Im Reich der Großmütter

Joanna Bator erzählt in zwei Romanen ein polnisches Jahrhundert

Von Christina MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joanna Bators 2010 auf Deutsch veröffentlichter Roman „Sandberg“ (polnisch: „Piaskowa Góra“, 2009) ist mehrfach, nicht zuletzt von seiner glänzenden Übersetzerin Esther Kinsky, als ein Buch beschrieben worden, in dem die Frauen regieren. Diese Einschätzung birgt jedoch nicht nur die Gefahr, dass Lesern, die das Etikett „Frauenroman“ abschreckt, ein faszinierender, kluger – und vor allem auch klüger machender Roman entgeht, sie ist auch schlichtweg falsch. „Sandberg“ ist zunächst einmal ein Familienroman über drei Generationen, und der Autorin gelingt es, in dieser Geschichte einer Familie auch all die Wirrungen und Katastrophen zu verweben, die Polen im 20. Jahrhundert erleben musste.

Zwar sind die männlichen Protagonisten selten so positiv gezeichnet wie ihre weiblichen Partnerinnen, doch spielen sie keine geringere Rolle, nicht zuletzt durch die Internationalität, die sie in das Figurenpanorama einbringen. Während die im Zentrum des Romans stehende Jadzia und ihre Tochter Dominika sich anfangs noch für Polinnen halten, wird im Laufe der Zeit klar, dass sie auch russische und jüdische Wurzeln haben. Die durch diese Entdeckung frei werdenden Gefühle der Fremdheit haben Jadzia und Dominika jedoch ausschließlich ihren männlichen Vorfahren zu verdanken. Die Mütter und insbesondere die Großmütter bei Joanna Bator sind stets das, was sie scheinen, sie sind verlässlich und oft auf pragmatische Art liebevoll, doch das Geheimnis, das Rätselhafte oder das Fremde ist in den Vätern angelegt. Mag es sich um abwesende, brutale, uneheliche oder aufgrund der Verfolgung durch die Nazis entflohene Väter handeln, sie sind es, deren Identität oder Herkunft den Spannungsbogen aufrechterhält.

Die Handlung spielt zu großen Teilen in Piaskowa Góra, einem Vorort der westpolnischen Stadt Wałbrzych, die so nah an der deutschen Grenze liegt, dass der Wind bisweilen Schokoladenpapierchen herüberweht. Da die Stadt, zu NS-Zeiten noch als Waldenburg bekannt, erst nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen zurückfällt, wird sie vor allem von Heimatlosen und Vertriebenen aus dem Osten besiedelt, die sich mit zäher Kraft um ein neues Leben und vor allem neue Habseligkeiten bemühen. Bator beschreibt mit feiner Ironie, wie im sozialistischen Alltag und in der Wendezeit die Konsumwelt des ehemaligen Feindes, der sogenannten „BeErDe“, förmlich zur Ersatzreligion wird. Da werden Kleider aus dem Otto-Katalog nachgeschneidert, Deodorants und Nylonstrumpfhosen aus dem Westen organisiert und gutverdienende Schwiegersöhne aus Castrop-Rauxel erträumt, insbesondere von der romantisch und ein wenig engstirnig veranlagten Jadzia.

Jadzia, die blonde, rundliche und meist in Rosatöne gekleidete Mutter, die Telenovelas schaut und ihre dunkelhaarige, eigensinnige Tochter Dominika von Anfang an als fremdartiges „Zigeunerkind“ ablehnt, ist trotz ihrer Durchschnittlichkeit ein Gegenentwurf zu fast allen Figuren des Romans. Selbst ihre Mutter mag sie nicht sonderlich, weil Jadzias Undefinierbarkeit es ihr unmöglich macht zu erkennen, ob sie wohl von ihrem jüdischen Geliebten oder aber von ihrem polnischen Vergewaltiger gezeugt wurde. Ihren deutlichsten Kontrapunkt findet Jadzia aber in ihrer Tochter, der mathematisch begabten, belesenen und fernwehgeplagten Dominika, die für beide Großmütter zwar wie eine Erlöserfigur zu leuchten scheint, doch ihre eigene Mutter ebenso wie ihre Umgebung durch ihren kritischen Geist immer wieder aufs Neue herausfordert.

Die Menschen auf dem „Sandberg“, deren Klatschlust und Missgunst durch die Enge im Plattenbau naturgemäß begünstigt werden, bilden einen Mikrokosmos, mit dessen Hilfe Bator auf all die gesellschaftlichen Fragen anspielen kann, die Polen gegen Ende des 20. Jahrhunderts bewegten. Nach dem anfänglichen Boom im Bergbau werden die Männer arbeitslos, Alkoholismus, Drogenkonsum und Gewalt kommen ins Spiel, Fremde und sexuell aus der Reihe Tanzende wie Dominikas griechischer Grundschulfreund Dimitri und der homosexuelle Sänger Jeremiasz Mucha werden ausgegrenzt oder drangsaliert. Allein schon in Dominikas Schulklasse lassen sich all die Boshaftigkeiten und Intrigen wunderbar beobachten, die die verunsicherte Gesellschaft und nicht zuletzt die Lehrerin mit dem sprechenden Nachnamen Demon umtreiben.

Es ist vor allem Bators eleganter Sprache zu verdanken, dass sich die oft beißende Satire und die nicht minder eindrücklichen emotionalen Szenen zu einem harmonischen Ganzen verbinden. Die Autorin nimmt nicht nur mittels deftiger und oft ironischer Metaphorik das Kitschpotenzial aus Momenten wie etwa dem Wiedersehen von Dominikas nach Zwiebeln stinkender Großmutter mit dem inzwischen weißhaarigen Geliebten heraus, sie macht auch mit ihren Vergleichen die einfache innere Logik der Handelnden nachvollziehbar, etwa wenn die alten Frauen in der Kirche „zur Schwarzen Madonna beteten so wie sie Erbsen enthülsten, bittefüruns, bittefüruns, in den Hülsen ihrer Bitten lagen die rohen Kerne von Anklage und Groll mit ihrem säuerlichen Geschmack“. Bators Aromen sind stark und nicht immer wohlriechend, doch sie ziehen den Leser unwiderstehlich in eine kleine, enge Welt hinein, in der die Ferne nicht nur als sehnsuchtsumwobener Ort der immer gefüllten Supermarktregale, sondern eben auch als Bedrohung der seit allzu kurzer Zeit wieder einigermaßen intakten Heimat verstanden wird, in der fast alle Protagonisten so sehr an Verluste gewöhnt sind, dass sie einfach nichts wegwerfen können.

Der 2013 auf Deutsch erschienene Roman „Wolkenfern“ ist nicht nur als Fortsetzung, sondern auch als logischer Gegenpol zu Bators „Sandberg“ zu lesen. Dies machen auch die Titel der beiden Romane anschaulich: Während „Sandberg“ sich auf den gleichnamigen Wohnblock im westpolnischen Städtchen Wałbrzych und wenige andere Orte in Polen konzentriert, spannt „Wolkenfern“ (polnisch: „Chmurdalia“, 2010) einen weiten geografischen Bogen, der neben Deutschland, England und Griechenland auch die USA und Japan umfasst. Dazu muss man wissen, dass „Wolkenfern“ ein Fantasieland ist, das Dominika und ihre Schulfreundin Małgosia nach einem Gedicht von Bolesław Leśmian (1877–1937) schon in „Sandberg“ entworfen haben und dessen Bezeichnung auch auf Dominikas Nachnamen Chmura (polnisch für „Wolke“) anspielt.

Die Sehnsucht nach der Utopie, nach der Flucht aus der trostlosen Enge von Piaskowa Góra, wird in „Wolkenfern“ nun zum Programm. Dabei wird jedoch schnell deutlich, dass selbst die „BeErDe“, das Schlaraffenland des Konsums aus Mutter Jadzias Träumen, der störrischen Tochter Dominika nicht genügt, wenngleich immer mehr Bewohner des Sandbergs nach der Wende dorthin auswandern. Die Achtzehnjährige, nach einem schweren Autounfall in einer Münchner Klinik erwacht, kehrt nicht mehr in ihre Heimat zurück, sondern beginnt ein Nomadenleben, das sie nach Stationen in New York und London schließlich auf Karpathos, einer idyllisch gezeichneten griechischen Insel, vorerst heimisch werden lässt. Gleichzeitig bleibt Dominika aber durch den Kontakt zu Jadzia, ihrer auf dem Sandberg verbliebenen Mutter, weiterhin untrennbar mit der Heimat verbunden. Entsprechend wechselt die Erzählsituation zwischen Dominika und Jadzia, zwischen dem Zuhause und der großen, weiten Welt hin und her. Zusammenkommen können diese beiden Welten nur flüchtig, etwa wenn Dominika angesichts des nahenden Todes ihrer Großmutter Halina noch einmal für ein trauriges Weihnachtsfest nach Piaskowa Góra zurückkehrt.

Das Motiv des (oft unfreiwilligen) Fortgehens wird in „Wolkenfern“ jedoch nicht nur durch die rastlose Dominika, sondern auch durch zahlreiche Nebenfiguren bebildert, denen die junge Frau auf ihren Reisen begegnet. Mehrere polnisch-jüdische Auswanderer in New York und Yokohama, eine ins Paris Napoleons verschleppte Afrikanerin und ihre Nachkommen in Brooklyn sowie ein vor seiner engstirnigen amerikanischen Familie geflohener homosexueller Konditor in Deutschland sind nur einige Beispiele für diesen kosmopolitischen Figurenreichtum. Als verbindendes Element fungiert ein Nachttopf Napoleons, der in der polnischen Stadt Kamieńsk im Chaos des Zweiten Weltkriegs gerade noch vor dem Zugriff der Deutschen gerettet werden kann und dann durch die Hände fast aller Romanfiguren wandert, auch die Dominikas, bis er schließlich in New York sein Zuhause findet. Dass die einzige Protagonistin des Romans, die exzentrische Grażynka, die die Geschichte des Erinnerungsstücks hätte erklären können, den Topf auf seiner Odyssee gerade nicht zu sehen bekommt, ist ein ironischer Schachzug, den sich die Autorin wohl schwerlich versagen konnte.

Nicht das ist jedoch ein Schwachpunkt des Romans, sondern gerade die Anzahl der Hände, von denen der Nachttopf weitergereicht wird. Bator hat eine derartige Menge an Charakteren geschaffen, dass ihr die 499 Seiten des Romans bei kaum einer Person erlauben, sie differenziert und vielschichtig zu gestalten. Stattdessen springt die Erzählung von einer Lebensgeschichte zur nächsten, lediglich durch die Reihenfolge strukturiert, in der die Figuren im Roman auftauchen. Dies macht es nicht nur mühsam, die wichtigen von den Nebenfiguren zu unterscheiden, sondern es erschwert auch das Verständnis mancher Entwicklungen. Warum beispielsweise die stets engstirnige Jadzia während einer Pilgerreise auf die ausländerfeindlichen Äußerungen ihrer Mitreisenden urplötzlich nicht mehr mit der üblichen Zustimmung, sondern mit vehementem Widerspruch reagiert, bleibt mysteriös. Viele Nebenfiguren wirken schablonenhaft – La-Teesha, die afroamerikanische Großmutter aus Brooklyn, ist wenig mehr als ein Abziehbild all der anderen resolut-liebevollen Großmütter aus Bators Romanen. Aus diesem Grund kann die Autorin in „Wolkenfern“ ihren hinterhältigen Humor längst nicht so elegant entfalten, wie das in der bedrückenden Enge des „Sandbergs“ noch möglich war. Hinzu kommt, dass Bators Versuche, die Nebenfiguren oft in mehrfacher Hinsicht mit den Hauptfiguren zu verknüpfen, manchmal etwas bemüht wirken und darüber hinaus gar nicht richtig zum Tragen kommen. So legt etwa eine Anspielung nahe, dass die alte polnische Emigrantin, der Dominika in New York vorliest, in ihrem Warschauer Elternhaus von einer Verwandten Jadzias betreut wurde, doch diese Idee versandet ohne weitere Erwähnung.

Interessant ist gleichwohl die Zahl der Querbezüge, die zwischen den beiden Romanen bestehen. Nicht nur tauchen zahlreiche Figuren aus „Sandberg“ in „Wolkenfern“ wieder auf, es lässt sich auch an mehreren Stellen erkennen, dass Bator bereits bei der Abfassung von „Sandberg“ das Ende von „Wolkenfern“ in groben Zügen kannte. Der Umstand, dass die Enden der beiden Romane durch den Tod jeweils einer der geliebten Großmütter Dominikas besiegelt werden, weist auf eine durchdachte Komposition hin. Insofern hat die Übersetzerin Esther Kinsky in ihrem erhellenden Nachwort zu „Sandberg“ vielleicht doch nicht ganz unrecht damit, dass in Bators Roman die Frauen regieren – vielleicht müsste man nur präzisieren: die Großmütter.

Titelbild

Joanna Bator: Sandberg. Roman.
Mit einem Nachwort von Esther Kinsky.
Übersetzt aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
492 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422229

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Titelbild

Joanna Bator: Wolkenfern. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
500 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424056

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