Rückkehr nach zwanzig Jahren

In Sándor Márais Roman „Die Frauen von Ithaka“ wird ein ironischer Blick hinter die Kulissen des antiken Mythos geworfen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Roman „Die Glut“ setzte 1998 die Wiederentdeckung des ungarischen Autors Sándor Márai in Deutschland ein. Márai, der auch deutsche Wurzeln hatte, lebte von 1900 bis 1989. Fast die gesamte zweite Hälfte seines Lebens – von 1948 an – verbrachte er im Exil an verschiedenen Wohnsitzen in Italien, der Schweiz und hauptsächlich den USA. Politisch und literarisch in seiner Heimat geächtet, verlor er dennoch nicht den Kontakt zu Ungarn und der ungarischen Sprache, in der er die meisten seiner Werke schrieb. Mit der Aktivierung der ihm 1948 aberkannten Mitgliedschaft in der Ungarischen Akademie der Wissenschaften im Wendejahr 1989 begann Márais Rehabilitierung. Trotzdem gelang es den nach dem Ende des Sozialismus an die Macht gekommenen Kräften nicht mehr, den Schriftsteller zur Rückkehr zu bewegen. Nach schweren persönlichen Schlägen – innerhalb eines knappen Jahres starben nacheinander seine Frau, sein Bruder, der Filmregisseur Geza von Radvanyi, und sein gerade einmal 46 Jahre alter Adoptivsohn János – setzte Márai im Februar 1989 seinem Leben in San Diego selbst ein Ende.

Die Themen Heimat und Fremde, rastloses Unterwegssein und Rückkehr zu den Seinen finden sich auch zentral in einem 1952 zuerst bei Lincoln-Pranger in London erschienenen Roman wieder, den der Kurt Desch Verlag im selben Jahr unter dem Titel „Verzauberung in Ithaka“ auf den deutschen Markt brachte. Der Titel wird dem ungarischen Original „Béke Ithakában“ (sinngemäß: „Der Friede von Ithaka“) ebenso wenig gerecht wie nun die Neufassung von Christina Kunze, die „Die Frauen von Ithaka“ in den Mittelpunkt rückt, obwohl von den drei „Gesängen“, in die das Buch nebst einem „Vorgesang“ und einem „Nachgesang“ sich gliedert, zwei die Ereignisse um die Rückkehr des Odysseus nach dem Trojanischen Krieg aus männlicher Sicht beschreiben.

Márai, für den die griechische Mythologie zum geistigen Kernbestand jedes bürgerlichen Intellektuellen zählte, hat mit der Geschichte, die er in Neapel zu Papier brachte, mehr über sich und seine existenzielle Ortslosigkeit nach der Emigration aus Ungarn verraten, als der Roman auf den ersten Blick erkennen lässt. Da ist er nämlich „nur“ eine handwerklich geschickte, im Ton an klassische Vorbilder angelehnte, witzig-ironische Auseinandersetzung mit der hauptsächlich aus Homers „Odyssee“ bekannten Heimkehr des listenreichen Helden nach seiner 20-jährigen Irrfahrt. Was von Homer zu halten sei, lässt Márai übrigens gleich im ersten Gesang Penelope, die geplagte Ehefrau des Weltreisenden, dem Leser mitteilen: „Dünn war er und alt, und seine blinden Augen vermochten bisweilen den Eindruck zu erwecken, als sähe er tatsächlich etwas. Später habe ich mich viel über ihn geärgert. Die Geschichte, die er vortrug, war ungenau. Er sang alles Mögliche, so gut es ein Blinder eben kann, der die Wahrheit nur ahnt und sie nicht weiß.“

Damit ist der Weg frei für eine Neuinterpretation, in der der Kriegsheld, nachdem er wie in der klassischen Vorlage innerhalb von zehn Jahren seinen Heimweg gefunden und brutal mit den in Ithaka um die Gunst seiner Frau buhlenden Freiern abgerechnet hat, eine Wandlung erfährt und zu einem Menschen der Zeitenwende wird. In das Abenteuer des Trojanischen Krieges hat er sich als der trickreichste all jener archaischen Helden gestürzt, die um den griechischen Heerführer Agamemnon sich scharten, um die verletzte Ehre von dessen Bruder Menelaos, dem der trojanische Königssohn Paris die schöne Ehefrau entführt hatte, wiederherzustellen. In dieser national konnotierten „Alle für Einen“-Aktion hat er zudem die kriegsentscheidende Idee, den starken Gegner mit Hilfe eines hölzernen Pferdes zu übertölpeln. Doch als hochdekorierten, stolzen Krieger lässt ihn Márai nicht nach Hause zurückkehren. Stattdessen haben die vielen Kriegsjahre und die abenteuerreiche Rückfahrt nach Ithaka einen Mann aus ihm werden lassen, der auf der einen Seite nahezu automatisch weitertötet, andererseits seine Zukunft aber keineswegs mehr darin sieht, mit weiteren kriegerischen Heldentaten auf sich aufmerksam zu machen, sondern im Handel mit Salz reich zu werden gedenkt.

Márai nähert sich seiner zentralen Figur aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln. Gehört der erste Teil des Buches den Gedanken von Penelope, rücken in den „Gesängen“ Zwei und Drei die Söhne des Odysseus, Telemachos und Telegonos – sein späterer Mörder – ins Rampenlicht. Gemeinsam ist den Erinnerungen aller drei Figuren, dass sie die Person des Odysseus nach seiner Verwandlung vom mythischen Helden zum profitorientierten Monopolisten nicht mehr zu fassen vermögen, weil die sich dem Verständnis ihrer Gegenwart zu entziehen beginnt und zum Protagonisten eines neuen Zeitalters wird. „Jetzt kommen farblosere, aber nützliche Zeiten…“, kommentiert der Gott Hermes sachlich diese Entwicklung. Und die schockierte Ehefrau Penelope beschließt ihre Reminiszenzen mit den Verständnislosigkeit ausdrückenden Worten: „Jetzt habe ich alles über meinen seligen Mann gesagt. Oder jedenfalls alles, was ich sagen kann. Ich glaube, so war er – oder so ähnlich. Aber in Wirklichkeit kann ich nicht wissen, wie er war – ich war ja nur seine Frau.“

„Die Frauen von Ithaka“ ist ein Roman, der glänzend zu unterhalten versteht, weil er seine Hauptfigur, gerade indem er sie ihren Zeitgenossen entfremdet, uns Heutigen umso näher bringt. Er erzählt tatsächlich auch – wie das der Verlag werbewirksam im Klappentext vermerkt – „von Ehebruch und Wechseljahren, unehelichen Kindern und beziehungsunfähigen Männern“. Ihn allein darauf zu reduzieren, wäre freilich etwas zu billig, klingen doch zwischen seinen Zeilen auch die modernen Tragödien an, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit erschütterten.

Titelbild

Sándor Márai: Die Frauen von Ithaka. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Kunze.
Piper Verlag, München 2013.
413 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056205

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