Im Alltag schwimmen lernen

Daniel Galeras Roman „Flut“ erzählt vom banalen Leben

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein junger Mann sitzt auf der Veranda des Hauses seines Vaters und zweifelt an dem, was er gerade gehört hat. Sein Vater hat ihm soeben eröffnet, dass er sich umbringen wird, morgen schon, und dass es nichts gibt, was sein Sohn dagegen tun könne: „Das Leben ist zu lang, und ich habe keine Geduld“, sagt er und damit ist tatsächlich alles gesagt. Wortlos nippen die beiden an ihren Bierflaschen und jeder kann auf seine Art kaum glauben, was augenblicklich geschieht. Die letzte Bitte des Vaters ist indes nicht weniger obskur: der Sohn möge bitte seine treue Hündin Beta töten, die nach seinem Suizid zu traurig sei, um weiterzuleben. Und während Vater und Sohn sich wortlos für immer verabschieden, ist der Leser unvermittelt in den Sog dieser lakonisch erzählten und doch ungeheuer eindrucksvollen Geschichte geraten.

„Flut“ heißt der Debütroman des 1979 geborenen Brasilianers Daniel Galera, der im Suhrkamp-Verlag zur Buchmesse des vergangenen Jahres erschienen ist und einen der interessantesten Romane aus dem Gastland darstellt. Dabei entzieht er sich ganz bewusst der Einordnung in bestimmte Strömungen der brasilianischen Gegenwartsliteratur: er verzichtet sowohl auf sprachliche Experimente wie formale Innovationen und sperrt sich gegenüber den großen Themen der Vergangenheitsaufarbeitung oder der Abbildung der komplexen brasilianischen Gesellschaft. Ganz im Gegenteil zieht sich der Text mit seinem Protagonisten zusammen in ein kleines Örtchen im Süden Brasiliens zurück und lässt die Welt außen vor. Denn der Sohn wird den letzten Wunsch seines Vaters nicht erfüllen. Nach dessen Tod packt er unvermittelt seine Sachen, setzt die Hündin in sein Auto und verlässt Porto Alegre, um nach Garopaba zu reisen, einem Fischerdorf an der Küste, das vor allem von Surfern lebt, die im Sommer kommen und die Strände bevölkern. Galeras Held will hier zum einen vergessen und sich zum anderen erinnern, er will verstehen: denn kurz vor seinem Tod hat ihm sein Vater noch die Geschichte seines Großvaters erzählt, der unter mysteriösen Umständen in dem kleinen Fischerdorf umgekommen sein soll, wenngleich die Leiche niemals gefunden wurde. Er beginnt zaghaft, den Einwohnern Fragen zu stellen, ein bisschen der Legende des ‚Gaucho‘, wie der Großvater genannt wurde, nachzuspüren, doch er findet kaum Antworten – sondern nur eine Mauer des Schweigens und das unablässige Rauschen des Meeres.

Was wie ein Kriminalfall klingt, ist jedoch alles andere als das. Der Rätselplot bleibt dankenswerterweise über weite Strecken des Romans im Hintergrund, Galera beschreibt vielmehr die Einrichtung des jungen Mannes in einem neuen Leben. Minutiös und detailliert schildert der Roman die Suche des Protagonisten nach einem Haus, seine ersten Einkaufsversuche, die ersten Annäherungsversuche an die Einheimischen, die Strandspaziergänge mit dem Hund und die Lauf- und Schwimmeinheiten am Meer. Der Protagonist ist Triathlet und arbeitet als Schwimm- und Lauflehrer, was das Meer zu einem besonderen Ort für ihn macht – allerdings nicht im mythischen Sinne, der dem Meer eine besondere, überzeitliche Bedeutung zuschreiben würde. Im Gegenteil, genau wie die Lösung des Kriminalfalls bleibt auch jegliche mystische Überhöhung der wilden See aus, die im deutschen titelgebende ‚Flut‘ (im portugiesischen Original heißt das Buch „Barba ensopada de sangue“, deutsch etwa „Bart getränkt in Blut“) wird nie beseelt oder personifiziert, sondern sie bleibt einfach ein Teil der Natur, ohne ein ‚Dahinter‘, eine Erklärungsfunktion oder eine geheimnisvolle Bedeutung. Das Meer ist für den Schwimmer Alltag und als solches erobert es sich der Sohn, wie er sich sein ganzes Leben in der neuen Stadt erobern muss. Er markiert sich ein neues Leben in der Fremde.

‚Markieren‘ deshalb, weil diese Anstrengungen immer überschattet werden von einer seltenen Krankheit, mit der er umgehen muss: Prosopagnosie heißt sie und bezeichnet die Unfähigkeit, sich Gesichter merken zu können. Er ist somit auf andere Merkmale angewiesen, um Menschen wiederzuerkennen und es sind die kleinen Besonderheiten der Menschen, die er so erkennen kann. Genau darin liegt auch die Stärke des Romans: er vermag im ganz Alltäglichen das Besondere zu finden und sichtbar zu machen. So banal die Schilderungen des ganz gewöhnlichen Lebens auch sein mögen, übt die Geschichte einen sonderbaren Reiz aus und erzeugt eine Spannung aus sich heraus, geradezu ohne äußeren Anlass. Als eines Tages ein Sturm aufzieht und ein seltsames Lichtspiel das Meer erhellt, wundert sich der Leser mit dem Protagonisten und sucht eine symbolische Bedeutung in diesem Naturzeichen – doch die gibt es nicht. Der Sturm geht vorbei, das Lichtspiel ebenfalls und es hat sich nichts verändert. Es gab kein Geheimnis hinter der Naturerscheinung. Auch der mysteriöse Tod des Großvaters gerät zur Nebensache (wenngleich der Text sich der Aufklärung nicht verweigert und das Rätsel schließlich löst), das Geheimnisvolle wird überstrahlt vom Gewöhnlichen.

„Flut“ ist damit eigentlich ein Roman über das Leben im banalsten Sinne und vielleicht macht ihn das zu einem so guten. Der Held lernt Frauen kennen, doch die Liebe scheitert einfach, ohne dass es dafür besondere oder außergewöhnliche Gründe gäbe, die Beziehungen zerbrechen am Alltag und den Umständen. Auch die Freundschaften zu zwei, drei Dorfbewohnern bleiben letztlich oberflächlich – als das Buch endet, ist der junge Held so allein mit der Hündin wie zu Beginn und die Geschichte ist weder zu Ende noch abgeschlossen, sie bricht plötzlich ab. Wenn man so sagen will und gängigen Klischees folgen möchte, ist das Buch ein ‚Männerroman‘, wie auch die meisten RezensentInnen festgestellt haben. Ein Roman über das Alleinsein, über das Meistern des Lebens und den Sport, in dem wenig geredet und wenig reflektiert wird: Die Geschichte ist schweigsam. Doch gerade darin liegt eine besondere Dringlichkeit, die den Leser – und die Leserin – herausfordert und dazu zwingt, sich einzulassen auf diesen Alltag und damit auf den eigenen. „Es gibt nur zwei Orte, an die ein Mensch gehören kann. Der eine ist die Familie. Der andere ist die ganze Welt. Manchmal lässt sich schwer sagen, an welchem von beiden man gerade ist“, heißt es lakonisch zum Ende des Romans. Und damit ist der andere Pol der Erzählung angesprochen: denn bei aller Einsamkeit und dem selbstbestimmten Leben, von dem der Roman erzählt, kommt sein Protagonist doch niemals von seiner Familie los. Bei allem „Ausgeliefertsein“, das, wie Meike Dülffer in der „Zeit“ geschrieben hat, der Text ausstellt, bei allem Alleinsein, bleibt am Ende die Einsicht, dass es immer etwas gibt, das einen prägt und die eigene Identität bestimmt, gewissermaßen schon vorher da war: die Familie. Deshalb ist jede Neueroberung des eigenen Gesichts, wenn der Protagonist morgens in den Spiegel blickt (denn auch sein eigenes Gesicht vergisst er natürlich) immer eine Auseinandersetzung mit den Fotos, die er hat: von seinem Vater und seinem Großvater, mit denen er sich vergleicht und sich selbst zu markieren versucht.

„Flut“ ist daher, das wird man am Ende erkannt haben, gerade kein Roman über das Alleinsein, sondern es ist ein Familienroman, ein Roman über Ich-Findung und Eigenständigkeit zwischen Familie und Welt. Mit dieser Erkenntnis wird man den Roman wiederlesen wollen, obwohl es kein Rätsel zu lösen gibt. Genau das macht wohl einen großen Roman aus. „Flut“ ist so einer.

Titelbild

Daniel Galera: Flut. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
423 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424094

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