Der Totentanz von Kitzbühel

In seinem neuen Roman „Seine Zeit zu sterben“ schreibt sich Albert Ostermaier in Rage – nur ein Thriller kommt dabei nicht heraus

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einmal im Jahr versammeln sie sich alle in Kitzbühel: russische Nabobs und Staranwälte, Fernsehidole und Helden des Sports, die, die unbedingt dazugehören wollen, und jene, die seit Jahren nicht mehr wegzudenken sind aus der Gesellschaft der Reichen und Schönen. Einmal im Jahr platzen die zahlreichen Hotels und Pensionen des kleinen Tiroler Orts aus allen Nähten, lässt man Sterne-Köche einfliegen und die Sperrstunde Sperrstunde sein. Einmal im Jahr, nämlich dann, wenn im Januar das berühmte Hahnenkammrennen über die Bühne geht, fallen alle Hemmungen oder, wie Albert Ostermaier in seinem neuen Roman „Seine Zeit zu sterben“ schreibt, „herrscht[…] der Ausnahmezustand“ rund um die Streif, eine der gefährlichsten Skiabfahrtsstrecken der Welt.

Mitten unter all den zu diesem Spektakel angereisten Ganz-, Halb- und Viertelpromis sowie einigen dem skizirkusfremden Flachländer weniger bekannten Pistenhelden von gestern und heute hat Ostermaier sein Romanpersonal platziert. Und mit dem genervten Sound, der im Inneren eines Autos herrscht, in dem eine dreiköpfige Familie sich in Kapitel Eins Richtung Kitzbühel aufgemacht hat, schlägt er sofort die Tonart an, die dem Leser signalisiert, dass es an diesem Wochenende alles andere als entspannt rund um die Skihänge und Schlepplifte zugehen wird.

Alles in allem ist es ein gutes halbes Dutzend Personen, deren Wege der Roman über den Tag des Abfahrtslaufes hinweg verfolgt. Nachdem die Eingangskapitel sie alle separat vorgestellt haben, bringen die drei Teile des Romans und der ihn beschließende, halbseitige Epilog sie dann in Verbindung zueinander, lassen ihre Wege sich kreuzen, ihre Charaktere sich aneinander reiben, ihre Wünsche, Bedürfnisse und Vorhaben miteinander kollidieren. Neben dem bereits erwähnten Ehepaar in der Krise mit seinem kleinen Sohn – man erfährt von ihnen nur die Vornamen Yvonne, Christoph und Igor, einen Familiennamen gibt Ostermaier ihnen nicht, was wohl als Hinweis darauf zu verstehen ist, dass man sich nicht mehr als zusammengehörig betrachtet, in familiärer Auflösung begriffen ist – spielt eine schwangere Polizeikommissarin namens Brigitte Klaid, aus verständlichen Gründen „Bonnie“ genannt, eine weitere Hauptrolle. Man wird sie gut gebrauchen können, denn Yvonnes und Christophs kleiner Sohn verschwindet urplötzlich aus einem Kinderskikurs. Zum Kriminalroman jedoch macht dieser Vorfall Ostermaiers Roman noch lange nicht.

Ja selbst die Tatsache, dass von der Handvoll Protagonisten einige so angelegt sind, dass ausgefuchste Krimileser sie sofort ganz oben auf eine Liste von Verdächtigen setzen würden, rechtfertigt kaum das Manöver des Verlags, dem aktuellen Roman seines Autors mit der Stilisierung zum „sprachmächtige[n] Thriller aus der Glitzerwelt Kitzbühels“ eine kleine Anschubhilfe geben zu wollen. Ein skrupelloser russischer Immobilien-Hai, der den Jungen von einem ihm hörigen Killer töten lassen will – warum auch immer –, ein Ex-Abfahrtsläufer, dem man pädophile Neigungen nachsagt, der undurchsichtige Spielerberater Ödön Lunge mit seiner kaputten Kindheit sowie ein Sexualstraftäter auf der Flucht bieten sich als eventuelle Täter an. Ob es allerdings eine „Tat“ überhaupt gegeben hat, bleibt bis zum Schluss im Unklaren.

Wer sich dennoch auf die Krimischiene locken lässt, wird voraussichtlich arg enttäuscht sein, wenn er es durch die knapp 300 Seiten überhaupt hindurchschafft. Denn deren Qualitäten liegen keineswegs darin, den Gesetzmäßigkeiten eines Genres Genüge zu tun, welches das Buch allenfalls marginal berührt. Das wirklich Aufregende an „Seine Zeit zu sterben“ nämlich ist die Sprache, die der als Lyriker und Dramatiker bekannt gewordene Autor hier zum dritten Mal für eine Prosaarbeit benutzt.

Diesmal scheint sie mir besonders gut zu passen, denn das Metaphern- und Bilderfeuerwerk, welches der Roman abbrennt, die ausufernden Assoziationsketten, der vorwärts peitschende Rhythmus samt dem Mut, mit dem hier zusammengebracht wird, was vorher noch nie ineins gedacht und ge(stab-) reimt wurde, treffen haargenau die Hektik eines Ausnahmetages, an dem sich am Rande einer Piste lauter verletzte Seelen zusammenfinden, um zuzusehen, wie andere ihr Leben riskieren.

Dass Albert Ostermaier noch dazu einen gewaltigen Schneesturm über sein von Anfang an falsches Idyll herfallen lässt, in dem sämtliche Protagonisten dann herumstapfen wie Verlorene, jeder nicht nur auf der Suche nach dem vermissten Kind, sondern auch nach sich selbst, lässt zunehmend das Gefühl aufkommen, einem Totentanz beizuwohnen. Einem Totentanz, der schließlich in trügerische Ruhe mündet. Denn wenn auf den letzten Seiten des Romans alles einfach weitergeht, sich die dunklen Wolken verziehen, der nächste Wettkampftag anbricht und die Sonne aufgeht über den Überlebenden der Horrornacht, sind die meisten Konflikte nicht wirklich gelöst, sondern nur verschoben bis zum nächsten Knall.

Titelbild

Albert Ostermaier: Seine Zeit zu sterben. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
300 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423820

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