Über den Mut zum Wahrsprechen im politischen Diskurs

Michel Foucaults letzte Vorlesungen „Die Regierung des Selbst und der anderen“ und „Der Mut zur Wahrheit“

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die athenische Demokratie zeichnet sich nach Polybios durch zwei Merkmale aus: die isegoria (Foucault umschreibt sie als „das Recht zu sprechen“) und die parrhesia, in gängigen Darstellungen als „Redefreiheit“ oder „Freimut“ übersetzt. Für Foucault ist die parrhesia viel mehr als das: Ihr widmet er seine letzten, in zwei Bänden auf Deutsch erschienenen Vorlesungen „Die Regierung des Selbst und der anderen“ (gehalten 1983) und „Der Mut zur Wahrheit“ (1984). Zwar habe der Begriff der parrhesia zahlreiche Spuren in griechischen und lateinischen Texten hinterlassen, doch sei er nur selten zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand philosophischer Studien geworden. Dabei verkapsuliere er grundlegende Problematiken der philosophischen Disziplin in Antike und Moderne; allen voran das Verhältnis von Subjekt und Wahrheit sowie von Philosophie und Politik. Nicht von ungefähr ist Gouvernementalität ein Schlüsselbegriff der Vorlesungen: Wer andere regieren will, muss sich selbst zu regieren wissen.

An dieser Stelle knüpft Foucault explizit an frühere Vorlesungen am Collège de France an, wo er seit 1970 eine Professur für die Geschichte der Denksysteme innehatte: In erster Linie wird hier die 1981/1982 gehaltene Vorlesung zur Hermeneutik des Subjekts aufgerufen, in der das Konzept der antiken Selbstsorge (epimeleia heautou) im Mittelpunkt stand. Die Sorge um sich ist als theoretisch-praktische Voraussetzung der parrhesia zu verstehen: Auf welche Weise sich das Subjekt zu sich selbst ins Verhältnis setzt, bestimmt seine Konstitution auch noch im Verhältnis zu den anderen.

Es geht dem französischen Denker in den letzten beiden Vorlesungsreihen darum, zu untersuchen, auf welche Weise sich das Individuum im Akt des Wahrsprechens als Subjekt konstitutiert, und wie es in demselben Akt von den anderen konstituiert wird. Foucault bezeichnet diesen Fragenkomplex auch als „Alethurgie“. Insbesondere im zweiten Band tritt vor diesem Hintergrund der Kyniker in den Mittelpunkt der Betrachtungen, als asketischer Vertreter einer marginalisierten philosophischen Strömung, der Selbstsorge und Mut zur Wahrheit verschränkt beziehungsweise tatsächlich als Lebensform praktiziert.

Bevor Foucault sich den antiken Quellen der parrhesia zuwendet – die ebenso detaillierte wie originelle Lektürepraxis kanonischer und weniger bekannter antiker Texte kennen wir auch aus der „Hermeneutik des Subjekts“ – leitet er die Vorlesung mit methodischen Bemerkungen ein, die überraschenderweise an das Studium des Kanttextes „Was ist Aufklärung?“ gekoppelt sind. Auch unabhängig von der Gesamtvorlesung lohnt sich die Lektüre dieser ersten Sitzung, weil Foucault darin die „Verschiebungen“ resümiert, die er in seinem Werk an klassischen Themen der Philosophie und im Versuch einer Geschichte von Brennpunkten der Erfahrung (wie Wahnsinn, Kriminalität und Sexualität) vollzogen hat: „Die Ersetzung der Geschichte der Wissensformen durch die historische Analyse der Formen der Veridiktion, die Ersetzung der Geschichte der Herrschaft durch die historische Analyse der Verfahren der Gouvernementalität, die Ersetzung der Theorie des Subjekts [….] durch die historische Analyse der Pragmatik des Selbst“.

Kants „Was ist Aufklärung?“ von 1784 ist in diesem Werkzusammenhang nicht unbedingt leicht zu situieren. Foucault aber sieht in dem berühmten Text erstmals einen „neuen Typ von Frage“ aufgeworfen: die Frage nach der Gegenwart. In Foucaults prägnanter Formulierung: Die Philosophie wird hier „zum Erscheinungsort ihrer eigenen Diskursgegenwart, einer Gegenwart, die sie als Ereignis befragt“. In seiner Analyse kommt der Philosoph zum Schluss, das Ziel der Aufklärung bestünde in der „Neuverteilung der Beziehungen zwischen der Regierung des Selbst und der Regierung der anderen“.

Diesen Beziehungen widmet sich Foucault im Folgenden hauptsächlich anhand von Texten aus dem 5. und 4. Jahrhundert, in einem Zeitraum, da sich Bedeutung und Funktionen der parrhesia in Transformation befinden. Ungeachtet des Wandels in der Begriffsgeschichte lässt sich die parrhesia, die im christlichen Denken unter anderem für die Frage der Gewissensleitung relevant wurde, im Denken Foucaults so knapp wie nur möglich als „Wahrsprechen“ auffassen. Sie sei als Tugend, als Aufgabe und als Technik zu verstehen, die in ein komplexes Verhältnis zur Gouvernementalität und deren Verfahren tritt. Vor diesem Hintergrund bezeichnet die parrhesia nicht nur den Umstand, die Wahrheit zu sagen; sie bezeichnet auch die Art und Weise, die Wahrheit zu sagen: Der Sprecher bringt sich dabei selbst in Gefahr, nimmt dieses Risiko aber rückhaltslos in Kauf. Foucault spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Dramatik des wahren Diskurses“. Denken wir an den Berater, der dem Regierenden schonungslos offen und womöglich unerwünscht sagt, wie es um seine Sache steht, oder – als weitere Figuren des Parrhesiastikers – an den Kritiker oder Revolutionär. Eine weitere Bedingung der parrhesia besteht darin, dass der Sprecher selbst von der Wahrheit des Gesagten überzeugt ist, selbst für diese Wahrheit einsteht. Foucault spricht hier auch vom „parrhesiastische[n] Bündnis des Subjekts mit sich selbst“.

Dieses Bündnis wird in einer glänzenden Analyse von Euripidies’ Tragödie „Ion“ untersucht, an Thykidides’ Behandlung von Perikles und dessen Reden vor Athen, schließlich an mehreren Texten Platons. In ihnen lassen sich Entwicklungen wie die Auflösung der Verbindung von Demokratie und parrhesia nachzeichnen, sodass das Wahrsprechen letztlich auch in der Einbettung in autokratische Regierungsformen thematisiert wird. So wendet sie sich bei Platon als eine psychagogische Tätigkeit an die Seele der Herrschenden, damit sich diese selbst ebenso wie den Staat richtig regieren mögen. Auch die Verlagerung von einer politischen zu einer philosophischen parrhesia lässt sich an den ausgewählten Texten nachvollziehen. Gemeinsam ist ihnen die Frage, wie sich das Wahrsprechen in die Wirklichkeit einfügt – die Philosophie als „Veridiktion gegenüber der Macht“ ist eine Praxis, die sich als Wirklichkeit behauptet. In diesem Sinne analysiert Foucault auch eine Ontologie des Wahrheitsdiskurses, in deren Verlauf immer deutlicher wird, wie die parrhesia als Philosophie gesetzt wird, oder die Philosophie als parrhesia, die sich über den Gegensatz zur Rhetorik definiert: „Dort, wo die Philosophie ist, kann es keine Rhetorik geben.“

Im Kyniker entdeckt er eine Figur, die der Philosophie als Manifestation von Wahrheit um jeden Preis Gestalt verleiht und die Frage nach dem „wahren Leben“ oder nach der gelebten Wahrheit aufwirft – für Foucault „philosophischer Aktivismus“ in seiner bedeutendsten Form. So ist diese Außenseiterfigur der Philosophie letzteres keineswegs äußerlich: „Vielleicht könnte man die Geschichte der modernen europäischen Philosophie als eine Geschichte der Veridiktionspraktiken, als eine Geschichte der Praktiken der parrhesia auffassen“. Die Untersuchung der parrhesia setzt also die früheren Bemühungen Foucaults um die Praxis der Selbstsorge fort und erweitert sie, verschiebt den Fokus auf die Regierung der anderen, zugleich transzendiert er aber den Rahmen der „Hermeneutik des Subjekts“.

Auch der Vorlesung selbst als Ereignis ist das zweifache Verhältnis des Subjekts zu sich und den anderen auf einer Meta-Ebene eingeschrieben; dadurch etwa, dass Foucault wiederholt seine Einsamkeit als Redner in dem brechend vollen Saal beklagt, aber auch die eigene Position ironisch reflektiert. „Ich habe zu den anwesenden Personen eine Beziehung wie ein Schauspieler oder Akrobat. Und wenn ich aufhöre zu sprechen, die Empfindung totaler Einsamkeit“. Die Herausgeber François Ewald und Alessandro Fontana weisen auch in anderer Hinsicht auf die Ereignishaftigkeit der Vorlesungen hin, insofern diese Foucaults Veröffentlichungen nicht verdoppeln, sondern ihren eigenen Status behaupten. Die Lektüre der voluminösen Vorlesungsmanuskripte wird in der vorgelegten Edition durch die kurze stichwortartige Zusammenfassung unterstützt, die jeder Sitzung vorangestellt ist. Vervollständigt werden die Bände durch eine „Situierung“, in der Frédéric Gros die Vorlesungen werbiografisch und zeitgeschichtlich kontextualisiert. Gros weist zu Recht darauf hin, dass der Leser geneigt ist, diese letzten Vorlesungen als eine Art philosophisches Testament zu lesen. Dies sei auch nicht völlig unberechtigt, schreibe Foucault doch „die Gesamtheit seines kritischen Werks“ in sie hinein. „Es ist zu spät. Also dann, dankeschön“. Mit diesen lakonischen Worten endet im März 1984 die letzte Sitzung. Wenige Monate später, im Juni, ist Foucault tot.

Titelbild

Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen. II. Vorlesung am Collège de France 1983.
Übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
478 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296202

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Titelbild

Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83.
Übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
505 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296196

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