Kleist lesen

Der Germanist Wolfgang Wittkowski legt eine Auswahl seiner Veröffentlichungen vor

Von Daniel Tobias SegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Tobias Seger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Früchte eines langen Philologenlebens: Nach den Sammelbänden zu Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Hebbel, Georg Büchner und Friedrich Schiller setzt der fast neunzigjährige Germanist Wolfgang Wittkowski seine Reihe „Über deutsche Dichtungen“ mit einem Band zu Heinrich von Kleist fort. Seit über fünfzig Jahren lebt Wittkowski in den USA und hat bis 1995 an der State University Albany Literaturwissenschaft gelehrt.

Sammelbände mit eigenen Aufsätzen, gar eine ganze Reihe von Sammelbänden eigener Aufsätze, die, wie es immer so schön heißt, ‚an entlegener Stelle erschienen‘ sind und dann zusammengeführt, mit leichten Überarbeitungen nochmals vorgelegt werden (wie so oft und auch hier zu einem symbolischen Preis), regen nicht immer zu einer ausführlicheren Würdigung an. Das ist hier anders. Der vorliegende Band zu Kleist mit dem sperrig-verspielten Untertitel „Wert-Ethik, Wahrheit, Widerstand und Wieder-Auf-Er-Stehung“ atmet den Geist philologischer Abgeklärtheit und Genauigkeit einer Generation, die streng an den Texten – im Duktus der Zeit, auf den Wittkowski immer noch Wert legt–, ‚den Dichtungen‘ orientiert ist und der Dichtungswissenschaft ohne Forschungskritik (im Sinne einer klassischen disputatio) undenkbar ist. Eine solche Dichtungswissenschaft hat unhintergehbare handwerkliche Aspekte, lebt aus Überlieferungen, hat dem Text zu dienen und nicht sich selbst in den Vordergrund zu spielen. Solide und dabei nicht langweilig zu sein, das ist das Kennzeichen der Generation der Kurt Mays, Fritz Martinis und Wolfgang Wittkowskis. Dichtungen bedürfen keines trend-theoretischen Deckels, sondern der Weite des Verstehens, in die durchaus auch eigene Lebenserfahrungen eingehen dürfen. Diese Haltung ist auf jeder der fast 500 Seiten über Kleists Dichtungen deutlich spürbar, elegant in der Formulierung und in der ausführlichen Forschungskritik sachlich und tolerant, selten spöttisch und polemisch.

Einsichtig demonstriert Wittkowski ein ums andere Mal Kleists dialektisches Kompositionsprinzip: Die radikale, einseitige Positionierung der Protagonisten dient ihnen dazu, die innere Einheit zu sichern: „… von zwei Dingen schnell beschloß ich eines, / Dich zu gewinnen oder umzukommen“, heißt es etwa in „Penthesilea“, oder auch – die bekannte Stelle im gleichen Stück: „Soviel ich weiß, gibt es in der Natur / Kraft bloß und ihren Widerstand, nichts Drittes.“ Doch immer liefert Kleist eine Lösung mit, die der radikalen Positionierung entgegensteht, im Äußeren des Bühnen- oder Handlungs-Spiels entwickelt wird und zu der „Wieder-Auf-Er-Stehung“ führt bzw. führen kann, von der Wittkowski spricht. Stets kommt er auf dieses Kompositionsprinzip zurück: beim „Erdbeben in Chili“, beim „Zerbrochnen Krug“, beim „Prinz Friedrich von Homburg“; eindrucksvoll und leidenschaftlich bei der „Hermannsschlacht“, einem Stück, dass für ihn nicht einfach nur blutrünstige Propaganda ist und ein Vorschein auf die Nazizeit, sondern ein subtiles Spiel, in dem gezeigt wird, wie eine pervertierte Wertordnung wiederhergestellt werden, mit Wittkowski gesprochen: wiederauferstehen kann.

Dass auch die Zuschauer des Stücks bzw. die Leser der Erzählung von diesem Spiel des Dichters ergriffen werden, ist für Wittkowski zwar „ein Traum, was sonst“, aber einer, der im souverän gehandhabten Spiel immerhin aufscheint und am Ende zu einer Art ‚Auferstehung‘ führen kann.

Titelbild

Wolfgang Wittkowski: Kleist. Wert-Ethik, Wahrheit, Widerstand und Wieder-Auf-Er-Stehung. Über deutsche Dichtungen 6.
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2012.
471 Seiten, 76,95 EUR.
ISBN-13: 9783631640036

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