Schweizer Abgründe

Franz Hohler lässt in „Gleis 4“ gleich drei sympathische Frauen die Wahrheit über das Schicksal eines Toten erforschen

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eine schöne Landschaft macht die Menschen nicht besser“, das ist die schmerzliche Erfahrung, die Martin Blancpain, der als Marcel Wyssbrot in der Schweiz zur Welt kam, schon in frühester Kindheit und Jugend machen musste. Seine Geschichte erzählt Franz Hohler in seinem neuesten Roman „Gleis 4“.

Und, um es gleich vorwegzunehmen: Hohler setzt sein jüngstes Werk nicht nur spannend wie einen Krimi um, sodass man von Seite zu Seite fiebert, um mehr über den geheimnisvollen Fremden zu erfahren, der bereits auf den ersten Seiten des Buches stirbt. Zudem spart der Schweizer Autor auch nicht mit treffsicherer Sozialkritik an seinem Heimatland, in dem Recht und Ordnung mitunter mehr zu gelten scheinen als die Menschen, die in ihm leben.

Dabei fängt eigentlich alles ganz harmlos an: Isabelle macht eine Pause von ihrer anstrengenden Arbeit in einem Altersheim. Nach einer gerade überstandenen Gallen-Operation möchte sie sich mit einer Freundin ein paar Tage auf Stromboli erholen. Doch auf dem Weg zum Flughafen kommt alles anders als sie denkt. Während sie sich am Fuß der Treppe zum Bahnsteig mit ihrem schweren Koffer abmüht, bietet ihr ein eleganter älterer Herr seine Hilfe an. Dankbar nimmt sie diese an und will sich, oben angekommen, von ihm verabschieden – aber dann bricht der Mann mit einem Herzanfall vor ihr zusammen. Sie versucht ihm zu helfen, ihr bleibt aber nur noch, ihm in den letzten Minuten seines Lebens zur Seite zu stehen, während sich Sanitäter vergeblich um ihn bemühen.

In dem ganzen hektischen Trubel merkt Isabelle zunächst gar nicht, dass sie aus Versehen eine Mappe des Fremden eingesteckt hat. Da ihr Flug ohnehin weg ist, fährt sie zurück nach Hause. Natürlich möchte sie die Mappe gleich zur Polizei bringen, als sie sie dort entdeckt. Doch dann klingelt darin ein Handy – und als sie den Anruf neugierig entgegennimmt, tönt ihr eine Warnung an den unbekannten Toten entgegen. Jetzt ist auch der letzte Gedanke an Urlaub in Italien passé. Stattdessen fühlt sich Isabelle nicht nur schuldig am plötzlichen Tod des Unbekannten, sondern auch verpflichtet, den Hintergründen des mysteriösen Anrufs auf den Grund zu gehen.

Umso mehr möchte sie erfahren, was hinter alledem steckt, als sie von seiner aus Kanada angereisten Witwe erfährt, dass er dort unter einem anderen Namen lebte als demjenigen, unter dem ihn offenbar der bedrohliche Anrufer kannte. Und so machen sich die beiden Frauen gemeinsam auf die Suche nach den Wurzeln des Verstorbenen. Unterstützt werden sie dabei von Isabelles Tochter Sarah, die sich durch die spannende Detektivarbeit nur allzu gerne von ihrem Jurastudium und der eigenen Identitätssuche als dunkelhäutige Schweizerin ablenken lässt.

Dabei stellen die drei tatkräftigen Frauen nicht nur fest, dass Martin alias Marcel als uneheliches Kind seiner Mutter weggenommen und zur Adoption freigegeben wurde. Darüber hinaus bringen ihre mühseligen Nachforschungen zutage, dass er als „Verdingkind“ bei einer Bauernfamilie eine furchtbare Kindheit erlebte, die dann in einer Tragödie endete, aus der nur noch die Flucht nach Kanada als Ausweg blieb.

Feinsinnig, hintergründig und stilistisch meisterhaft versteht es Hohler, Gesellschaftskritik und spannende Krimi-Elemente zu einer sensiblen Geschichte zu vereinen, die bis zur letzten Seite fesselt – und betroffen macht.

Titelbild

Franz Hohler: Gleis 4. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
224 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874203

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