Trübe Gefühle und Langeweile in der Wildnis

Germán Kratochwils Roman „Río puro“ über skurrile Reiseabenteuer zweier Männer in Patagonien

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

German Kratochwils neuer Roman „Río Puro“ führt den Leser in den patagonischen Urwald. Es ist die Geschichte einer rätselhaften Odyssee. Der Journalist Leo Kainzer fliegt nach Buenos Aires, um über die Präsidentenwahlen in Argentinien zu berichten. Doch in der Ankunftshalle des Flughafens erwartet ihn seine Jugendfreundin Livia; sie bittet ihn, ihr bei der Suche nach ihrem Ehemann zu helfen. Franz Melan, ein hünenhafter Mittsechziger, ist mit einem hohen Geldbetrag im Gepäck verschollen.

Danach kann der Leser abwechselnd aus der Perspektive des voranreisenden Franz Melan und des ihm folgenden Leo Kainzer skurrile Abenteuer zweier Männer in Patagonien verfolgen. Die Stationen der Reisen könnten grotesker nicht sein. Schon während des Inlandsfluges nach Villa La Angostura lernt Kainzer den ersten Paradiesvogel kennen: eine österreichische Diplomatin mit alpinem und mit kecker Fasanenfeder verziertem Jägerhut. Der sich anschließende Aufenthalt Kainzers in der Residenz des verrückten österreichischen Honorarkonsuls und seiner rassistischen Ehefrau („Es kommen heutzutage ja immer mehr Juden nach Patagonien.“) gerät zu einem Gelage. Chilenischer Champagner, Rotwein und weitere Alkoholika schwächen Kainzers Wirklichkeitssinn, „wie an der Schwelle eines Traumes“. Die trunkenen Erlebnisse sind jedoch erst der Beginn der Reise.

Je weiter sich Melan und Kainzer hintereinander von der Zivilisation entfernen, desto verrückter und gefährlicher wird die Szenerie. Der anzüglich „mit einem schön geschnittenen hellbraunen Gesicht“ grinsende Lusi verzaubert Melan. Er ergeht sich in homoerotischen Fantasien mit dem knabenhaften und „kokettierenden Erzengel“. Detailverliebt werden Orgien geschildert, die Erzählung schwingt sich mit wechselnden Akteuren zu einem rasenden Höhepunkt aus Sex und Gewalt auf. An dessen ekstatischer Spitze wird von einer Schönheit in einen Hodensack gebissen, bis es blutet: „Wir haben uns mit unserem Genitalienblut beschmiert, dachte sie. Nein, getauft! Es tropfte vom Sessel auf den Boden.“

Gregor Hold, „Don Chold“, der seine Frau die Treppe hinuntergestoßen, sie stundenlang liegen gelassen und dann ihre Brüche selbst geschient hat, kann die Fassade des rührigen Gastgebers im Wald lange aufrechterhalten. Schließlich vergeht er sich nicht nur am Jungen Lusi, sondern auch an der Tochter seines Schwagers, Cintia. Ihr droht er, er muss sie ängstigen, damit sie schweigt: „Wir wollen uns der Gerechtigkeit des Herrn beugen und Du wirst ohne Schuld sein, wenn Du Dich mir unterwirfst“, überlegt Hold und schreibt Cintia einen strengen Brief. Als Hold die Kontrolle verliert und seine Frau die Flucht ergreift, nimmt er mit einem Gewehr die Verfolgung auf.

Der bald 80-jährige Kratochwil versucht offenbar, mit seinem Roman eine Sehnsucht nach Wildnis zu befriedigen. Dabei gelingt es ihm nicht, eine dichte Atmosphäre zu schaffen und Spannung zu erzeugen. Seine Auseinandersetzung mit wilden Naturburschen und gesetzlosen Weltverbesserern („einen herumtastenden Amateur-Schöngeist, einen stark im Wasserschutz engagierten Landwirt“ sieht Kainzer in Gregor Hold) zeugt von spielerischer Lust am Unbekannten und neigt zu oft zu Ironie und unfreiwilliger Komik. Der überzogen dargestellte österreichische Dialekt der Honorarkonsulin wirkt albern. Die Charaktere bleiben hingegen unscharf. Vieles wird nur sprunghaft angedeutet. Ausführlich richtet der Autor dafür beispielsweise den Blick auf einen Cowboyzwerg in Quemquemtreu, der Kainzer die Schuhe putzt. Der Zwerg sei ein „Hutzelmännchen“, ein „Heinzelmännchen“, ein „kleiner Mann“, ein „Knirps“ – die heitere Synonym-Suche ist geradezu lächerlich. Munter plappernd warnt der Zwerg Kainzer vor den Gefahren Patagoniens. Nachdem er seine ganze Lebensgeschichte ausgebreitet hat, verschwindet der Zwerg wieder aus dem Roman. Für den Roman hat die Kurzgeschichte keine Bedeutung. Kratochwil ahnt den verwirrten Leser und lässt den Erzähler kommentieren: „Kainzer hatte vergnügt zugehört. Er genoss die literarischen Anklänge.“ Auf diese Weise versteigt sich Kratochwil in Nebenschauplätzen, ohne eine logische Einbindung in die Handlung zu erreichen. Die im Roman enthaltene Entschuldigung hilft nicht. Solch eklatante erzählerische Schwächen mindern den Lesegenuss. Und Schwächen bietet der Roman viele.

Kratochwils herbe Variante des Lebens in der Natur ist oberflächlich und naiv. Immer wieder wird das ungenierte homosexuelle Spiel „mit dem jungen Lumpen“ (sic! Man beachte die Wortwahl.) erwähnt. Da wird mit der Zunge geschnalzt, wenn der „Jüngling aus dem Badezuber“ erkannt wird.  In einem anderen Zusammenhang bekennt Franz Melan, er könne von bestimmten Ausdrücken nicht loskommen: „verliebt in das Wort wie in den Vorgang“. Welch treffende Analyse für den gesamten Roman! Wortverliebt ohne Angst vor derben Ausdrücken und mit voyeuristischem Blick auf das Treiben in den unwegsamen Tälern und entlegenen Orten entfaltet sich in „Río Puro“ ein wechselhaftes Schauspiel. Für Kratochwil besteht das Leben in der Wildnis wohl nur aus Essenszubereitung, Gewalt und Sexualität. So bleibt vom Roman nichts übrig – außer trüber Gefühle und Langeweile.

Titelbild

Germán Kratochwil: Río puro. Roman.
Picus Verlag, Wien 2013.
301 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783711720009

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch