Das Leben gewinnen oder verlieren

In „Die Belagerung der Welt“ hat der Herausgeber Martin Simons das Beste aus Paul Nizons Tagebüchern versammelt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zeit seines Schriftstellerlebens hat Paul Nizon Tagebücher geschrieben. So wuchs – neben den großen Prosatexten – über Jahrzehnte und lange abseits der Öffentlichkeit ein riesiges Konvolut von privaten Notizen. Seit 1995 erschienen in bisher fünf Bänden Auszüge aus den über Tausende von Seiten sich erstreckenden Notierungen. Laut Auskunft Nizons in seiner Nachbemerkung zu „Die Innenseite des Mantels“ (Suhrkamp 1995), dem ersten der veröffentlichten Journal-Bände, handelt es sich dabei um knapp ein Zehntel des insgesamt vorliegenden Materials.

Mit „Die Belagerung der Welt“ hat der Herausgeber Martin Simons nun noch einmal eine Verknappung vorgenommen. Sie stellt wieder her, was die fünf Journal-Bände, indem sie als Erstes die gesammelten Notizen aus den 1980er-Jahren für Leser aufbereiteten, bewusst vermieden: eine durchgängige Chronologie, beginnend mit den 1960er-Jahren, endend mit dem ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende. Weggefallen sind bei der erneuten Verdichtung die kalendarischen Notierungen. Die Reihenfolge der Notizen innerhalb der fünf das Buch gliedernden Jahrzehnte entspricht aber weiterhin jener in den Originalbänden. Das Kürzen innerhalb vieler Notierungen allerdings scheint problematisch, fällt dadurch gelegentlich doch etwas zu viel der Schere zum Opfer. Notwendig – und von Paul Nizon gebilligt – war der Vorgang wohl dennoch, um den Umfangs des Buches im Rahmen zu halten.

Nicht zu teilen vermag man die Ansicht des Herausgebers, dass die in den Originalbänden vorherrschende „Verästelung der wiederkehrenden Motive und Konflikte […] notgedrungen den Zugang zu der dahinterstehenden Existenz [verstellte]“. Letztere vermag dann auch die kurze biografische Hinführung zu Nizon in Simons „Einleitung“ nicht zu erhellen, hangelt sie sich doch mehr an der Bibliografie denn an der Lebensbeschreibung entlang. Darüber, welch eminent wichtige, ja geradezu existentialistische Bedeutung die Begegnung mit Werk und Leben von Vincent van Gogh und Robert Walser für einen Autor hatte, der sich stets in der Fremde – Nizon lebte seit 1976 in Paris – besser wahrgenommen und verstanden fühlte als daheim, erfährt der Leser zum Beispiel in diesen zehn Seiten kein Wort. Wer und warum für den vorliegenden Band den Untertitel „Romanjahre“ gewählt hat, wäre zudem interessant zu wissen.

Jenseits aller Einwände, die sich hauptsächlich der Tatsache verdanken, dass man es bei „Die Belagerung der Welt“ mit der Verknappung einer Verknappung zu tun hat, eignen sich die hier versammelten Notizen aus rund fünf Lebensjahrzehnten, die in Nizons Verständnis auch Liebes- und Schreibjahrzehnte waren, gut, um einen ersten Einblick in die Gedankenwelt dieses solitären – hier und da auch ein bisschen wie aus der Zeit gefallen wirkenden – Schriftstellers zu bekommen. Sie setzen ein nach dem römischen Abenteuer, dem sich der avantgardistische Roman „Canto“ verdankt, und führen hin bis zum Kampf mit einem Romanmanuskript unter dem Arbeitstitel „Nagel im Kopf“, mit dem sich der Schriftsteller im neuen Jahrtausend wieder genauso herumschlägt, wie mit den inzwischen zu Kultbüchern avancierten „Das Jahr der Liebe“ (1981) und „Im Bauch des Wals“ (1989) oder den geradezu sprichwörtlich gewordenen Titeln „Im Hause enden die Geschichten“ (1971) und „Aber wo ist das Leben“ (1983).

Deutlich wird, aus welch vielfältigen Quellen Nizon schöpft, auf welche Weise er in die Kunstprozesse seiner Zeit eingebunden war und ist und – vor allem – wie eng bei diesem Autor Leben und Schreiben ineins gedacht werden müssen, dass hier nämlich tatsächlich einer „am Schreiben geht“, wie es die Frankfurter Vorlesungen von 1984 formulierten, das Schreiben als Krücke benutzt, um im Leben voranzukommen. Wenn diese Haltung gelegentlich auch zu Ungerechtigkeiten anderen gegenüber führt, neben luziden Einsichten sich auch von Starrheit und Unversöhnlichkeit geprägte Auseinandersetzungen mit bestimmten Zeitphänomen finden – wer wollte das einem Mann vorhalten, der meist schon eine Seite weiter wieder Sätze formuliert, die seinen deutschen Verleger Siegfried Unseld zu dem Bekenntnis hinrissen: „Ich las und las, und meine Bewunderung nahm von Seite zu Seite zu.“

Paul Nizon entdeckte in den über die Jahre zu einem „Papierhaufen angewachsenen Schriften“, nachdem er auf Anregung und mit Hilfe von Freunden mit deren Sichtung und Ordnung begonnen hatte, plötzlich jenen nahezu unbemerkt entstandenen „Stoff- und Gedankenspeicher“, von welchem im Nachwort zu seinem ersten publizierten Journalband die Rede ist. Heutigen Lesern ist zu wünschen, dass es ihnen mit der „Belagerung der Welt“ genauso gehen möge. Denn mehr als ein Appetitanreger vermag diese kleine Auswahl aus dem gewaltigen Journal-Werk nicht zu sein. Wenn sie diese Funktion allerdings erfüllt und hinführt zu den Werken dieses Autors – fiktiven wie nonfiktiven –, dann hat sie ihre Aufgabe wohl erfüllt.

Titelbild

Paul Nizon: Die Belagerung der Welt. Romanjahre.
Herausgegeben von Martin Simons.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
352 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423868

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