man sich das Covermotiv betrachten und spätestens jetzt war klar: Bei Arcade Fire geht es wieder mal um alles. Gezeigt wurde ein Ausschnitt von Auguste Rodins Skulptur „Orpheus und Eurydike“, eingerahmt von einem grellen Disco-Silber. Womit eigentlich schon fast gesagt war, was einen erwartete.

Gerade in der amerikanischen Presse war im Vorfeld wiederholt zu lesen, was für ein relativ schwacher Texter Arcade Fire-Sänger Win Butler doch sei. Diese haarsträubende Behauptung darf indes nicht als Beleidigung gewertet werden, sondern zeigt vielmehr den kulturellen Stellenwert, den sich die kanadische Band mittlerweile erarbeitet hat. „Schwach“ im Vergleich zu wem? Zu T.S. Eliot? Zu Bob Dylan? Oder zu Justin Bieber? Tatsache ist, dass es Butler auf den Debütalbum „Funeral“ und dem dritten Werk „The Suburbs“ gelungen ist, Textzyklen zu schreiben, die sich nicht nur von der üblichen Pop-Lyrik abheben, sondern gerade aufgrund des konzeptionellen, dabei aber stets unkonventionellen Denkens Butlers erheblich aus dem Rahmen fallen.

Den Kern von „Funeral“ bildet der mehrteilige Zyklus „Neighbourhood“, der mit einem Bild beginnt, das, inspiriert von surrealen Kinderbüchern wie Maurice Sendaks „Where The Wild Things Are“, die Frage nach der Authentizität von Erinnerung aufbringt, wenn diese von einem traumatischen Moment ausgelöst wird. Zwei befreundete Kinder graben jeweils einen Tunnel, der ihre Zimmer verbinden soll, sie treffen sich jedoch in der Mitte, verlassen den Tunnel, lassen ihre Haare wachsen, um sich so vor der Kälte zu schützen. Und dann vergehen viele Jahre dort in der Kälte, so dass sie sich plötzlich dunkel an Schlafzimmer erinnern, dann an das Schlafzimmer der Eltern und sich daraufhin fragen: Was ist wohl aus ihnen geworden? Auslöser der Texte von „Funeral“ waren mehrere Todesfälle in der Familie von Bandmitgliedern. Trauerarbeit nimmt bei Butler aber immer den Umweg über das surreale, das jedoch stets melancholisch getränkt ist und somit die Funktion der Popmusik nicht verfehlt, die Affekte des Publikums anzusprechen. Vielleicht rührt die Kritik an seinen Texten aus der manchmal rührigen Melancholie, die im starken Kontrast zu seinem schrill beißenden Gesang steht. Vielleicht kam das zweite Album der Band, das textlich wie musikalisch etwas redundante und richtungslose „Neon Bible“, deswegen so gut bei den Kritikern an.

Dabei hatte Butler wahrscheinlich nur Kräfte gesammelt für „The Suburbs“, das dritte Album von Arcade Fire und, zumindest in Teilen, eine der lyrisch interessantesten Platten der jüngeren Rockgeschichte. Wieder einmal geht es um Erinnerung: Im Mittelpunkt steht der (typisch amerikanische) Vorort als sich ständig wandelnder Raum ohne Mitte. Butler bemüht hierbei vermehrt die Metapher der „Wucherung“ („The Sprawl“), mit der er die Beschaffenheit eines Ortes beschreibt, an den er sich erinnern möchte, der jedoch aufgrund seines Status als Nicht-Ort (im Sinne Augés) oder gar als Junk-Space (im Sinne Koolhaas‘) niemals greifbar wird. An die Stelle des Ortes tritt nun kraft der Erinnerung die Phantasie, welche jener Erinnerung ein falsifizierendes, gar märchenhaftes Gewand überstülpt. Am eindringlichsten wird dies im Bild des „Suburban War“, des Vorortskrieges, verdeutlicht, an den sich das lyrische Ich immer zu erinnern glaubt, der aber letztlich nur die Fiktionalisierung gebrochener Freundschaften ist. Am Ende, in „The Sprawl pt. 1“ fährt er mit seiner Frau durch „diese Orte, die nur dafür gebaut wurden, um sich zu ändern“, er findet trotz großer Bemühungen das Haus nicht mehr, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Gleichzeitig, und nicht explizit markiert im Text, projiziert er eine Erinnerung an eine Kindheitsepisode über diese in der Jetztzeit stattfindende Fahrt: Ein Polizist hält nachts die fahrradfahrenden Kinder an und fragt sie, ob sie denn wüssten wie spät es sei. Seine Frage: „Wo wohnt ihr denn“, beantwortet indes wieder der erwachsene Heimatlose in der Gegenwart: „Wenn Sie nur wüssten, was die Antwort mir wert ist. Ich habe schon überall auf der Erde danach gesucht.“ Die Erinnerung setzt in dem Moment ein, als ein Autolicht auf den Reflektor des Fahrrads trifft. Womit wir beim neuen Album wären.

Ein Kritiker merkte in einer der ersten Rezensionen an, auf dem ersten Album sei es um Trauer, auf dem zweiten um Religion, auf dem dritten um Erinnerung gegangen und auf „Reflektor“ gehe es einfach mal um alles. In der Tat ist es schwierig, das Album thematisch einzuordnen; einerseits wirken die Texte unzusammenhängend, autonom. Andererseits passt dies wenig zu einer Band, die schon immer in Konzepten gedacht hat, die besagte Rodin-Skulptur als Cover präsentiert und die zudem die zwei zentralen Songs des Albums mit den Untertiteln „Oh Orpheus“ und „Oh Eurydice“ versieht. Fest steht, dass das Bild des Reflektors sich wie ein roter Faden durch das Album zieht, aber keinen rechten Sinn ergeben will. Müssen wir also Win Butler glauben, wenn er im Titelsong feststellt: „I thought I’d found a connector…it was just a reflektor.“ Tatsächlich kann dieser das Album eröffnende Track als Prolog gesehen werden, welcher die Themen, Motive und Metaphern der folgenden 14 Songs in gebündelter Form darstellt. Da hilft es, dass die sehr Disco-lastige Produktion des Songs von James Murphy die oben zitierte Zeile wie ein Mantra inszeniert.

Doch worum geht es? Schwer zu sagen. Es scheint, als ob Butler die Geschichte von Orpheus und Eurydike mit Platons Höhlengleichnis verbindet und diese Melange in den Kontext sozialer Netzwerke stellt: „We fell in love when I was nineteen / and now we’re staring at a screen“ folgt auf Sätze wie „Trapped in a prison, a prism of light / Alone in the darkness, darkness of white“. Jeglicher „Zugang“, den das lyrische Ich zu finden glaubt, entpuppt sich als ‚Reflektor‘, der immer nur wieder auf ihn selbst verweist. Am Ende heißt es: „It’s just a reflection of a reflection of a reflection / But I see you on the other side?” Der Song ist ein endloser Versuch, diesen Spiegel zu durchdringen, der jedoch niemals von Erfolg gekrönt sein wird.

Die Verbindung (die das lyrische Ich ja bereits im ersten Song sucht, und die sich ebenfalls lediglich als Spiegel erweist) zwischen den Songs ist nicht so klar wie auf den vorangegangenen Alben der Band. „We Exist“ beschreibt das Dasein des Erzählers als Unsichtbarer, von dessen Existenz die Welt nichts wissen möchte. Wie zur Selbstbestätigung wiederholt er, wieder wie ein Mantra, die Worte „But we exist! We exist!“. Im nur aus wenigen Zeilen Text bestehenden, gespenstischen „Flashbulb Eyes“ fragt sich das lyrische Ich besorgt immer wieder: „Was, wenn eine Kamera einem doch die Seele raubt?“. Im ersten der beiden Orpheus/Eurydike-Songs, „Awful Sound (Of Eurydice)“ berichtet es in Gestalt des Orpheus darüber, wie es seine Eurydike kennenlernte, bevor jenes „furchtbare Geräusch“ alles übertönte. Immer wieder kreist es um eine Geschichte, doch jede Möglichkeit der Konkretisierung wird durch die erneute Reverenz auf das mysteriöse „furchtbare Geräusch“ unterminiert. Im zweiten Song „It’s Never Over (Oh Orpheus)“ ermahnt Eurydike ihren Orpheus, sich nicht umzudrehen, bis alles vorbei sei, doch Orpheus weiß: „Es ist niemals vorbei“. Und wieder das Leitmotiv: „We stood beside / A frozen sea / I saw you out / In front of me / Reflected light“.

Im letzten Song, “Supersymmetrie”, verstummt die fast durchgängig hyperaktive, discoartige (und leider etwas nervige) Musik. Ein leiser Summton, und das lyrische Ich berichtet davon, ein ganzes Jahr im Bett verbracht zu haben, Bücher lesend, da diese immer besser als Erinnerungen seien. Und dann erinnert er sich doch: „It’s been a while since I’ve been to see you / I don’t know where, but you’re not with me / Heard a voice, like an echo / But it came from you“. Die letzten Zeilen weisen den Weg aus dem sich selbst limitierenden System der Reflektionen hin zu jenem lang ersehnten Durchbruch: Er hört eine Stimme, die immer noch wie ein Echo klingt, aber es ist kein Echo. Dieses Mal ist es eine Antwort. Man könnte fast zu der Annahme verleitet werden, auf „Reflektor“ ginge es um das ganz große Thema, die Liebe.

Arcade Fire
„Reflektor“
(Vertigo Berlin / Universal)

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz