Die Hölle der Übertragungen

Dantes „La Commedia“ in der Neuübersetzung von Hartmut Köhler. Eine verspätete Rezension

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dante kann man unmöglich abends zu Hause lesen,
man brauchte etwa 2 bis 3 Jahre dazu und völlige
Sammlung und einen eingehenden Kommentar.“

(Hans Jürgen von der Wense)

Kein Zweifel, die nachmals als „göttlich“ apostrophierte „Commedia“ des Dante Alighieri von Florenz hat teuflich viele und ausgesprochen konträre Lektüren hervorgerufen; und sicher sind es nicht zuletzt diese sich überlagernden, sich variierenden, sich zusetzenden, aber auch sich widersprechenden, sich ausschließenden, sich erdrückenden interpretativen Anstrengungen, die das Werk als jenen Monumentalbau infinitesimaler Sinnerzeugungsprozeduren überhaupt erst aus der Geschichte der Literatur so eigentümlich hervor- und heraustreten lassen; auch in Deutschland. Denn Dantes kosmologisches Über-Werk, darin der Poet „bericht / himlisch, irdisch, hellische ding, / Ganz artlich, subtil, nit gering“, wie schon Hans Sachs zu vermelden wusste, erwies sich bereits zu Beginn der frisch anhebenden, intensiveren deutschsprachigen Dante-Rezeption Mitte des 18. Jahrhunderts als gleichermaßen formal widerspenstig wie architektonisch-kathedralisch. So rügt Johann Nikolaus Meinhard 1763 ganz im Zeitgeist der Aufklärung das Über-Werk des Florentiners als „wildes, unregelmäßiges und ungleiches Gedicht“, während Johann Jakob Bodmer im selben Jahr keineswegs den „Pomp unzeitgemäßer Gelehrsamkeit“, sondern vielmehr eine veritable „Enzyklopädie der Wissenschaften“ in den 14.233 Versen zu erkennen vermag. Siebzig Jahre später wird Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen „Vorlesungen zur Ästhetik“ Dantes monumentales dreigipfliges Werk als „das eigentliche Kunstepos des christlichen katholischen Mittelalters“ bezeichnen, während, wiederum konträr, Friedrich Wilhelm Schelling in ihm die avancierteste und modernste Verschmelzung von Wissenschaft, Theologie und Poesie vorzufinden behauptet, „zu welcher die ganze neuere Zeit sich neigt“. Noch moderner böte es sich sicher an, in der Anlage der topografischen Jenseitsdurchmessung die Matrix einer religiös-ästhetischen, spezifisch abendländischen Rettungsbewegung zu erkennen, die erst im Durchgang durch den kompletten Trichter-Raum der Negativität hindurchmuss, um die dialektische Heils-Zauberei in Gang zu setzen; und doch wäre es – ungleich unmoderner – keineswegs abwegig, in dem großem Gesang zugleich die Apotheose eines cäsarischen Kaisergedankens auszumachen, den neu zu formulieren der Autor sich zum Ziel gesetzt habe. Wie widersprüchlich im letzten die Lektüren und die Sinnbezüge, die sie stiften, auch ausfallen mögen, eines ist sicher: Dantes „Commedia“ ist zunächst und vor allem kein Paradies der Lektüren, sondern die Hölle der Übertragungen.

Das gilt zuerst natürlich für die endlos vielen Traduktoren, die Dantes Vers-Massiv unter beträchtlichen Qualen und Opfern zu besteigen versucht haben; allein sechzig komplette Übertragungen und über einhundert Teilübersetzungen sind in deutscher Sprache aktenkundig, darunter Vorgebirgserkundungen von Übersetzungs-Spezialisten wie Schelling und August Wilhelm Schlegel, wie Stefan George und Rudolf Borchardt, Kurzsondierungen von so namhaften literarischen Inspizienten wie Andreas Gryphius, Johann Wolfgang von Goethe und Carl Gustav Carus, und vollständige Gipfelbesteigungen von Ausdauerwundern wie Lebrecht Bachenschwanz, dem die erste Komplett-Übertragung zu danken ist, Karl Ludwig Kannegießer, der den Reim achtete, Philaletes, dem König von Sachsen, der auf ihn verzichtete, Karl Vossler, dem so bedeutenden Romanisten, Hans Deinhardt, dem Archaicus, oder Kurt Flasch, dem Philosophen.

Diese offenkundige Übertragungsmanie, die Dante auslöst, gilt aber nicht nur für die professionellen Worttransporteure, die das Werk von Landessprache zu Landessprache expedieren, sondern lässt sich bereits in der Binnenlogik der „Commedia“ selbst entdecken. Denn was wäre der Erkundungsauftrag der „Göttlichen Komödie“ anderes als die Verpflichtung des Bericht erstattenden Wanderers, sich von den bestraften, sich reinigenden oder sich verklärenden Jenseits-Welten-Bewohnern Kunde geben zu lassen, um anschließend diese Kunde – sei’s in ein stabiles scholastisches System von Verbrechen und Strafe, sei’s in die memoria der wirklichen und wahren Lebenswelt anno 1200 – zu übertragen. Dabei ist diese Übertragung, die der Wanderer da leistet und die der Dichter in Terzinen umgießt, immer auch ein ambivalentes Phänomen: Sie ist Rettung und Rache zugleich; sie bewahrt das Gedenken auf von solchen, die sich in den meisten Fällen am liebsten aus allem Gedächtnis gelöscht sähen. Und eben deshalb wird man sich Dantes Textreich als eine Höllenmaschine der Übertragungen denken müssen.

Diese eigentümliche Mischung aus Rettung und Rache, die im Binnenraum des Werkes haust, scheint sich allerdings noch allen Übersetzungen mitzuteilen, die sich in die Dantesche Übertragungshölle hineingewagt haben. Denn wie auch immer die Polreise ans Ende der Verse vonstatten gegangen sein mag – mit oder ohne Originaltext, in Terzinen mit weiblichen Reimen, in Terzinen mit männlichen und weiblichen Reimen, in Versen ohne Reim, in Prosa, mit oder ohne Kapitelvorwort, mit oder ohne Kommentar – am Ende wird von Canto zu Canto die Frage immer unabweisbarer, wie denn ein einzelner Erdenknecht so vermessen gewesen sein konnte, den sich immer weiter ausdehnenden kosmischen Raum der Danteschen Elevation in enge nationalsprachliche Grenzen überführen zu wollen. Denn die unüberschaubar große Anzahl von Traduktionen zeugt ja nicht nur von der geradezu biblischen Anziehungskraft des Danteschen Höllen-Opus, sondern auch von den unendlichen Einflüssen und Zuströmen, von den zahllosen Revisionen und Neupositionierungen, von den immer wieder notwendigen Re-Lektüren und fast schon rituell betriebenen kulturellen Selbstversicherungen, zu denen ein Werk zwingt, das sich zwischen den klaren Gattungen, zwischen den klaren Disziplinen, zwischen den sprachlichen Stillagen und offensichtlich auch zwischen den historischen Epochen im Grenzgang bewegt.

In diese Übersetzer-Hölle Dantes hat sich über Jahre der im Dezember 2012 verstorbene Romanistikprofessor Hartmut Köhler hineingewagt, dessen dreibändige und bibliophil eingekleidete Neu-Übersetzung der „Commedia“ kurz vor seinem Tod abgeschlossen und publiziert wreden konnte. Und sie, Köhlers Übersetzung, zeigt sich dabei als kaum glaubliche Texterstellungs-, Textübertragungs- und Textkommentierungsleistung eines bis zum Ende offensichtlich höchst tätigen Wissenschaftlers, dessen intime Vertrautheit mit dem Text, dessen exuberante Kontextualisierung von Geschichte, Philosophie, Sprache, Religion, dessen wissenschaftliche Reputation und dessen höchst rege Vernetzung mit der weiten Welt und der langen Zeit der Dante-Forschung die Übertragung erst zu eben der Herausforderung macht, die es wert ist, eingegangen zu werden.

Wie nun aber sieht sie aus, diese neue Übersetzung, welche Entscheidungen hat Köhler getroffen, mit welchen Begründungen und mit welchen Konsequenzen? Der Reihe nach. Zunächst und wie kaum anders zu erwarten: Köhler präsentiert die „Commedia“ zweisprachig in direkter Gegenüberstellung. Und ebenfalls, wie kaum anders zu erwarten: Köhler überträgt die Danteschen terze rime und den Endecasillabo mit seinen weiblichen Endungen nicht in den deutschen fünfhebigen Jambus, noch traut er gar dem Reim, weil Reim und Rhythmus, so Köhler, die Übersetzung im Letzten zu inakzeptablen Kompromissen und Reduktionen zu zwingen pflegen. Das ist natürlich ebenso richtig, wie es die Übersetzungstradition mit etwas zu leichter Hand vom Tische räumt. Denn kein Geringerer als August Wilhelm Schlegel bereits hatte in Sachen „Commedia“-Übersetzung explizit gefordert, „die Härten in der Sprache und im Versbau“ des Danteschen Textes beizubehalten, die Komplexität der Syntax nicht einem schmiegen Klassizismus zu opfern und die bisweilen befremdliche Lexik weder zu kassieren noch abzuschmirgeln.

Gleichwohl bleibt natürlich unbestreitbar, dass der Versuch, den manifest ästhetischen Überschuss von Reim und Rhythmus zu retten, das gegen Unendlich aufgespannte innere Bedeutungs- und Beziehungsnetz der „Commedia“ zwangsläufig stark, zu stark beschädigen muss. Lieber also sachlich die Einbuße der alles umfassenden Verse-Haut akzeptieren, als eine falsche Identität zwischen Original und Übersetzung vorspiegeln – eine programmatische Vorentscheidung, die Köhler nicht nur gegen die tendenziell zur Homogenisierung neigenden Übertragungsversuche des 18. und 19. Jahrhunderts ins Feld führt, sondern ebenso gegenüber jenen archaisierenden Übersetzungsentwürfen etwa von Hans Deinhardt oder auch von Borchardt, die die Widerständigkeit der „Commedia“ im Deutschen durch regional-dialektale Einfärbungen, durch betont ruppige Konsonantenströme, durch verkantete Grammatik und durch nicht selten nur ahnungsweise verständliche Neologismen und Analogbildungen meinten retten und spürbar machen zu können. Gegen beide Konzepte erscheint es Köhler darum „ehrlicher und plausibler (…) eine Prosaauflösung anzustreben, die in Syntax, Wortwahl und Idiomatik unserem heutigen Sprachgebrauch gemäß ist und sich dank ihrer größeren Freiheit auch enger am Original halten kann“. Anders gesagt: Eine Art biblisch-dantesche Einheitsübersetzung soll es werden.

Soweit, so ohne Zweifel einleuchtend und ohne Frage wissenschaftlicher Konsens. Allerdings, sieht man sich die Köhlersche Übersetzung nun konkret und im Detail an und misst sie an den schmalen methodischen Prolegomena, die der Ausgabe beigegeben sind, so ist man doch nicht selten überrascht, den Übersetzer wiederholt die eigenen Vorgaben preisgeben zu sehen; die Eindeutschung ist nicht halb so ,herb’, so programmatisch aufgerauht und so puristisch auf Originalnähe bedacht, wie sie zu sein behauptet. Zwar leidet diese Übersetzung nicht länger unter unerfüllbarem ästhetischem Überanspruch, bezahlt allerdings dafür mit einer gewissen textuellen Untercodierung; ihre betonte Zurückhaltung ist eher anämisch als texttreu, ihre Nüchternheit neigt zum Unterdruck, nicht immer zu größerer Präzision oder Plastizität. Bisweilen verwechselt sie ihre intentionale Entdramatisierung mit einer eigentümlichen und ganz unnötigen Einflachung.

Das betrifft und zeigt sich, um die stets marginal und zufällig wirkenden Welten der Konkretion zu betreten, etwa an dem Wechsel der Wortart, den Köhler auf dem Weg von dort nach hier nicht ungerne passieren lässt. Wiederholt nämlich verwandelt der ansonsten so reflektierte und erfahrene Übersetzer Dantesche Substantiva in verbale Aktionen oder in adjektivische Befindlichkeiten mit der Folge, dass die Eigenmacht der Passionen, die in der „Commedia“ den Figuren und ihrem zunächst ganz unaufgeräumten Affekthaushalt übergroß entgegenstehen, in innerpsychische Prozesse aufgelöst zu werden droht. Oder ist es gleichgültig, ob der Wanderer die erste schlimme Nacht im Wald „mit so großer ,pietà‘“ verlebte oder ob er sie „so erbärmlich zubrachte“ (Inf.I,20)? Ist es gleich, ob das Gedächtnis des Wanderers, das sich am Schwierigsten erproben soll – am vielfältigst Heterogenen einer zunächst völlig unüberschaubaren höllischen Gegenwelt – nun seine ,nobilitate‘ unter Beweis stellen soll oder nur erweisen, ob es auch „ausgezeichnet“ ist (Inf.II,9)? Ist es eins, den Schmerz als eigenständiges und steigerungsfähiges Wesen zu verstehen („nessun maggio dolore“) oder es in die verbale Phrase aufzulösen: „Nichts schmerzt doch mehr, als“ (Inf.V, 121)? Warum die „oltracotanza“, die Anmaßung, ja die latente Empörung der Engel im Neunten Gesang des Infernos in den Vorwurf an die Himmelsboten übertragen, sich doch bitte nicht „unbotmäßig aufzuführen“ (Inf.IX,93)? Werden hier Tischsitten verhandelt? Müsste nicht gerade Dantes Grenzgang zwischen der antikisch-objektiven Eigenmacht der Passionen und der fortschreitenden Verinnerlichung der Affekte genauestens differenziert bleiben?

Sicher, derlei homogenisierende Retuschen mögen angesichts der monströsen Übersetzungsleistung unbedeutend erscheinen und sind es sicher auch. Gleichwohl, am nachhaltigsten schmerzt oft der kleine Splitter, der unerklärbar bleibt. Warum etwa versetzt Köhler die wörtliche Übersetzung der mit Absicht überaus gewundenen Anrede des Sonettendichters Guido Guinizzelli in seiner wörtlichen Fassung: „Ich will dich gerne frei machen, über mich (etwas wissen) zu wollen“ (Pur.XXVI, Anm.91) in den Kommentarapparat der Fußnoten, kocht aber in der Übersetzung selbst den Satz herunter auf: „Solltest du es nur von mir wissen wollen, so will ich es dir gerne sagen“? Warum muss hier die bewusste Stildifferenz zwischen den beiden Dichtern kassiert werden, die sich doch so leicht aufbewahren ließe, um einer nur halbverständlichen Banalität Platz zu machen? Und umgekehrt. Warum wird Vergils erstaunte Anfrage an den wildwütigen Wanderer: „Perché tanto delira?“ zu einem archaisierenden: „Seit wann furchst du derart aus?“, das weder historisch noch ästhetisch begründet ist? Eine geheime Reminiszenz an Deinhardt? Ein Verweis auf latente, frühere Sprachschichten? Das verführerische Glück des guten Einfalls?

Aber nicht nur die Ausnahmen, die Abänderungen und Auffälligkeiten, die sich die Übersetzung erlaubt, bergen Schwierigkeiten und Entscheidungs-Fraglichkeiten, auch das grundlegende Prinzip ,herber‘ Wörtlichkeit selbst führt bisweilen beträchtliche Probleme mit sich. Sicher, der Ansatz ist klar und deutlich: Keine Macht den traditionellen Einschleifungen, den idiomatischen Verhärtungen, keine Schockstarre kanonisierter Lösungen. So gesehen macht es natürlich Sinn und ist nur konsequent, wenn die berüchtigte Inschrift auf dem Tor zur Unterwelt – das italienische „voi ch’entrate“ – bei Köhler nicht zum deutschen „Ihr, die ihr eintretet“ werden darf. Denn unter der Selbstverständlichkeit der bekannt höllischen Formel gehe verloren, so die Erklärung des Übersetzers, dass das „entrare“ im Italienischen einen ganz neutralen Vorgang bezeichne, im Deutschen aber „stolz und willentlich“ vor sich gehe; und diese unbeachtete, aber eben durch die Wortwahl zwangsläufig dem Sinn injizierte Konnotation sei ein Affront gegen alle jene, die unter Lagern gelitten hätten: Alexander Solschenizyn, Primo Levi, Imre Kertész, Herta Müller. „LASST ALLE HOFFNUNG FAHREN, WENN IHR HIER HEREINKOMMT“, soll es nun nach Köhler heißen.

Das klingt unglücklich und ist unglücklich nicht nur, weil der konditionale Nebensatz die fatale Schwellenüberschreitung zu einem blassen Türeöffnen herunterpegelt – und leider keineswegs wie eine Inschrift erscheint, die die Erfahrung von Lagerinsassen in sich aufzuheben verspricht. Sie ist unglücklich vor allem deshalb, weil Köhler übersieht, dass Sätze, die von der stereotypen Wiederholung ergriffen werden, nicht immer nur Sinn verlieren, sondern bisweilen auch Bedeutung anlagern; dass in der sprachlichen Repetition sich Erfahrung sedimentieren kann. So hat das „ihr, die ihr eintretet“ – ganz abgesehen davon, dass das „eintreten“ phonologisch dem italienischen „entrare“ viel besser entspricht – inzwischen und gerade durch die Wiederholung aus den Zeugnissen so vieler Lagertraumatisierter die Patina genau jenes Über-Katastrophischen angenommen, die Köhler ihr gerade abspricht; er eskamotiert die historische Erfahrung, die er dem Text zurückerstatten möchte. Ob das Verb „eintreten“ in anderen Zusammenhängen mit persönlichem Stolz und aufrechtem Willen konnotiert werden kann, spielt im Kontext der „Commedia“ und ihrer späten Zitation keine Rolle; hier und durch die Geschichte seiner langen Verwendung und Übertragung wird das Verb zu einem Terminus der Vernichtung; zu einer Art katastrophischer Flüsterformel.

Nun kennt Köhler natürlich die arktischen Probleme, die sich zwischen einem sprachlich und historisch weit entfernten Original, einer zeitnah konzipierten Übersetzung und den geradezu uferlosen, immer variablen Kontexten und Subtexten ergeben. Deshalb, um den Höllenstrom der bedeutungskonstituierenden Nebenstimmen weder auszutrocknen noch für obsolet zu erklären, um sprachliche Unübersetzbarkeiten in ihrer Unübersetzbarkeit deutlich und auch um die ästhetischen Unwiederholbarkeiten des Originals diskursiv machen zu können, installiert der Übersetzer zu Füßen des italienisch-deutschen Doppelblatttextes zusätzlich einen Kommentarapparat, der es in sich hat. Diese Entscheidung ist besonders glücklich, weil der hilfestellende Erklärungs-Index sich nicht, wie etwa bei Gildemeister, auf kurze einleitende Perspektivierungen beschränken muss und darüber die geradezu unendlichen Detailprobleme zu vergessen in Gefahr ist, die der Text aufwirft, noch sich gezwungen sieht, den Kommentar-Apparat in drei Extra-Bände auszulagern, wie Hermann Gmelin es mit seiner „Commedia“-Ausgabe getan hat. Vielmehr kann Köhler durch die synoptische Darstellung von Original, Übersetzung und Kommentar nicht nur eine nahezu synchrone Lektüre von Text und Subtext ermöglichen, sondern immer auch die Differenz-Gräben diskursiv ausmessen und vielfach überbrücken, die sich zwischen „Commedia“ und „Komödie“ ununterbrochen auftun. So wird das Lesen zu einer glücklichen Triangulatur der Danteschen Kathedrale im Zwischenreich der Transpositionen. Erst im Paradiso tritt dann leider und leider wiederholt der Kommentar über die Ufer seiner Fußnotengefilde. Folge: Die Stimme des Kommentators spricht dem Text nicht mehr zu, sondern beginnt ihn zu überdecken. Die Proportion zwischen Lektüre und Zutrag gerät aus der Balance; gerade der synoptische Zugriff, stärkste Stärke dieser Ausgabe, geht zusehends verloren. Hier hätte die Verlags-Redaktion offensiver eingreifen müssen.

In der Sache selbst nun ist dieser Köhlersche Kommentar gesättigt von der großen Tradition all jener Aufhellungen, die bereits seit dem 13. Jahrhundert den Dante‘schen Text begleiten. Eingespeist wird ebenso luzide wie akribisch zum einen der ganze historische Horizont, vor dem und in dem sich das Dantesche Schreiben entfaltet: die Scholastik, die Patristik, die Mystik, die Bibelexegese, die Sprachgeschichte, die politische Geschichte, der Neoplatonismus, die Aristoteles-Nachfolge, überhaupt die Antikenrezeption mitsamt figural-christologischer Umdeutung; zum anderen trägt Köhler die inneren Verflechtungen und Bezüge des Danteschen Werkes selbst ein: die tagespolitischen und lebensgeschichtlichen Kontexte des Exilanten, die werkimmanenten Verstrebungen von Motiven, Bildern, Figuren, Topographien innerhalb der „Commedia“ selbst, dazu die Verknüpfung des „Canto“ mit dem erweiterten Danteschen Schrift-Imperium: mit den „Rime“, mit der „Vita nova“, mit „Convivium“, „Monarchia“ und natürlich mit dem programmatischen Brief an Can Grande – das ganze Reich also der ritualen Formierung des Stils, der privaten Mythologie.

Dieser historisch riesige Kommentarapparat wird von Köhler überaus geschickt in die begrenzten Zeilen zu Füßen des italienisch-deutschen Textes eingefiltert. Seine Konspekte sind geschliffen-präzise und finden immer wieder eine neue Lesart in der Sache selbst dann, wenn der faktische Befund nicht unbekannt ist. Heißt es etwa in Gmelins Kommentar zum Dritten Gesang des Infernos: „Dreifach ist auch die Anapher der Eingangsterzine, und dreifach ist die Wirkung Gottes in seiner Dreieinigkeit angesprochen“, so schreibt Köhler quasi fort: „Die dreifache Anapher und der dreifach wiederholte Rhythmus der ersten Terzine gleichen einem drohenden Trommelwirbel“ (I,42) – Köhler wechselt gewissermaßen enharmonisch von der Erhabenheit zur Angst. Wo Gmelin den Wächter Minos im Fünften Gesang des Infernos mit den Worten charakterisiert: „Wie Charon ist auch Minos mittelalterlich dämonisiert, ein Organ der göttlichen Gerechtigkeit, mit einem Abglanz antiker Würde“, da heißt es bei Köhler: „D. dämonisiert ihn, belässt ihm jedoch eine gewisse Würde im Ausdruck. Michelangelo wird ihn im „Jüngsten Gericht“ nach D.s Vorstellungen gestalten“, um anschließend noch einen kleinen Auszug aus Brechts unvollendeter „Dante-Revue“ von 1948 hinzuzugeben.

Gerade dieses Beispiel zeigt an, wo Köhler neben der produktiven Fortschreibung mit seinem Kommentar wirklich neue Wege geht, und er tut dies vor allem in zweierlei Hinsicht. Zum einen nämlich zieht Köhler konsequent die ästhetischen Fluchtlinien aus, die sich von der „Commedia“ durch die Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte bis heute auffinden und nachzeichnen lassen, von den troubadourischen Zeitgenossen bis zu Pound und Beckett und Murakami – ein Prozess, der sicher zum aufregendsten und besten gehört, was dieser Kommentar leistet.

Zum anderen versucht Köhler, Dantes rigide Zeitdiagnostik bis ebenfalls an die amtierende, unmittelbar-historische und politische Gegenwart des 20. und frühen 21. Jahrhunderts heranzuführen und wenn nicht zum kritischen Kommentar, so zumindest zum unmissverständlich-stirnrunzelnden Spiegel der Jetztzeit zuzuspitzen – sicher das unaufregendste und unglücklichste, was dieser Kommentar leistet. Denn die Präsupposition, Dante werfe in der „Commedia“ Existenzfragen „aller Zeiten“ auf (Par. XVI, Anm.1) und porträitiere fundamental-menschliche Verfasstheiten, verführt Köhler dazu, etwa aus dem „nell mezzo del cammin“ des Anfangs die frühe mittelalterliche Fassung einer spätmodernen ,midlife crisis‘ herauszulesen und die infernalisch bestrafte Sünde der Habgier im Achten Kreis des Infernos mit der Unterschlagung von Uno-Geldern in der irakischen Post-Hussein-Epoche kurzzuschließen. Die „vita activa“ im Werk des Florentiners ist Köhler dann „modern gesprochen“ nichts als „europäische Rastlosigkeit oder Dynamik“, und die Rede von Reue, Buße, Beichte im XXXI. Canto des Purgatoriums kehrt ihm wieder im Sprachgebrauch gegenwärtiger Wirtschaftskriminalität. Klar, dass unter solchen Auspizien – und nicht ganz unabsehbar – das immer weiter purgierte „piacer santo“ des Purgatoriums eine direkte Vorform Freudscher Sublimierung darstellen muss und die Wahrheit der Danteschen Himmelssphärenreisen sich in der heutigen Astrophysik als echt, wahr und wirklich bestätigt finden darf. Diese Technik der Aktualisierung enthüllt sich endlich als launiger Kunstgriff des Bonmots, wenn man in der Fußnote erfährt, dass „Charon“ nicht nur der Unterwelts-Fährmann ist, sondern auch der Name einer Hard-Rock-Band (Inf.,III, Anm.94), dass sich hinter „Cerberus“ nicht nur ein Torwächter im Orkus, sondern auch „ein weltweit tätiges Fonds-Management-Unternehmen“ verbirgt (Inf.,VI, Anm.13) und hinter „Arachne“ der Name eines Browsers.

Das alles ließe sich angesichts des schwindelerregenden Projektes, die „Commedia“ neu zu übersetzen, als belanglose Fußnote abtun, wenn sich darin nicht etwas Grundsätzlicheres andeutete, und das ist eine beträchtliche Enthistorisierung des Textes zu Gunsten des Wissens, dem alles Kommentar wird. Vielleicht klingt die Übersetzung deshalb weitgehend eben nicht herb, sondern einfach farblos, nicht weil sie auf alle ästhetische Überformung verzichtete, sondern weil sie kein Konzept besitzt, zwischen Text und Übersetzung ernsthaft zu vermitteln – und nicht nur gut informiert zu übertragen. Wolfgang Schadewaldt konnte das Verständnis der frühen griechischen Philosophie dadurch neu fundieren, dass er ihre Begrifflichkeit im Spannungsfeld zwischen einer elementar-philosophischen und einer literarisch-bildgeprägten Sprache neu ausmaß: er vermittelte die historische Ferne durch ein kontextuelles Sprach- und Begriffskonzept, das eine unebene, prozessuale, noch ganz von der unfertigen Anschauung bestimmte Antike entdeckte. Adorno und Horkheimer revolutionierten die Lektüre Homers umgekehrt gerade dadurch, dass sie über den Zwischenschritt einer Fundamentalanalyse des aufklärerischen Vernunftbegriffs die „Odyssee“ als quasi bürgerlichen Ursprungsroman mit den Aporien der Moderne des 20. Jahrhunderts und innerhalb einer Logik der Steigerung vermittelt denken konnten. In beiden Fällen war es das Vermittlungskonzept, das den Übertragungen und Interpretationen ihren (mag sein: historischen begrenzten) Wert sicherte.

An die Stelle dieser Aufgabe der Vermittlung tritt in Köhlers Dante-Übersetzung nun eine nicht fröhliche, sondern eher eine fidele Wissenschaft. Statt Übermut, Unruhe, Gewitter, wie bei Nietzsche, herrscht die gute Laune und das Wissen, dass ein gut informierender Kommentar auch einmal mit den Augen zwinkern darf – eine Art unwillkürliche Philologen-Postmoderne kommt hier zum Zug. Der Effekt allerdings ist seltsam. Das endliche Triumvirat aus Original, Übersetzung und Kommentar erzeugt bei Köhler nämlich einen Text, der zwar in jeder Hinsicht ausgeleuchtet ist und begehbar wird, dafür aber jedes textuelle Aroma verloren hat. So legt man die drei schweren Bände verwundert zur Seite mit dem Wissen, dass es gute Gründe gibt, auch zukünftig weitere Expeditionen in Dantes Hölle der Übersetzungen auszurüsten. Etwa – warum nicht – in Form einer dreispaltigen Anlage, die neben den Originaltext eine strenge Interlinearversion setzt und neben die Interlinearversion eine freiere Übersetzung oder Nachdichtung, die sich nicht scheut, auch den ästhetischen Überschuss des Originals ins Spiel zu bringen; der eigenwillige Privatgelehrte Hans Jürgen von der Wense hat sich an derlei Übertragungs-Konzepten schon in den 1920er-Jahren versucht. Die reinliche Scheidung und philologische Ausdünstung von Sag- und Übertragbarem in einem Text, der Sag- und Übertragbarkeiten wenn nicht unterminiert, so doch maßlos vervielfacht, dürfte mit Köhlers Übertragung an ihre traduktorischen Grenzen gestoßen sein. Aber vielleicht wiederholt sich auch hier nur abermals jene Verschlingung von Rettung und Rache, die noch jede große Dante-Übersetzung zum Scheitern gebracht hat.

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Dante Alighieri: La Commedia / Die göttliche Komödie.
Übersetzt aus dem Italienischen und kommentiert von Hartmut Köhler.
Reclam Verlag, Stuttgart 2012.
2082 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783150300459

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