Ein Konzert in verschiedenen Stimmen

Ein faszinierendes Panorama des Briefschreibers Arno Schmidt

Von Stephan KraftRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Kraft

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht neigt man dazu, in Menschen, die im persönlichen Umgang als eher ‚schwierig‘ gelten, auch keine großen Briefeschreiber zu vermuten. Dies war etwa lange Zeit beim vermeintlichen Monologkünstler Gottfried Benn der Fall, der sich aber dann, als seine Briefe nach und nach veröffentlicht wurden, gerade in der schriftlichen Distanzkommunikation als wahrer Virtuose entpuppt hat. Eine ganz ähnliche Situation – so wird spätestens mit dem vorliegenden Band deutlich – liegt bei Arno Schmidt vor. Auch er vermag in diesem Genre durchaus und vielleicht ebenso unerwartet zu brillieren. Und auch bei ihm ist eine scharfe Grenzziehung zwischen Brief und literarischem Werk eigentlich unmöglich.

Die Herausgeber Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach von der Arno Schmidt Stiftung haben nun insgesamt 160 Briefe des Autors versammelt, die den langen Zeitraum von 1935 bis wenige Wochen vor Schmidts Tod im Jahr 1979 umfassen. Die erste Sendung ist an den Jugendfreund Heinz Jerowsky adressiert und damit Teil eines Briefwechsels, in dem Schmidt sein Schreiben eigentlich erst erprobte und entwickelte, wie auch schon sein Biograf Wolfgang Martynkewicz bemerkt hat. Allein der jugendlich-schwärmerische Ton des gerade einmal 21-Jährigen spricht hier Bände: „Auch ich, Enrico, war in Arkadien geboren, und laufe nun in harten Schuhen umher“. Der letzte der Briefe geht im Frühjahr 1979 an Jan Philipp Reemtsma, der zwei Jahre zuvor in Schmidts Leben getreten war und der mit seiner mäzenatischen Unterstützung zu einer zentralen Figur für die letzten Jahre und dann vor allem für das Nachleben dieses Autors wurde. Berichtet wird davon, wie sehr der mit dem überlassenen Geld errichtete Archivbau Schmidt die Arbeit erleichtert habe. Aber gleichwohl: „Mir gings und geht’s in den letzten Monaten nicht zum besten – denn ein langes Buch ist schwerste Schwerarbeit!“ Den Roman, an dem er hier gerade sitzt, „Julia, oder die Gemälde“, wird Schmidt dann auch nicht mehr vollenden.

Zwischen diesen beiden Eckpunkten liegen Briefe an Kollegen, an Verleger, an Behörden, an Freunde, an die Familie und – man mag es kaum glauben – sogar einige wenige an Leser. Ausgewählt wurden sie aus bereits veröffentlichten Briefen und zudem aus nicht weniger als zwölf Leitzordnern mit der weiteren Korrespondenz von Arno Schmidt und seiner Frau Alice. Der Briefwechsel mit Schmidts Hauptverleger Ernst Krawehl, der der Empfänger von immerhin einem Zehntel der hier abgedruckten Schreiben ist, füllt zudem allein für sich genommen nach Auskunft der Arno Schmidt Stiftung weitere sechzehn derartige Ordner.

Aus diesem Brief- und Textgebirge haben die Herausgeber also nun eine schlanke und dabei geradezu durchkomponiert wirkende Auswahl destilliert. Trotz ihres vergleichsweise geringen Umfangs leistet sie eine ganze Reihe von Dingen zugleich: Sie ist nicht nur in ihrem Abwechslungsreichtum höchst unterhaltsam, sondern bietet auch eine kleine Biografie in Briefen und stellt nicht zuletzt ein Konzert in den verschiedensten Stimmen dar, über die Arno Schmidt in diesem Medium verfügt. Darunter sind natürlich die des knarzigen Solipsisten, die eher abwehrend als einladend wirkt, sowie die des hart und detailreich mit seinen Geschäftspartnern verhandelnden freien Autors. Es finden sich aber auch weniger erwartete – so die des Mentors, der etwa einen Hans Wollschläger in das Geschäft des literarischen Übersetzens und vor allem der Organisation und Vermarktung dieser Tätigkeit einführt, oder die des Sohnes, der der Mutter über den jahreszeitlichen Zustand des Bargfelder Gartens berichtet.

Dazwischen erscheinen immer wieder wahre Skurrilitäten, wie etwa ein Brief aus dem Februar 1957 an den Knaur-Verlag, in dem Schmidt detaillierte Vorschläge unterbreitet, wie man die Einträge in dessen einbändigem Konversationslexikon vielleicht doch noch etwas weiter kürzen könnte – etwa indem man statt des waagerechten Bruchstrichs einen schrägen einführte oder indem man hier und dort den bestimmten Artikel wegließe. Was würden sich hier für Möglichkeiten ergeben, doch noch das eine oder andere Lemma mehr unterzubringen!

Ebenfalls wunderbar sind allerlei kleine Perspektivverschiebungen zu beobachten. Beispielhaft betrachte man hier etwa das Spiel von Parallelen und Differenzen in den beiden Beschreibungen der Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag Schmidts am 18. Januar 1964, die kurz darauf an Wilhelm Michels respektive Hans Wollschläger gingen.

Der Band ist – wie alle zuletzt von der Arno Schmidt Stiftung vorgelegten Editionen – vorzüglich gestaltet und von Friedrich Forssmann gewohnt superb gesetzt. Jeder Brief wird in direktem Anschluss an seinen Abdruck kurz in seiner Materialität beschrieben, wobei man zuverlässig erfährt, ob es sich um einen Originalbrief, um einen bei den Schmidts zurückbehaltenen Durchschlag oder nur um einen Entwurf handelt. Anschließend daran wird jedes Schreiben inhaltlich knapp kommentiert. Am Ende des Bandes finden sich dann noch ein Adressaten-, ein Werk-, ein Verlags- und ein allgemeines Personenregister.

Angesichts einer solchen großen editorischen Sorgfalt fällt nun aber doch eine Sache etwas seltsam auf: Über den Status des Bandes insgesamt, der durchaus bemerkenswert ist, erhält man nämlich irritierend wenig Auskunft. Schließlich sind längst nicht alle der hier versammelten Briefe Erstdrucke. Geschätzt die Hälfte ist, wie bereits angedeutet, früheren Editionen von Briefwechseln etwa mit Alfred Andersch, Eberhard Schlotter oder Wilhelm Michels entnommen. Während deren Existenz dem einen oder anderen noch bekannt sein mag, wird außerhalb des harten Kerns der Spezialisten kaum noch jemand wissen, dass etwa auch die Briefe an Heinz Jerowsky und Johannes Schmidt bereits in dem Band „Wu Hi?“ über die Jugend Arno Schmidts in Schlesien publiziert worden sind. Manchmal erhält man in einem der Register diskrete Hinweise auf einen solchen Umstand, manchmal jedoch auch nicht. Dass etwa die Briefe an Böll, Edschmid und Hesse schon gedruckt vorliegen, ist dem Band nicht zu entnehmen. Und auch im Fall Wollschläger ist zumindest eines der Schreiben schon zuvor im „Bargfelder Boten“ publiziert worden. Genannt werden konnten hier nur Fälle, die dem Rezensenten zufällig bekannt waren. Welche Briefe sonst noch hier und dort bereits erschienen sind, weiß außer den Herausgebern wahrscheinlich kaum jemand.

Bei alldem sei betont, dass es hier weder um eine Kritik an der konkreten Auswahl selbst noch an Zweitabdrucken im Allgemeinen geht. Dass Briefe an diese wichtigen Empfänger im hier präsentierten Gesamtpanorama ihren Platz finden müssen, ist unbestritten. Und Abhilfe wäre im Rahmen eines vielleicht nur wenige Seiten umfassenden, orientierenden Vorworts ja auch sehr leicht zu schaffen gewesen, wie sie regelmäßig den Editionen der Tagebücher von Alice Schmidt in den vergangenen Jahren beigefügt worden sind. Und ganz nebenbei hätte man dabei auch noch ein paar andere Fragen klären können: Was waren die leitenden Prinzipien der Auswahl? Und was hat es mit den Kürzungen auf sich, die jetzt nur durch ein paar Auslassungszeichen hier und dort zu fassen sind? Geht es hier um den Schutz lebender Personen, sollen bestimmte Themen besser nicht auftauchen oder wären die Briefe sonst schlicht zu lang gewesen?

Kurz: Der Leser im Rezensenten fühlte sich mit dieser Ausgabe bestens bedient – der Wissenschaftler in ihm hätte hingegen hier und dort doch noch ein paar Dinge mehr erfahren mögen.

Titelbild

Arno Schmidt: »Und nun auf, zum Postauto!«. Briefe von Arno Schmidt.
Herausgegeben von Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
296 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783518803707

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