Kein Ort woanders nicht

Anmerkungen zu Uwe Timms ‚Aussteigerroman‘ „Vogelweide“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Uwe Timms Protagonist Eschenbach ist irgendwie ausgestiegen. Dieses ‚irgendwie‘ ist eine Insolvenz. Die Insolvenz geht unglücklicherweise mit dem Scheitern seiner Beziehung einher. Kurz zuvor hatte alles noch ganz gut ausgesehen: „Nur hin und wieder las er spätabends noch in seinem Sessel, die Füße hochgelegt, die Essais von Montaigne. Nachts, im Sommer auf seiner Terrasse, noch ein Bier oder einen Whisky, das kühle Glas in der Hand, hörte er Gustav Mahler oder Ali Farka Touré oder Manu Katché, der Blick ging über den Zoo und zum Himmel, wo sich der leuchtende Mercedesstern auf dem Europa-Center langsam drehte und ihm das Gefühl gab, teilzuhaben an einer alles umfassenden Dynamik – es war die reine Lust.“ Aber mit dem Verlust der Geliebten ist auch die Freundschaft mit seinem langjährigen Freund zerbrochen bzw. auf eine harte Belastungsprobe gestellt, ist die Geliebte Eschenbachs doch die Ehefrau ebendieses besten Freundes.

Alles spannt sich an, verknotet sich und wird mit einem Schlag gelöst. Alle gehen auseinander. Weder bleibt der Protagonist mit seiner neuen Frau zusammen noch hält seine alte Beziehung. Ebenso geht es der Geliebten, die sich von ihrem Mann trennt und zu beiden Männern den Bezug verliert, in die USA flüchtet. Und so sind denn fast alle Beziehungen zerbrochen und der Protagonist, der mittlerweile in einer kleinen Wohnung lebt und auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein scheint, stellt sich ungewöhnlichen Herausforderungen. Bedenkt man allerdings die Lebenskrise, in der sich der Protagonist befindet, ist es eigentlich eine Sinnsuche, auf die sich der Ex-Unternehmer begibt.

Ein Angebot, als Vogelwart auf einer kleinen Hallig in der Nordsee für einen Sommer zu arbeiten, wird bereitwillig angenommen. Finanziell gibt es keine Herausforderungen oder Perspektiven mehr, alles Geld wird von der Insolvenz verschlungen. Eschenbach geht auf die Suche nach sich selbst. Es stellt sich die Frage, was von allem bleibt, wenn das Geld weg ist, wenn Beziehungen durch Untreue erschüttert werden. Und so ist es letztendlich die Geschichte von zwei Paaren, gespiegelt in dem Protagonisten Eschenbach. Auf der Hallig lebt er einen langen Sommer über in einer sturmsicheren und containerähnlichen Unterkunft, abgeschottet von der Zivilisation. Besucher müssen eine Besuchserlaubnis für das Naturschutzgebiet beantragen. Der Alltag ist einfach und eintönig: „Er hatte, die Wolken hingen jetzt tief und grau am Himmel, in der hereinbrechenden Dunkelheit vor der Hütte auf der Veranda gesessen und war später an den Schreibtisch gegangen“. Einer seiner weiblichen Besuche formuliert es treffend: „Sieht aus, als hättest du dich gut eingelebt hier – auf deiner Vogelweide.“

Uwe Timm zeichnet das Bild eines Menschen in einer scheinbaren Übergangssituation. Denn sowohl dem Leser als auch dem Protagonisten ist klar, dass das Leben „auf [s]einer Vogelweide“ zeitlich begrenzt ist. Trotzdem findet Eschenbach so etwas wie Ausgeglichenheit und ‚Stillness of Heart‘ – und obwohl diese Unsicherheit bleibt, scheint Eschenbach eher bei sich selbst angekommen zu sein als die drei anderen Mitstreiter. Und es ist eine seltsame Situation in diesen „Wahlverwandtschaften“, wenn nur dem Protagonisten Eschenbach ein relativ kontemplatives Ende beschieden bleibt, wenn Timm ihn am Schluss in seinem Roman zurücklässt: „Später ging er über die Dünen. Der Falke war nicht mehr zu sehen.“ Großes Kino, konzentriert, mit präziser, genauer Sprache. Davon gibt es nicht so viele Bücher im Jahr 2013.

Titelbild

Uwe Timm: Vogelweide. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013.
335 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462045710

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