Kreativität und Krise

Andreas Reckwitz liefert mit „Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung“ eine umfassende Darstellung der aktuellen Diskussion um Originalität und Copyright

Von Roman HalfmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Halfmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Originalität“, so Helene Hegemann sinngemäß[1] angesichts des Vorwurfs, Teile ihres Buches „Axolotl Roadkill“ nur leicht verfremdet kopiert zu haben, „ist nicht wichtig. Authentizität aber ist es.“[2] So treibt das Verfahren des Copy-and-Paste als Antwort auf eine Krise des Originalitätsdiskurses die Gegenwart gewaltig um: Seien es die kopierten Dissertationen hoher Politiker, die Romane gehypter Jung- und Jüngstautoren oder die Diskussionen um eine Änderung des Urheberrechts unter den neuen Prämissen des Internets, stets wird angesichts des medialen Umgangs mit den obigen Einbrüchen eine latente Umdeutung von Begriffen wie Originalität und letztlich auch Authentizität deutlich; dass die Täter, also beispielsweise Hegemann, Guttenberg oder der Konzern Google[3], sich als unverdächtig und geradezu unschuldig deuten, mag eine legitime rhetorische Finte sein. Doch offenbaren derartige Rechtfertigungsversuche oftmals eine spezifische Sichtweise auf ein originäres Agieren, welches letztlich jedem Plagiat Tür und Tor öffnet und in letzter Konsequenz auch den Begriff Plagiat obsolet werden lässt – immerhin müssten dann alle Termini jenes Begriffnetzes ‚Originalität‘ auf eine Weise ‚neu‘ definiert werden, wie es Dirk von Gehlen vornimmt, der das Original wie folgt beschreibt: „Dieses ist kein binär zu unterscheidendes solitäres Werk (1), sondern ein in Bezüge und Referenzen verstrickter Prozess (2), und seine skalierte Originalität beruht immer auf Zuschreibungen und Konstruktionen (3), die man mit ihm verbinden will.“[4]

Neu ist eine derartige Sichtweise auf originäre Werk nicht und kann eben auch die Rhetorik des Betrügers sein, der erwischt wurde. Guttenberg beispielsweise, als Vertreter konservativer Werte dazu angehalten, agiert in der Nachfolge seines Sturzes wenig scharfsinnig, streitet nämlich im Gegensatz zu Helene Hegemann jeden Plagiatsvorwurf vehement ab und verstrickt sich dabei in Widersprüche, die kaum erträglich scheinen; Google wiederum müht sich, ganz im Sinne postindustrieller Unternehmenskultur, die Gesetzeslage zu verändern und so die ureigenen Definitionen gewisser Begriffe nachträglich zu sanktionieren – all dies sind unterschiedliche Reaktionen ertappter Täter, die jedoch allesamt hintergründig eine Neudefinition von Originalität und Kopie verhandeln.

1.

Eine derartige Neudefinition betrachtet nun der Kultursoziologe Reckwitz in dem hier besprochenen Werk als Entwicklung der Entgrenzung: „Historisch lassen sich zwei Entgrenzungskontexte markieren, die ineinander übergehen: die Avantgarden ab 1900 und die postmoderne Kunst seit den 1960er Jahren.“[5] Diese Kontexte erweitern nach Reckwitz den Kreativitätsbegriff, der nach der grundsätzlichen Ansicht durch die Kopplung „mit dem Interessanten, dem Überraschenden und dem Originellen“[6] naturgemäß „die Abweichung vom Standard“[7] förderte, nun aber mit der modernen und postmodernen Entgrenzungsbewegung letztlich jede artifizielle Regung mit Kreativität auflade:

Die Entzauberung des Schöpferkünstlers hat die Möglichkeiten für eine fortgesetzte strukturelle Orientierung des Kunstfeldes am Überraschenden und Andersartigen erweitert und radikalisiert. Indem das Neue nicht mehr mit den radikalen Brüchen des Künstlers identifiziert oder in einer radikalen Stilavantgarde verortet wird, dehnt sich drastisch aus, was als relativ Neues zählen kann.[8]

Deutlich wird dies auch in den Reaktionen der Rezipienten, derjenigen also, welche die Bücher Hegemanns trotz oder gerade wegen des Skandals kaufen, Guttenberg auch während der größten Krise unterstützten oder das Internet als offene, freie Plattform künstlerischer Natur sehen, wenn auch eingeschränkt im Sinne des Copyleft-Prinzips. In den überall heißlaufenden Foren finden sich bedenkenswerte Kommentare, die beispielsweise Guttenbergs Plagiat als geringfügigen Fehler verbuchen: Geklaut werde immerhin überall, so der Tenor. Hauptsache das Buch sei gut, so urteilte die Fachkritik angesichts der Vorwurfe gegen Hegemann[9], zudem sei es in der Literatur angesichts der notgedrungen begrenzten Anzahl von Motiven, Topoi und Stoffen unmöglich, auf eine Weise originell zu sein, die eher an die Geniezeit erinnere denn an die Gegenwart – zumeist wird hierbei mit Verweis auf Thomas Mann operiert, der ja auch schon zum Zweck künstlerischer Produktion kopiert habe.[10]

Es findet, so kann man schließen, in der Tat eine Neudefinition des Schöpferischen statt, eine Art „Entindividualisierung der Kreativität“[11] und damit letztlich die Zersetzung des herkömmlichen Originalitätsbegriffs – im Sinne Reckwitz’– als „ästhetische Normalisierung“[12], die mit dem Surrealismus beginne: „Dies entspricht einer Universalisierung von Kreativität auf der Subjektebene: Wenn Kreativität von Assoziationstechniken abhängt, lässt sie sich nicht mehr auf den Künstler beschränken, sondern jeder scheint ihrer potenziell fähig.“[13] Reckwitz gelingt es auf diese Weise, eine überzeugende, wenngleich nicht neue Theorie postmoderner Kunst abzuleiten, da eine derartige Universalisierung eben auch die künstlerischen Praktiken selbst verändere:

Das Kunstfeld wird die kreativen Kompetenzen des Künstlers ausdehnen und veralltäglichen und die Reichweite künstlerischer Verfahren ins Extrem erweitern. Am Ende stellen sich Ökonomie, Massenmedien und psychologische Subjektdiskurse als ebenso ästhetisiert dar, wie das Kunstfeld und sein Künstler entauratisiert werden.[14]

2.

Um zu verstehen, welche Folgen eine solche Entwicklung hat, muss man ihre Ursachen analysieren – aus welchem Grund kam es also überhaupt innerhalb des letzten Jahrhunderts zu einer Verschiebung und Umdeutung ehemals eherner Begriffe?

Die Antwort lautet: Die Dringlichkeit bestand im Affektmangel der klassischen gesellschaftlichen, insbesondere der organisierten Moderne. Diese betrieb eine systematische Verknappung der Affekte, die den vergesellschafteten Subjekten hätten Motivation und Befriedigung verschaffen können. Die Ästhetisierungsprozesse des Kreativitätsdispositivs versuchen, die Verknappung zu überwinden.[15]

Die sich hieraus ergebende Problematik ist bekannt, nämlich die Rede von einem Diktat des Neuen: „Das Subjekt (oder die soziale Einheit) nimmt ständig seine früheren Performances zum Maßstab, es versucht, seine kreativen Kompetenzen zu verbessern und sich selbst zu überbieten, so dass es in seiner Entwicklung nie an eine Ende kommt“.[16] Das Künstlerideal des Genies ist als „Ideal des kreativen Subjekts“[17] verallgemeinert und als Verheißung der gesuchten Authentizität Teil der Selbstverwirklichungsidee geworden: „Let’s call this the age of authenticity“[18], erklärt Charles Taylor bekanntlich und missachtet die hiermit verknüpften Probleme, denen Reckwitz mit Verweis auf zwei Strategien zu begegnen sucht:

Auf der einen Seite geht es um Prozesse der Kreativität, die nicht auf ein Publikum ausgerichtet sind und sich damit jenseits von Aufmerksamkeitsmarkt und Steigerung bewegen: um profane Kreativität. Auf der anderen Seite sind ästhetische Praktiken gefragt, die sich nicht aktivistisch am Regime des Neuen, sondern an der Routinisierung und Wiederholung orientieren: eine Ästhetik der Wiederholung.[19]

Womit wir am Ende wieder bei Helene Hegemann und Freiherr zu Guttenberg angekommen wären: Die eine plädiert für eine profan zu verstehende Kreativität, eine private Authentizität, die nicht mehr in Abgleich zum kulturellen Gedächtnis verstanden und bewertet werden könne, indes der andere vielleicht die Routine als Motiv wissenschaftlichen Arbeitens bemüht hätte, wären ihm Zeit und intellektuelles Vermögen gegeben worden.

3.

Dass diese Erklärungen nicht befriedigen, muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden, doch deutet dieses Unbehagen die Fragwürdigkeit der vorgeschlagenen Alternativen an – ohnehin hat die vorliegende Studie ihrerseits nur wenige neue Ideen in die Debatte einzubringen: Dass die Kreativität in der Krise ist und zugleich jeden Lebensbereich als Anforderung und Versprechen durchdringt, scheint allgemein verstanden und die Strategien der Postmoderne als Fluchtbewegungen ebenfalls hinreichend bearbeitet: Strategien eben der Wiederholung, wenngleich perfider, also ironischer Art, die Reckwitz in eben einer solchen postmodernen Bewegung, wenngleich mit Verzicht auf Ironie, als neu vorschlägt.

Zudem vernachlässigt Reckwitz in dieser Reflexion über die Möglichkeiten von Alternativen die immer drängender werdenden rechtlichen Fragen: Obgleich das illegale Herunterladen von Dateien eben illegal bleibt, wird es eifrig betrieben – dies vor allem, aber nicht nur, von einer Jugend, die anscheinend nicht mehr bereit ist, für Kultur zu bezahlen oder irgendeine Art Gegenleistung zu erbringen.[20] Momentan wird dies in politischen und kulturellen Diskursen zumeist unter Hinweis auf die Verwerter abgemildert[21]: So seien nicht die Künstler die eigentlichen Nutznießer des bisherigen Systems, sondern die Vertriebe, die man eben nicht mehr finanzieren wolle, da man es nun aufgrund der technischen Innovationen nicht mehr unbedingt müsse.

Doch haben die technischen Innovationen des digitalen Kopierens im Grunde weder die kulturellen Artefakte noch die Produktionsweise selbst in irgendeiner Art verändert, obgleich man auch dies immer wieder behauptet. So vermerkt die Piratenpartei in ihrem Parteiprogramm: „Da sich die Kopierbarkeit von digital vorliegenden Werken technisch nicht sinnvoll einschränken lässt und die flächendeckende Durchsetzbarkeit von Verboten im privaten Lebensbereich als gescheitert betrachtet werden muss, sollten die Chancen der allgemeinen Verfügbarkeit von Werken erkannt und genutzt werden. Wir sind der Überzeugung, dass die nichtkommerzielle Vervielfältigung und Nutzung von Werken als natürlich betrachtet werden sollte und die Interessen der meisten Urheber entgegen anders lautender Behauptungen von bestimmten Interessengruppen nicht negativ tangiert“.[22]

Boutang vermerkt seinerseits ganz in diesem Sinne: „Die neuen Technologien gefährden den Kreislauf, in dem sich traditionell der Austausch vollzieht, da sie sich über Werbung finanzieren und außerdem die Kosten für den Unterhalt des Distributionsnetzes drastisch gesenkt wurden. Die an die Konsumenten aus der alten Ökonomie gewöhnten Unternehmen haben bei ihrem Goldrausch im Internet erfahren müssen, dass sie hier auf eine mächtige Gegenkultur des Gratiskonsums, der Freiheit (was nicht dasselbe ist), der Kooperation, des wissenschaftlichen Wetteifers, des Spiels sowie eines systematischen, nachgerade charakterlichen Widerstands gegen eine nicht legitimierte Hierarchie stießen“.[23]

Es scheint logisch, dass derartigen Fragestellungen nicht mit Hinweisen auf einen eskapistisch anmutenden Rückzug ins Gefilde privater Authentizität oder einer Kunst der Wiederholung begegnet werden kann.

Nun, eine juristische Abhandlung ist in der Schrift Reckwitz’ nicht zu erwarten und der letzte Vorwurf vielleicht ein wenig ungerecht, doch sollte eben in all der thetischen Setzung nicht übersehen werden, dass die Praxis jede Theoretisierung bereits eingeholt hat: So vermerkt Jonathan Lethem in seinem bereits 2007 erschienen Essay „The Ecstasy of Influence“, ausgehend von T.S. Eliots „The Waste Land“ und den dort penibel verzeichneten Quellenangaben, welche Eliot dem Gedicht nachsendet: „Eliot evidenced no small anxiety about these matters; the notes he so carefully added to The Waste Land can be read as a symptom of modernism’s contamination anxiety. Taken from this angle, what exactly is postmodernism, except modernism without the anxiety?“[24] Damit hat er die Ästhetik der Wiederholung benannt – wie bekanntlich Peter Handke einige Jahrzehnte zuvor, der an diesem Anspruch in seinen „Journalen“ schier verzweifelt, da es eben doch nicht so einfach ist, den Diskursen seiner Zeit zu entfliehen. Wie soll man sich dies auch vorstellen? Als Cocooning intellektueller Natur vielleicht, was im verpuppten Zustand sicherlich funktioniert, aber spätestens dann scheitert, sobald man den geschützten Raum verlässt. Dies ist alles wenig reflektiert.

So ist das Werk, wenngleich kaum innovativ und damit wohl unfreiwillig die eigenen Thesen bestätigend, eine umfassende, sich auf die wesentlichen Standardwerke beziehende Darstellung – und daher ideal zur Einführung in den komplexen Sachverhalt geeignet.

Literatur:

Blamberger, Günter: Das Geheimnis des Schöpferischen. Oder: Ingenium est ineffabile? Stuttgart: Metzler 1991.

Boutang, Yann Moulier: Neue Grenzziehungen in der Politischen Ökonomie. In: Norm der Abweichung. Hg. v. Marion von Osten. Zürich: Edition Voldemeer 2003. S. 251-280.

Gehlen, Dirk von: Mashup. Lob der Kopie. Berlin: Suhrkamp 2011.

Lethem, Jonathan: The Ecstasy of Influence. A Plagiarism. In: Harpers’s Magazine, 02. 2007. S. 59-71.

Taylor, Charles: A Secular Age. Cambridge, MA/London: Belknap Press 2007.

[1] Die Pressemitteilung des Ullstein-Verlags ist im Internet zu finden.

[2] Hegemann spricht von Echtheit.

[3] Der „Heidelberger Appell“ unter Roland Reuß richtet sich gegen die Pläne des Konzerns, gedruckte Erzeugnisse umfassend zu digitalisieren: http://www.text-kritik.de/urheberrecht/ (November 2013).

[4] Gehlen, Dirk von: Mashup, S. 174.

[5] Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, S. 98.

[6] Ebd., S. 46.

[7] Ebd., S. 47.

[8] Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, S. 124.

[9] Vgl. ebd., S. 23.

[10] Vgl. hierzu: Theisohn, Philipp: Literarisches Eigentum: Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter. Essay. Stuttgart: Kröner 2012.

[11] Blamberger, Günter: Das Geheimnis des Schöpferischen, S. 31.

[12] Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, S. 47.

[13] Ebd., S. 102.

[14] Ebd., S. 89.

[15] Ebd., S. 314f.

[16] Ebd., S. 327f.

[17] Ebd., S. 320.

[18] Taylor, Charles: A Secular Age, S. 437.

[19] Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, S. 358.

[20] Vgl. Gehlen, Dirk von: Mashup, S. 14.

[21] „Seit einigen Jahren“, schreibt Yann Moulier Boutang schon im Jahre 2003, „ist eine starke Offensive gegen die Pionierkultur des Internet im Gange, die Züge einer repressiven Durchsetzung der alten Rechte am geistigen Eigentum, unter anderem des Patentrechts und der Erbberechtigungen beim Urheberrecht, aufweist, die vor allem zu Gunsten von Verbreitern, Verlegern, Produzenten und Kulturvermittlern (Museen, Bibliotheken) gehen.“ (Boutang, Yann Moulier: Neue Grenzziehungen in der Politischen Ökonomie, S. 272.)

[22] Download unter: www.piratenpartei.de/wp…/Grundsatzprogramm-Piratenpartei.pdf

[23] Boutang, Yann Moulier: Neue Grenzziehungen in der Politischen Ökonomie, S. 272.

[24] Lethem, Jonathan: The Ecstasy of Influence, S. 61f.

Titelbild

Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
408 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518295953

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