Staatshämorrhoidarier

Max Nordaus kulturkritische Fin-de-siècle-Schrift „Entartung“ und ihre Kritik an Richard Wagners Antisemitismus

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die schärfste historische Kritik am „Richard-Wagner-Dienst“

Das Richard-Wagner-Jahr 2013 ist vorbei. In dem Themenschwerpunkt, den literaturkritik.de im Mai letzten Jahres anlässlich von Wagners 200. Geburtstag über den umstrittenen Komponisten zusammenstellte, konnte allerdings eine Edition noch nicht berücksichtigt werden, die erst im letzten August erschien. Es lohnt sich, dieses seltsame Dokument zu lesen. Handelt es sich doch um eine der furiosesten Kritiken der verhängnisvollen ideologiegeschichtlichen Rolle Wagners in seiner Zeit. Die Rede ist von von Max Nordaus berüchtigter kunst- und kulturkritischer Denkschrift mit dem gleichermaßen abstoßenden wie entsetzlichen Titel „Entartung“ (1892/1893). Die Heidelberger Literaturwissenschaftlerin Karin Tebben hat die einstmals in zwei Bänden erschienene Philippika gegen angeblich ‚kranke‘ Geister wie Charles Baudelaire, Henrik Ibsen, Friedrich Nietzsche, Lew. N. Tolstoi und Émile Zola, die ex negativo eine „Art Kompendium der gesamten künstlerischen Avantgarde der frühen Moderne“ enthält, wie Tebben festhält, in einer kommentierten Neuausgabe vorgelegt. Diese Edition ist ein willkommener Anlass, sich eingehender mit Nordaus Wagner-Kritik auseinanderzusetzen.

Wer Nordau war, wurde letztes Jahr in der besagten Wagner-Ausgabe von literaturkritik.de bereits kurz umrissen: Der in Ungarn als Sohn jüdischer Eltern geborene, auf Deutsch schreibende und in Paris lebende Zionist Nordau war Mediziner, Journalist und Autor von Büchern, die im 19. Jahrhundert viel gelesen und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Nordau war ein veritabler Debattenmacher: Bücher wie „Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit“ (1883) lösten internationale Kontroversen aus. Nordaus 1892 und 1893 in verblüffend kurzer Zeit „gleichsam automatisch“, da angeblich aus der Erinnerung an seine „früher gebildeten Gedanken“ heraus niedergeschriebene Werk von insgesamt annähernd 900 Seiten enthält eine kulturgeschichtliche Kritik am „Richard-Wagner-Dienst“. Dieser „Dienst“ wird von Nordau in seiner erbosten Analyse als regelrechter Götzendienst verurteilt. Handelte es sich doch aus Sicht des Autors dabei um ein paradigmatisches Anzeichen einer allgemeinen „Entartung“, also der ‚Degeneration‘ der gesamten deutschen Kultur.

Bei diesen befremdlichen Stichwörtern klingeln bei heutigen Leserinnen und Lesern sofort – und berechtigterweise – alle Alarmglocken. Dass der gemeinsame Gegner der Entartungs-Verdikte von Nordau und der späteren NS-Kunstpolitik die „entartete“ Kunst und Literatur der ästhetischen Moderne war, irritiert. Falsch ist allerdings, dass der jüdische Autor mit „Entartung“ den gleichlautenden Begriff der nationalsozialistischen Praxis kultureller, rassistischer und antisemitischer Diskriminierungen bzw. Vernichtungsprogramme im kompletten Wortsinn vorweggenommen haben soll, wie man zeitweise meinte. Richtig ist vielmehr, dass Nordau zu einer Zeit literarisch sozialisiert wurde, „in der die Programmatiker und Theoretiker des bürgerlichen Realismus ihre klassizistischen Wertmaßstäbe mit Nachdruck zur Geltung gebracht“ hatten, wie Thomas Anz in seiner 1989 erschienenen Habilitationsschrift „Gesund oder krank? Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur“ erinnert: „Bei allen Affinitäten zur nationalsozialistischen Kulturkritik stehen dieses Buch und sein Autor doch auch weit von ihr entfernt. Und zwar nicht nur, weil Nordau Jude war. Man könnte im Gegenteil daraus, daß er ursprünglich Max Simon Südfeld hieß, folgern, er habe sich mit seiner Namensänderung arisieren wollen. Dagegen spricht indes nicht erst sein zionistisches Engagement seit 1896, sondern schon seine vehemente Kritik deutschnationaler Ideologiebildung in ‚Entartung‘. Auf dieses Buch hätte sich später die nationalsozialistische Kampagne gegen die ‚entartete Kunst‘ nicht nur nicht berufen können, weil es ein Jude verfaßt hatte, sondern auch deshalb nicht, weil sie sich hier selbst zum pathologischen Fall hätte disqualifiziert sehen müssen“. Heiße es doch in „Entartung“ zum Beispiel: „Die deutsche Hysterie gibt sich im Antisemitismus kund, dieser gefährlichsten Form des Verfolgungswahnsinns, in welcher der sich für verfolgt Haltende zum wilden, jedes Verbrechens fähigen Verfolger wird.“

Der ‚Weltverbesserer‘ Nordau rügt Wagners „schwankende Schatten-Vorstellungen“

Liest man heute Nordaus Kapitel „Der Richard-Wagner-Dienst“ aus „Entartung“, so fällt vor allem die große Freude des Autors an geschliffenener Polemik auf. Nordaus Stil ist der eines versierten Feuilletonisten und Kritikers. Wenn man auch vielen Sätzen anmerken mag, dass sie geradezu anfallartig niedergeschrieben worden sein müssen, so sind Nordaus Formulierungen doch meist voller rhetorischer Brillanz und Witz. Nordaus Schreibweise entspricht also paradoxerweise exakt jener eleganten Form geistreicher, spöttischer respektloser Bewertungen künstlerischer Hervorbringungen, die man in Deutschland seit der Romantik so gerne als ‚jüdisch‘ und ‚rabulistisch‘ angriff und im Nationalsozialismus endgültig als ‚zersetzende’ Neinsagerei und Nörgelei verbot. Mit den ungelenken, plumpen und hastig zusammenplagiierten Schriften späterer Rassenideologen hat Nordaus Schrift „Entartung“ also schon allein sprachlich rein gar nichts gemein.

Die Romantik ist die Epoche, welche Nordau als Wurzel jener „mystische[n] Zeitbewegung“ ausmacht, aus der in Deutschland das endemische Phänomen der „Richard-Wagnerei“ hervorgegangen sei, welches alles bisher Dagewesene in dieser Richtung weit übertroffen habe. Und zwar nicht nur in Anbetracht der grotesken Größe der Verehrung, die Wagner hier entgegengebracht wurde, sondern auch im Blick auf die angeblichen ‚Krankheiten‘ des Gerühmten, deren genüssliche Aufzählung durch Nordau ausführlich zitiert sei: „Es ist der deutsche Beitrag zum modernen Mysticismus und er wiegt weitaus Alles auf, was die übrigen Völker zu diesem geliefert haben. Denn Deutschland ist gewaltig in Allem, im Schlimmen wie im Guten, und das Ungeheure seiner Urkraft gibt sich in seinem Entartungs- wie in seinen Veredelungs-Bestrebungen überwältigend kund. Der eine Richard Wagner ist allein mit einer größeren Menge Degeneration vollgeladen als alle anderen Entarteten zusammengenommen, die wir bisher kennengelernt haben. Die Stigmate dieses Krankheitszustandes finden sich bei ihm mit unheimlicher Vollständigkeit und in üppigster Entfaltung vereinigt. Er zeigt in seiner allgemeinen Geistesverfassung Verfolgungswahnsinn, Größenwahn und Mysticismus, in seinen Trieben verschwommene Menschenliebe, Anarchismus, Auflehnungs- und Widerspruchssucht, in seinen Schriften alle Merkmale der Graphomanie, nämlich Zusammenhangslosigkeit, Gedankenflucht und Neigung zu blödsinnigen Kalauern, und als Grundlage seines Wesens die kennzeichnende Emotivität von gleichzeitig erotomanischer und glaubensschwärmerischer Färbung.“

Da kommt, so könnte man es salopp formulieren, doch einiges zusammen. Hätte Nordau sein Buch nicht dem (wie er in eine jüdische Familie hineingeborenen) Begründer der Kriminalanthropologie Cesare Lombroso (1835-1909) gewidmet, dessen Lehren lange nach seinem Tod mit dazu führten, dass man im Nationalsozialismus glaubte, die Fortpflanzung ‚geborener‘ Verbrecher durch Zwangssterilisierungen nachhaltig verhindern zu können, so könnte man sich allein schon über den Ideenreichtum der Nordau’schen Pathologisierung Wagners amüsieren. Richten sich hier doch einmal aggressive Diskriminierungen gegen denjenigen, der sich seinerseits auf dem Weg ins 20. Jahrhundert noch als einer der einflussreichsten Antisemiten des 19. Jahrhunderts erweisen sollte. Allerdings konnte es auch schon im 19. Jahrhundert keine angemessene Strategie sein, den Antisemitismus mittels ideologischer Versatzstücke zu bekämpfen, denen er sich selbst bediente: „Entartung“ sei als ein Beispiel „für jenes der Aufklärung inhärente Potenzial von Inhumanität zu werten, das Theodor W. Adorno und Max Horkheimer unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen in ihrer Dialektik der Aufklärung beschrieben haben“ schreibt Tebben unter Verweis auf Thomas Anz in ihrem Nachwort.

Nordaus zitierter Hinweis auf die „Graphomanie“, also den Zwang, alles mögliche wahllos zu notieren und aufzuschreiben, hat es dem in seiner eigenen Widersprüchlichkeit nicht unkomischen Vielschreiber, den man sich wohl ungefähr wie den „Weltverbesserer“ aus Thomas Bernhards gleichnamigem Drama (1979) vorstellen muss, in seinem Großangriff auf Wagner besonders angetan: Wagners „Gesammelte Schriften und Dichtungen“ in zehn dicken und großen Bänden von etwa 4.500 Seiten beinhalteten laut Nordau keine einzige Passage, „die den unvoreingenommenen Leser nicht durch irgend einen unsinnigen Gedanken oder eine unmögliche Ausdrucksweise verblüffen würde“. Habe sie Wagner doch noch dazu in einem wahren Wiederholungszwang immer wieder neu aufgeschrieben: „Unter seinen Prosawerken […] ist wohl das hauptsächlichste ‚Das Kunstwerk der Zukunft.‘ Die darin ausgesprochenen Gedanken – soweit man die schwankenden Schatten-Vorstellungen eines mystisch-emotiven Entarteten so nennen kann – hatten Wagner sein ganzes Leben lang beschäftigt und sind von ihm wieder und wieder in immer neuen Wendungen und Einkleidungen vorgetragen worden. […] Der klare, geistig gesunde Schriftsteller, der sich gedrängt fühlt, etwas zu sagen, wird sich einmal so deutlich und eindringlich, wie es ihm möglich ist, aussprechen und sich damit genug gethan haben. […] Der verworrene Graphomane dagegen kann in seinem Buche, wenn es fertig vor ihm liegt, nicht den befriedigenden Ausdruck seiner Gedanken erkennen und er wird immer wieder versucht sein, eine Arbeit von vorn anzufangen, die aussichtslos ist, weil sie darin bestehen soll, formlosen Vorstellungen eine feste sprachliche Form zu geben.“

Als handele es sich bei Nordaus pathologisierenden Ausführungen um ein frühes Vorbild von Theodor W. Adornos berühmter Heidegger-Kritik „Jargon der Eigentlichkeit“ (1963), in der Adorno – allerdings nicht unter Verweis auf eine etwaige geistige ,Krankheit’ des Angegriffenen – gegen die salbungsvollen sprachlichen Leerformeln deutscher Ideologie polemisierte, richtet Nordau seinen Blick auf Wagners Manie der drucktechnischen Betonung geheimnisvoller impliziter Bedeutungen, die am bloßen Wortlaut seiner Texte tatsächlich gar nicht ablesbar sind: „Der Leser hat an den Ausführungen bemerken können, welchen Mißbrauch Wagner mit dem Unterstreichen von Worten treibt. Manchmal läßt er halbe Seiten in gesperrter Schrift setzen. Diese Erscheinung wird von Lombroso bei Graphomanen ausdrücklich festgestellt. […] Keine sprachliche Form, die der mystische Entartete seinen Gedankenschemen geben kann, vermag ihn zu befriedigen, er hat immer das Bewußtsein, daß die Sätze, die er niederschreibt, die wirren Vorgänge in seinem Gehirn nicht ausdrücken, und da er es aufgeben muß, diese in Worte zu fassen, so sucht er durch Ausrufungszeichen, Gedankenstriche, Punkte und Durchschuß-Linien in seine Schrift mehr hineinzugeheimnissen, als deren Worte sagen können.“

Nordaus Kritik wendet sich im Kern gegen Wagners Antisemitismus: Nicht nur auf die obskure ‚Zukunftskunst‘ des Komponisten und Publizisten ließe sich also der von Nordau diagnostizierte Wiederholungszwang anwenden, sondern vor allem auch auf Wagners zweimalige ‚Work-in-progress‘-Publikation seiner hasserfüllten Schrift „Das Judentum in der Musik“ (1850/1869). Löste diese doch vielfältiges zeitgenössisches Befremden aus, weil sie zu den tatsächlich irrsinnigsten antisemitischen Verschwörungstheorien des 19. Jahrhunderts zählte, weshalb sich bereits viele Zeitgenossen an den Kopf fassten und die Wahnhaftigkeit von Wagners Behauptungen sofort erkannten.

Kaum jemand aber kritisierte Wagner in dieser Zeit so scharf wie Nordau: Von dem Musikkritiker Eduard Hanslick einmal abgesehen, der Wagner ebenfalls für einen geistig Verwirrten hielt, verfasste zwar Gustav Freytag einen berühmten Verriss zu „Das Judentum in der Musik“, der bis heute immer angeführt wird, um zu betonen, der Autor des zweifellos über antisemitische Wirkungskapazitäten verfügenden Romans „Soll und Haben“ (1855) habe kein Antisemit sein können – aber dieser Text verstrickt sich mitunter sogar selbst noch in antisemitische Stereotype. Der jüdische Autor und Bekannte Wagners Berthold Auerbach wiederum konnte sich zeitlebens nicht dazu durchringen, öffentlich Kritik an Wagners fatalem Machwerk zu äußern.

Max Nordau als Prophet des Emotional Turn?

Wenn auch Nordaus Pathologisierung Wagners einerseits selbst einen problematischen Diskurs eröffnet und andererseits das Phänomen des Antisemitismus in seiner Tragweite weit unterschätzt, weil es sich dabei eben nicht nur um eine bloße Krankheit handelt, so fällt doch aus heutiger Sicht nicht nur an der Wagner-Kritik in „Entartung“ auf, wie hellsichtig Nordau bereits die emotionalen Aspekte des Antisemitismus und der Genese von Kunstwerken allgemein erkannt hatte. Nordau geht bereits über 100 Jahre vor dem Emotional Turn in der Literatur- und Kulturwissenschaft dezidiert davon aus, dass Emotionen die zentralen Auslöser der Entstehung von Kunst seien: „Die Quelle jedes wirklichen Kunstwerks ist die Emotion. Diese entsteht entweder durch einen Lebensvorgang in den inneren Organen des Künstlers oder durch einen Sinneseindruck, den er von der Außenwelt erhält. In beiden Fällen hat der Künstler das Bedürfniß, seiner Emotion im Kunstwerk Ausdruck zu geben.“

Mit diesen Sätzen bewegt sich Nordau ganz auf der Linie avancierter Kunst-Theorien um 1900. Wassily Kandinsky etwa hat später ganz ähnliche Vorstellungen über emotionale Prozesse künstlerischer Kommunikation formuliert. Schon damals gab es so etwas wie einen Emotional Turn, der dann in den 1920er-Jahren mit der Neuen Sachlichkeit gründlich in Misskredit geriet. Damit berührt Nordau aber auch einen Punkt, der die aktuelle Antisemitismusforschung erst wieder ganz neu zu beschäftigen beginnt: Wagners seltsamer Zwang, einmal Geschriebenes schließlich gegen alle Vorsicht unter seinem Klarnamen abermals zu veröffentlichen und das bereits Publizierte bei der Gelegenheit ohne Rücksicht auf Verluste mittels abstrusester Verschwörungstheorien zu verschärfen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Funktionsweisen des Antisemitismus allgemein. Ließe sich doch die Impulsivität, die Affektbeladenheit und die Emotivität des verworrenen Ausdruckes und die besondere Zeichensetzung, die Nordau an Wagners Schriften beobachtet hat, vielleicht sogar noch auf formale Erscheinungsformen antisemitischer Drohbriefe und Botschaften beziehen, wie sie heutige Verschwörungstheoretiker in Online-Foren oder auch in E-Mails an jüdische Organisationen in Deutschland adressieren und wie sie Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz anhand eines riesigen Korpus untersucht haben.

Trotz alledem, was wir heute über die grundsätzliche Problematik von Nordaus „Entartungs“-Kulturkritik wissen, vermögen wir an seiner Wagner-Analyse also dennoch eine Diagnose emotionaler Aspekte des Antisemitismus zu erkennen, die keinesfalls vollkommen aus der Luft gegriffen zu sein scheint. Auch heute noch sind Nordaus Beobachtungen bei Wagner mit dem auffälligen Zwang antisemitisch denkender Personen korrelierbar, der Öffentlichkeit gleichermaßen erregte wie ungebetene ‚Enthüllungen‘ jüdischer Verkommenheit aufzudrängen. Dies geschieht eben meist nicht in anonymisierter Form, sondern unter dem korrekten Namen der Absender, die sich als Getriebene und wie religiöse Bekenner zu Wort melden. Wähnen sie sich doch im Sinne einer ,guten Sache’ im Widerstand gegen eine globale jüdische Übermacht.

Ein Herz für Tiere: Bayreuth als Brutstätte deutschen Ungeistes

Ähnlich wie der zeitgenössische Musikkritiker Eduard Hanslick verweist auch Nordau auf Wagners regelrechten „Verfolgungswahnsinn“, der dazu geführt habe, dass der Komponist „Jahrzehnte lang fest überzeugt war, die Juden hätten sich zusammengethan, um die Aufführung seiner Opern zu verhindern, eine Wahnvorstellung, die ihm seinen grimmigen Antisemitismus eingab“. Nicht zuletzt hat Nordau auch die religiös anmutende Verehrungskultur in Bayreuth im Blick: Hier sieht er bereits eine Brutstätte jenes Ungeistes, der im 20. Jahrhundert im Umkreis Hitlers monströse Ausmaße annehmen sollte. Nordau spricht von einem „ekelhaften Götzendienst“ und schreibt über die „Bayreuther Blätter“: „Mir wenigstens ist kein zweites Beispiel einer Zeitung bekannt, die ausschließlich zur Vergötterung eines lebenden Menschen gegründet worden wäre und in deren jeder Nummer lange Jahre hindurch die bestellten Tempelpriester ihrem Hausgotte mit dem wilden Glaubens-Fanatismus heulender und tanzender Derwische Weihrauch verbrannt, Kniebeugungen und Niederwerfungen dargeboten und Gegner als Opfer geschlachtet hätten.“

Nordaus Wagner-Kapitel verweist damit bereits in bemerkenswerter Weise auf den Zusammenhang von Wagners Antisemitismus mit dem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewachsenen chauvinistischen Nationalismus in Deutschland. Gibt es hier doch bei Nordau einen plötzlichen Exkurs über die pathologischen Folgen des Erlebnisses der sogenannten Einigungskriege (1864 und 1870/1871), ja sogar des Dreißgjährigen Krieges Jahrhunderte zuvor. Dieser überraschende Einschub nimmt sich wie eine thetische Vorwegnahme des heutigen Konstrukts der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) aus: „Die Wirkungen des Krieges auf die Nerven der Theilnehmer sind noch nie systematisch erforscht worden und doch wäre dies eine so wichtige und nöthige Arbeit“, stellt Nordau fest. Die psychischen Folgen schwerer Traumatisierungen durch Verwundungen und Kriegsgräuel beträfen dabei nicht nur einzelne Soldaten, sondern stets „viele Hunderttausende Menschen“: „Ich glaube, es darf kaum bezweifelt werden, daß jeder große Krieg eine Ursache von Massen-Hysterie ist und weitaus die meisten Soldaten aus dem Feldzuge, wenn auch ihnen selbst gänzlich unbewußt, ein etwas gestörtes Nervenleben heimbringen.“ Daraus resultiere schließlich im gesamten Volk eine „Massen-Verrohung“, und in Deutschland habe „seit 1870 die Hysterie deutlich zugenommen“. Hier folgt nun die oben bereits zitierte, bemerkenswerte Textstelle: Die spezifische Ausdrucksform, die Nordau damit bereits lange vor Sigmund Freud aus jener deutschen Massenhysterie entstehen sieht, manifestiere sich eben „im Antisemitismus“.

Durchaus scharfsinnig erkennt Nordau hier bereits zu Beginn der 1890er-Jahre die ebenfalls daraus hervorgehende Esoterik-Kultur sendungsbewusster lebensreformerischer Ideen, wie sie um 1900 in exorbitanter Weise ins Kraut schossen und über Wirrköpfe wie den in die Südsee emigrierten ‚Kokovoristen‘ August Engelhardt (1875-1919) bis hin zu Adolf Hitlers Verknüpfung von Vegetarismus und Antisemitismus ein sendungsbewusstes völkisches ‚Gesundheitsstreben‘ markierten. Nordaus „Entartungskritik“, die doch bei diesem selbsternannten „‚Kulturarzt‘ des Volkes“, wie sich der Autor nach Angaben der Editorin selbst verstanden wissen wollte, auf den ersten Blick in eine ganz ähnliche Richtung wie derartige Ideologien zielen müsste, verurteilt solche Ideen jedoch überraschenderweise dezidiert.

Mit originellen Neologismen wie „Staatshämorrhoidarier“ klingt Nordaus ureigene Hate-Speech-Polemik gegen die deutsche Ideologie um 1900 dabei für unsere heutigen Ohren in etwa ähnlich belustigend, wie wenn sich Wiglaf Droste in seinen fröhlich misogynen und munter altersdiskriminierenden Glossen über fanatisierte deutsche Nordic-Walking- und Rohkost-Rentnerinnen mokiert, die sich vor ihrem konzertierten Abmarsch in die germanischen Wälder mit Franzbranntwein einreiben: Nordaus kulturkritische Tiraden haben tatsächlich etwas von Thomas Bernhards Schimpfkanonaden in Romanen wie „Auslöschung. Ein Zerfall“ (1986), wenn es da etwa heißt: „Der deutsche Hysteriker beschäftigt sich nach Art der Hypochonder und Staatshämorrhoidarier ängstlich mit seiner theuern Gesundheit. Seine Delirien drehen sich um seine Hautausdünstungen und die Verrichtungen seines Bauches. Er fanatisirt sich für Jägers Flanell-Leibchen [gemeint ist hier der Baumwoll-Ideologe und Mediziner Gustav Jäger (1832-1917), seinerzeit auch als „Woll-Jäger“ verspottet, der solche Reformkleidung vertrieb, J. S.] und das selbstgemahlene Schrotmehl der Vegetarier. Er geräth in heftige Emotion bei Kneipps Wasserbegießungen und barfüßigem Herumlaufen auf nassem Grase. Zwischendurch regt er sich in krankhafter Thierfreundlichkeit […] wegen der Leiden des bei physiologischen Versuchen benutzten Frosches auf und als Grundton klingt in all diesen antisemitischen, kneipp’schen, jäger’schen, vegetarischen Wahnsinn ein größenwahnsinniger, teutschthümelnder Chauvinismus […]. Alle diese verschiedenen Störungen treten in der Regel zusammen auf und man wird in zehn Fällen neunmal nicht fehl gehen, wenn man den in Jägertracht Einherstolzirenden für einen Chauvinisten, den Kneipp-Schwärmer für einen Schrotbrod-Wütherich und den nach Professorenblut lechzenden Frosch-Anwalt für einen Antisemiten hält.“

Mit anderen Worten: Nordaus Schrift griff Ende des 19. Jahrhunderts vertrackterweise exakt diejenigen als ‚Kranke‘ an, die Ideologien begründeten, welche im Nationalsozialismus schließlich zu einem spezifischen Verständnis der „Entartung“ führten, als deren ‚Erfinder‘ man Nordau nach 1945 fälschlicherweise so gerne belustigt anführte, um triumphierend einen jüdischen Mediziner als ‚Kirchenvater‘ des nationalsozialistischen Weltbilds präsentieren zu können. Tatsächlich war Nordaus Buch für die Nationalsozialisten jedoch eine „entbehrliche Quelle“, wie auch die Editorin Karin Tebben in Analogie zu Thomas Anz schreibt, „weil das Werk mit Wagner und Nietzsche zwei Exponenten der deutschen Kultur“ angriff bzw. für „entartet“ erklärte, die „von den Nationalsozialisten besonders geschätzt wurden“. „Nordaus Begriff der ‚Entartung‘“ sei zudem „definitiv weder rassentheoretisch begründet noch national ausgerichtet, und deswegen ist er für die Stigmatisierung und Verfolgung von Ethnien nicht verwendbar“.

Ohne diese Assoziation verallgemeinern und die berechtigten Ziele vieler Tierschützer diskreditieren zu wollen, bleiben Nordaus Beobachtungen doch auch im Blick auf Formen des sekundären internationalen Antisemitismus unserer Tage aktuell, wenn man etwa an die haltlosen und verharmlosenden Holocaustvergleiche der obskuren Vereinigung „People for the Ethical Treatment of Animals“ (PeTA) denkt, deren Werbe-Kampagnen verdächtig an Nordaus Antisemitismus-Diagnose über Tierversuch-Gegner seiner Zeit gemahnen. Nicht zuletzt nahm Nordau mit seinen Ausführungen über den „Wagner-Dienst“ als einzigartigen Nationalkult in gewisser Weise vorweg, was der Soziologe Klaus Holz im Jahr 2001 als „nationalen Antisemitismus“ untersucht hat. Diese Ideologie fand in Richard Wagner eine international zugkräftige Symbolfigur: „Einer der Haupt-Sieger der deutschen Kriege ist Wagner gewesen“, schreibt Nordau. Das bereits in den 1890er-Jahren so genau erkannt und scharf kritisiert zu haben, war allemal eine Leistung.

So bleibt am Ende nur das – nicht gerade nebensächliche – Schlusswort: Nordaus Schrift wurde zum Verhängnis, dass sie in emphatischer Weise ausgerechnet jene zeittypische Dichotomie geistiger und kultureller ‚Gesundheit‘ und ‚Krankheit‘ von Cesare Lombroso oder auch Reaktionären wie Gustav Freytag und Julian Schmidt übernahm, die Jahrzehnte später – wenn auch in einer gänzlich neuen Kontextualisierung und mit einer im Vergleich zu Nordau geradezu entgegengesetzten Intention – mit den Holocaust ermöglichte.

Titelbild

Max Nordau: Entartung.
Herausgegeben von Karin Tebben.
De Gruyter, Berlin / Boston 2013.
854 Seiten, 139,95 EUR.
ISBN-13: 9783110256406

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