Zeugnisse einer Freundschaft und Dokumente der Zeitgeschichte

Der Briefwechsel zwischen Albert Camus und seinem Lehrer Jean Grenier.

Von Vanessa RennerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vanessa Renner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Albert Camus. Philosoph, Autor und Journalist. Zu Hause in Algerien und Frankreich. Sehnsüchtig sein Leben lang nach dem Meer, der Sonne, dem Licht. Bekannt für seine Auseinandersetzung mit dem Absurden in „Der Mythos des Sisyphos“. Sisyphos, dessen Schicksal es ist, einen großen, schweren Felsen immer wieder einen Berg hinaufzurollen. Als glücklichen Menschen müssen wir ihn uns vorstellen, schreibt Camus. Am 7. November wäre er 100 Jahre alt geworden. Dieses Jubiläum ist Anlass für eine Reihe deutscher Neuerscheinungen. So der Briefwechsel zwischen Camus und seinem Freund und Lehrer Jean Grenier. Der Professor für Philosophie lehrte in Algerien, Ägypten und Frankreich. Den 17-jährigen Camus lernt er an der Schule in Algier kennen. Die 235 Briefe, Telegramme und Ansichtskarten aus den Jahren 1932 bis 1960 sind eine große Bereicherung. Poetische Zeugnisse einer Freundschaft. Zugleich Spiegelbild der inneren Auseinandersetzung und der Lebenswelten beider Philosophen, der persönlichen wie der zeitgeschichtlichen.

Mögen die ersten Zeilen der Korrespondenz in Zeiten der schnellen Kommunikation – via E-Mail und Skype überwinden wir Kontinente – auf den Leser auch wie ein kleiner Kulturschock wirken. Da verabreden Grenier und Camus per Post ein Treffen, Briefe verzögern sich und müssen den weitergereisten Autoren nachgesendet werden. Doch Seite um Seite zieht die gefühlte Verlangsamung den Leser in den Bann. Sie erlaubt den Briefeschreibern, Worte sorgfältig auszuwählen, Gedanken wachsen zu lassen. „Man antwortet denen schnell, denen man gleichgültig gegenüber steht. Die man liebt, für die will man sich Zeit nehmen“, schreibt Camus Anfang 1949 an Grenier. Formulierungen wie diese, die eine große Wertschätzung gegenüber dem Freund ausdrücken, finden sich viele. So thematisiert ein großer Teil der Korrespondenz die Freundschaft an sich. Camus und Grenier reflektieren sie, vergewissern sich ihrer schreibend aufs Neue.

Vom ersten Aufeinandertreffen erfährt der Leser aus beiden Perspektiven. Camus kommt 1930 als Stipendiat in Greniers Klasse. Kurze Zeit später muss er wegen einer Tuberkuloseerkrankung die Schule unterbrechen, was seinen Lehrer veranlasst, ihn zu besuchen. Aus dem anfänglichen Schweigen entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Die frühen Briefe spiegeln noch das Lehrer-Schüler-Verhältnis. Camus bittet den 15 Jahre älteren Grenier um Rat, versucht sich und seine Gefühlslagen zu erklären. Mit den Jahren entwickelt sich ein Gedankenaustausch über philosophische Ansichten und Werke, die sich die Autoren zum Redigieren schicken. Doch bleibt Grenier aus Camus‘ Sicht sein „ewiger Lehrer“. Im September 1951 hält er in einem Brief fest: „Man dankt niemals denen, die einen aufgezogen und geführt haben. Man verlangt von ihnen, dass sie bleiben, was sie sind.“ So lernt der Leser die beiden Autoren über ihre Briefe kennen, kommt ihnen zwischen den Zeilen nahe. Denn neben philosophischen und literarischen Diskursen nehmen auch persönliche Ereignisse und Lebensumstände einen großen Raum ein. Camus‘ Leben zwischen Algerien und Frankreich, seine Krankheit, mit der er sich in Schüben konfrontiert sieht. Schließlich die Einsamkeit, die für beide Philosophen eine bedeutende Rolle spielt. Sei es die selbstgewählte Zurückgezogenheit in kreativen Schaffensperioden als „höchstes Glück“, wie es Grenier beschreibt. Sei es als bedrückendes Gefühl der Abgeschiedenheit. Schreibstoff sind auch die Familie und gemeinsame Freunde. In Telegrammen finden sich Glückwünsche zur Geburt der Zwillinge Jean und Catherine Camus ebenso wie zu literarischen Auszeichnungen.

Die schönsten Passagen bilden vielleicht die Aufzeichnungen von Reiseeindrücken. Das Verlangen nach Licht, Luft und Meer, die Empfindsamkeit für die Natur und die Vielfalt der Landschaft teilen beide Autoren. Neben diesen poetischen Stücken, die eine Freude zu lesen und ein Gewinn an sich sind, ist die Korrespondenz ein facettenreiches Dokument der Zeitgeschichte. Der Aufstieg des Faschismus, die Schrecken des zweiten Weltkrieges, die Existenznöte der Nachkriegsjahre, schließlich der Algerienkrieg spiegeln sich durch die Feder der Briefeschreiber wider. Auch das Bild der Pariser Künstler- und Intellektuellenszene vermittelt sich dem Leser anschaulich. Hilfreich sind in diesem Kontext die detaillierten Anmerkungen zu den Briefen, die dem Verständnis und der Einordnung einzelner Aussagen dienen. Ebenso die übersichtliche Chronologie am Ende des Buches, die das Leben der beiden Philosophen, deren Werke sowie historische Ereignisse nebeneinanderstellt. So ist die Korrespondenz nicht nur für Camus-Kenner lesenswert. Eine gute Ergänzung zu den Briefen bieten die Erinnerungen Greniers, die das Buch abrunden.

Ein schönes, sehr persönliches Stück Literatur. Den letzten Brief verfasst Camus am 28. Dezember 1959, wenige Tage vor seinem tödlichen Autounfall. Man müsse sich vorstellen, was er noch hätte sagen können, schreibt sein Freund Grenier.

Titelbild

Albert Camus / Jean Grenier: Briefwechsel 1932-1960. Mit den Erinnerungen Jean Greniers an Albert Camus.
Herausgegeben und übersetzt von Jean O. Ohlenburg.
Verlag Karl Alber, Freiburg, München 2013.
479 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783495486214

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch