Von Klassikern und aktuellen Entwicklungen

Drei Sammelbände dokumentieren die Vielfalt der Kinder- und Jugendliteratur-Forschung

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kinder- und Jugendliteratur nimmt eine herausragende Rolle in der Sozialisation junger Menschen ein. Bisweilen gilt sie sogar als „Entwicklungshelfer“. Sie kann einen wichtigen Beitrag zur Lesemotivation leisten, wenn es den Autorinnen und Autoren gelingt, an die Lebenswelt und die Interessen der Kinder beziehungsweise Heranwachsenden anzuknüpfen. Die wissenschaftliche Kinder- und Jugendliteraturforschung ist jedoch ein relativ „junger“ Zweig universitärer Forschung. In der breiten (Lese-)Öffentlichkeit hatten Texte wie „Der Trotzkopf“ (Emmy von Rhoden) oder „Gullivers Reisen“ (Jonathan Swift) längst einen Status als Klassiker erreicht, bevor die Philologien sie als Forschungsgegenstand entdeckten. Heinrich Hoffmanns Bilderbuch „Der Struwwelpeter“ (1845 entstanden) galt zwischenzeitlich gar als Paradebeispiel „Schwarzer Pädagogik“. Inzwischen wird dies durchaus kontrovers diskutiert und liefert ein Exempel für die Forderung nach methodisch reflektierter Auswertung intentionaler und kontextueller Aspekte bei der Entstehung und Rezeption von KJL. Erst seit den 1970er-Jahren sind meilensteinartig Lexika und Handbücher entstanden, die systematisierend und methodisch reflektiert Literatur für „junge Leser“ analysieren und interpretieren.

Arbeitsschwerpunkte aktueller Forschung sind unter anderem die methodische und kulturgeschichtliche Aufarbeitung der sogenannten Klassiker der KJL, die sowohl im 18. Jahrhundert (pädagogisch motiviert) deutliche Konturen gewannen als auch prototypische Vorlagen und Muster für weitere literarische Gestaltungen lieferten. Zu den größeren Handlungsfeldern der KJL gehören momentan ferner einerseits Studien zu zeitgenössisch-aktuellen, weitgehend medial überformten Entwicklungstendenzen, welche die vagen Begriffe All-Age- beziehungsweise Cross-over-Literatur zu erfassen versuchen. Andererseits sind interdisziplinäre Annäherungen an Konstrukte wie die zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur eher unterrepräsentiert. Die drei im Folgenden zu besprechenden Sammelbände mit 52 Beiträgen von 55 Autorinnen und Autoren zu 77 Primärwerken der klassischen und aktuellen KJL dokumentieren die Vielfalt der Methoden sowie die Ergiebigkeit präziser Analysen und Interpretationen.

Das Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen besitzt seit einigen Jahren eine umfangreiche Sammlung historischer Kinder- und Jugendliteratur, die unter dem Titel „Der rote Wunderschirm“ Ende 2011 in Form einer vielbeachteten Ausstellung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Begleitend zu den 450 Exponaten fand eine Ringvorlesung statt, die in Form eines ansprechend layouteten Bandes, herausgegeben von Wolfgang Wangerin und Christoph Bräuer, im Wallstein-Verlag erschienen ist. Darin stellen 28 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diverser Fachgebiete mit 26 Beiträgen, welche dreizehn Schwerpunktbereichen zugeordnet sind, ihre genuinen Lesarten ausgewählter klassischer Texte aus dem reichhaltigen Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur vor. Durchgehend bebildert, im Mittelteil sogar mit Farbabbildungen aus der Ausstellung, zeigt der Band die Aktualität bedeutender KJL-Werke.

Bereits im 17. Jahrhundert wurden Texte als „sprachliche und imaginative Weltzugänge für die Heranwachsenden“ geschaffen. Johann Amos Comenius` „Orbis sensualium pictus“ und Johann Bernhard Basedows „Das Elementarwerk (samt Kupfersammlung)“ belegen dies eindrucksvoll. Gattungsprägend war dabei die gekonnte Verknüpfung von Bildern beziehungsweise Kupferstichen mit Textpassagen. Dadurch wurde im Zeitalter der bildungsorientierten Aufklärung die „Verständlichkeit für die jungen Adressaten“ gewährleistet.

Mit großem Gewinn liest man klar gegliederte und durchweg verständlich formulierte Analysen, beispielsweise zur klassischen Mädchenliteratur, zu politisch instrumentalisierten Texten im Kontext des Nationalsozialismus wie etwa Ernst Hiemers „Der Giftpilz“ oder Karl Schenzingers „Der Hitlerjunge Quex“, ferner zu Tiergeschichten und „Fantasten“, unter anderem zu Paul Maars „Das Sams“. Daneben stehen Darstellungen zu klassischen Texten wie „Jim Knopf“ von Michael Ende oder Selma Lagerlöfs „Nils Holgersson“, also Abenteuererzählungen, die in märchenhafte Welten führen. Um so verständlicher wird, wieso „Harry Potter“ und „Alice im Wunderland“ als Literatur für alle Lebensalter gelten und medial entsprechend aufbereitet sind: Sie sind „anschlussfähig für die unterschiedlichsten Lesergruppen und Leseerfahrungen, für alle Alters- und Sozialgruppen.“ Somit haben diese märchenhaft-fantastischen Erzählungen zugleich den Beleg geliefert, dass die Kinder- und Jugendliteratur zu einer „eigenständigen Buchgattung“ herangewachsen ist, welche die aufklärerisch-pädagogische Selbstbeschränkung des 18. und 19. Jahrhunderts hinter sich gelassen hat. Inzwischen gilt paradigmatisch nach den Ausführungen von Gerhard Lauer „Harry Potter“ als Teil der „populären Kultur“: „Fast jeder kennt die Charaktere und die Geschichte“, nicht nur wegen der professionellen Schreibweise, dem literarischen Erfindungsreichtum und der Fähigkeit zum plastischen und eingängigen Erzählen. Dies gilt um so mehr dank des gesellschaftlichen Hungers nach neuen Geschichten in der modernen Medienkultur.

Diesem aktuellen Trend zum sogenannten All-Age-Buch beziehungsweise zu Cross-over-Titeln widmet sich differenziert und mit einer breiten Palette an Analysen und Interpretationen der bereits 2011 publizierte Sammelband „Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung?“, herausgegeben vom Gießener Germanisten Carsten Gansel und Pawel Zimniak von der Universität Zielona Gora. Hinter dem etwas sperrig wirkenden Buchtitel verbergen sich eingängige Studien von 19 Autorinnen und Autoren, die Aspekte wie Glück, Lust, Liebe und Leidenschaft in der aktuellen Jugendliteratur, Raumsemantik, Filmadaptionen, Zeitgeschichte, Kolonialerzählungen und Klonen sowie die Bedeutung des Internets als Medium für KJL thematisieren.

Mit den Worten von Sigrun Galter, die sich unter Bezug auf Jurij Lotmans Ansatz der Raumanalyse mit dem Thema „Raumsemantische Grenzüberschreitungen im Bilderbuch“ befasst, lässt sich die in vielen Beiträgen deutlich werdende Ästhetisierung der KJL resümieren: „Galten lange Zeit Einfachheit und leichte Erfassbarkeit als zentrale Forderungen an Kinderliteratur, hat sich inzwischen der Schwerpunkt verlagert. Anspruchsvolle Kinderbücher müssen heute vor allem dem Kriterium der Komplexität entsprechen […] Diese Komplexität schlägt sich in einer allgemeinen Mehrdeutigkeit nieder, sie betrifft zudem die künstlerische Gestaltung, Text-Bild-Bezüge wie auch psychologische Aspekte.“

Bereits einführend diskutiert Carsten Gansel die Gründe der dadurch evozierten Aufstörung, Irritation und – bisweilen – Provokation. Unter Rückgriff auf eine transdisziplinäre „Theorie der Störung“, die als Denkfigur einer Gießener Forschergruppe konzipiert wurde, ordnet Gansel die aktuellen Entwicklungen des zeitgenössischen KJL-Marktes systemtheoretisch ein: Niklas Luhmanns Schriften „Gesellschaft der Gesellschaft“ sowie „Soziale Systeme“ liefern Modelle, um zu analysieren, dass in der aktuellen Literatur für junge Leser „Aufstörungen produziert und Grenzen überschritten werden“. Dies ermöglicht eine Erklärung für den momentanen Trend zur marktwirksamen Mehrfachadressierung der KJL, der einhergeht mit einer impliziten Absage an den traditionellen didaktischen Auftrag der Literatur für junge Leser. Der Beitrag von Tina Schneider zu „Von Harry Potter zu House of Night oder All-Age in aller Munde“ bringt dies exemplarisch auf den Punkt: „Crossover-Literatur wird inzwischen als eine eigene literarische Kategorie angesehen beziehungsweise die beiden bisher existierenden Kategorien […] werden zu einer zusammengeführt“.

Der Gebrauchswert des klar gegliederten und sicherlich weiterführende Forschungsprojekte auslösenden Sammelbandes hätte lediglich durch ein Register der analysierten Kinder- und Jugendbücher sowie durch ein Personenregister der zahlreich genannten Schriftstellerinnen und Schriftsteller (auch internationaler Provenienz) gesteigert werden können.

Einen methodisch und intentional anders konzipierten Sammelband legen die Gießener Forscher Norman Ächtler und Monika Rox-Helmer vor. Unter dem Titel „Zwischen Schweigen und Schreiben“ befragt eine Forschergruppe der Sektion „Medien und Didaktik“ des Gießener „Zentrums für Medien und Interaktivität“ Phänomene der Grenzüberschreitung am Beispiel von zeitgeschichtlichen Erzähltexten der KJL. „Ringel, Rangel, Rosen“ von Kirsten Boie und „Die verlorenen Schuhe“ von Gina Mayer werden als aktuelle Repräsentationstexte der historisch orientierten KJL präsentiert, „die vergangene Epochen und historische Themen mit jugendrelevanten Problemkomplexen verknüpfen“. Dass neben fachwissenschaftlicher Analyse der Nutzwert des Bandes in der Multiperspektivität liegt, verdeutlichen die verschiedenen Interviews, die sich darin befinden: Sowohl Boie als auch Mayer sowie mehrere jugendliche Leser wurden auf ihre Eindrücke, Absichten und Lesarten der Texte hin befragt. Die Werkstattgespräche fungieren dabei als „kritisches Korrektiv“, das die rein akademische Betrachtung von KJL bisweilen relativiert beziehungsweise nuanciert.

Sieben Einzelstudien nähern sich aus verschiedenen Fachrichtungen (Pädagogik, Germanistik, Geschichte und Linguistik) den beiden historischen Jugendromanen an. Grundlegend reflektiert Carsten Gansel den Nationalsozialismus als Gegenstand der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945. Der Gießener Wissenschaftler geht unter anderem der Frage nach, „wie Versuche aussehen, über das Dritte Reich, seine Vor- und Nachgeschichte in literarischen Texten zu erzählen, deren […] Leser bevorzugt Kinder und Jugendliche sind.“ Dabei zeigt er im diachronen Längsschnitt eine enorme Spannbreite an literarischen Gestaltungsformen auf, die mit Begriffen wie „Schonraumdenken“, „Opfermentalität“, „Tricks der Erinnerung“ reichen und Texte mit politisch instrumenteller Provenienz und mit dezidiert didaktischen Ansprüchen subsumieren. Erst seit den späten 1970er-Jahren sei der Nationalsozialismus zum Gegenstand kritisch-aufklärerischer Auseinandersetzung geworden, sozusagen ein „Kind des Geschichtsunterrichts“ in narrativer Form.

Gleichfalls differenziert und sachlich ausgewogen beleuchten die anderen Beiträge unterschiedliche Deutungsaspekte der Romane Boies und Mayers. Norman Ächtlers Beitrag arbeitet gattungstypologische, strukturelle und narratologische Aspekte heraus. Er betont die zielgruppenspezifische Ausprägung des Historischen und den Versuch, realistische Geschichtsromane mit spannenden, geschlossenen Geschichten unter Berücksichtigung eines „authentischen Anscheins“ zu kreieren. Für Boies und Mayers Texte konstatiert er die Einbeziehung jugendspezifischer Themen, indem die jeweiligen „Heldinnen“ – entgegen weit verbreiteten Gattungsnuancen – mit einem „individuellen Innenleben und altersspezifischen Problem- und Konfliktsituationen ausgestaltet“ werden.

Der Fokus der übrigen fünf Analysen zu „historischem Lernen“, „historischen Diskursen“ und pädagogischen Verwendungs- und Auswahlfragen eröffnet wichtige Zugänge zu den beiden Romanen. Es bleibt als Ergebnis aller Ansätze festzuhalten, dass Mayer und Boie „Formen des Erwachsenwerdens als schrittweisen Verlust von Naivität, Unbekümmertheit und Sorglosigkeit“ beschreiben. Gerade Boies „Ringel, Rangel, Rosen“ lädt durch die Konfrontation mit traumatischen Erlebnissen zum „Nachdenken über die Funktion und Motivierung von Schweigen und Sprachlosigkeit“ ein, wie die linguistische Analyse von Lisa Schüler und Katrin Lehnen materialreich und plausibel ergibt.

Zusammenfassend gilt es, für alle drei besprochenen Bände eine Tendenz festzuhalten: Die „Annäherung von Allgemeinliteratur auf der einen und Kinder- und Jugendliteratur auf der anderen Seite“ (Gansel/Zimniak) eröffnet neue fachliche und methodische Perspektiven, da sie die narrativen, diskursiven und thematischen sowie medialen Gestaltungsmöglichkeiten pluralisiert. Seit den 1970er-Jahren hat die Genreentwicklung und vice versa auch die wissenschaftliche Diskussion der kulturwissenschaftlichen Fächer eine spürbare Dynamik erfahren, die symptomatisch für die von Massenkommunikation und Internationalisierung geprägte Gesellschaft ist. Grenzüberschreitungen und Grenzverletzungen sind daher auch im System Literatur en vogue. Wer einen fundierten Überblick über die Facetten und Muster im Teilsystem Kinder- und Jugendliteratur gewinnen möchte, kommt an einem intensiven Studium der drei Sammelbände nicht vorbei.

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Carsten Gansel / Pawel Zimniak (Hg.): Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? Zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2011.
410 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783825359447

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christoph Bräuer / Wolfgang Wangerin (Hg.): Unter dem roten Wunderschirm. Lesarten klassischer Kinder- und Jugendliteratur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
384 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835312456

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Titelbild

Norman Ächtler / Monika Rox-Helmer (Hg.): Zwischen Schweigen und Schreiben. Interdisziplinäre Perspektiven auf zeitgeschichtliche Jugendromane von Kirsten Boie und Gina Mayer.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2013.
190 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783631637579

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