Das Vorspiel zum Holocaust?

Raphael Gross legt eine konzise Darstellung der Novemberpogrome 1938 vor

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 75. Mal jährten sich im November 2013 jene vom Nazi-Regime organisierten Gewaltmaßnahmen, die vom 7. bis 13. November 1938 mehrere hundert Todesopfer unter der jüdischen Bevölkerung Deutschlands forderten. Zehntausende Menschen wurden in Konzentrationslager verschleppt. Weit über tausend Synagogen und andere religiöse Treffpunkte wurden zerstört, dazu tausende jüdische Geschäfte und Wohnungen. Ein knapper Überblick über diese lange als „Reichskristallnacht“ bekannten und nunmehr meist unter dem Begriff „Novemberpogrome“ subsumierten Ereignisse liegt jetzt in der Reihe „C.H. Beck Wissen“ vor. Verfasst wurde er von einem der prominentesten deutschsprachigen Historiker zur deutsch-jüdischen Geschichte: Raphael Gross, Direktor des Leo Baeck Instituts in London, des Jüdischen Museums Frankfurt am Main und des Fritz Bauer Instituts ebenda, unlängst ausgezeichnet mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen.

Für die deutschen Juden waren jene Pogrome der dramatische Endpunkt eines Jahres, das eine ständige Verschlechterung ihrer rechtlichen Ansprüche und ihrer Lebensbedingungen gesehen hatte. Ende März wurde den jüdischen Gemeinden der Status als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ aberkannt. Der „Anschluss“ Österreichs im gleichen Monat ging einher mit einer Zunahme antisemitischer Gewalt. Als Leiter der Wiener „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ tat sich Adolf Eichmann hier schon früh unrühmlich hervor, bis Ende des Jahres verließen etwa 40.000 Juden die nunmehrige „Ostmark“. Im „Altreich“ lebten Anfang 1938 noch etwa 400.000 Juden, allein in Berlin waren es zu Beginn des Folgejahres etwa 60.000 weniger. Weit mehr als die Hälfte der ursprünglich sich in jüdischem Besitz befindenden Betriebe war im Herbst 1938 bereits enteignet worden. Seit Juli mussten jüdische Bürger besondere Kennkarten bei sich tragen. Ende Oktober wurden tausende Juden polnischer Herkunft, die länger als fünf Jahre im Ausland lebten, im Rahmen der so genannten Polen-Aktion in das Nachbarland abgeschoben, nachdem ihnen durch einen Beschluss der polnischen Regierung die Pässe entzogen werden konnten. Das Attentat des 1935 nach Paris emigrierten Herschel Grynszpan – dessen Eltern von der Maßnahme betroffen waren – auf den Diplomaten Ernst Eduard vom Rath am 7. November nahmen die Führungsriege der Nazis und vor allem Joseph Goebbels dann zum Anlass, zur massiven öffentlichen Gewalt gegen die Juden zu schreiten. Entsprechende Anweisungen an die Parteifunktionäre wurden auf einer Rede am 9. November in München weitergegeben und anschließend im ganzen Land verbreitet. Neben der bayerischen Hauptstadt war Berlin ein Zentrum der unterschiedlichen Formen von Gewalt, welche die Juden in den nächsten Tagen erleiden mussten. Es folgten Massenverhaftungen und weitere staatliche Verordnungen wie diejenige „über den Einsatz des jüdischen Vermögens“, womit die Juden nahezu vollständig aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen werden sollten.

Im Kleinen waren die Novemberpogrome ein Verweis auf das, was nur wenige Jahre zur fast völligen Vernichtung des europäischen Judentums führen sollte: den massenhaften, industrialisierten Mord im Holocaust. Doch auch wenn sich einige Handlungsmuster wie die führende Rolle der SS bereits abzeichneten, war eine solche Entwicklung in ihren schrecklichen Ausmaßen Ende 1938 gleichwohl noch nicht absehbar. Die Intentionen der Nazis waren hier ebenfalls noch andere: massive Auswanderung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung wurden als unmittelbare Ziele formuliert. Dabei handelte es sich um eine „Austreibung ohne Auswanderungsmöglichkeiten“, denn die Arisierungspolitik hatte zur massiven Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse vieler Juden geführt, und die Aufnahmebereitschaft vieler Länder blieb überschaubar. Der Wille zur Auslöschung artikulierte sich dann in der Radikalisierung des Weltkriegs. Die Novemberpogrome bildeten so eine „Katastrophe vor der Katastrophe“. Diese Formulierung, die dem Buch seinen Untertitel gibt, geht zurück auf einen weiteren Doyen der deutsch-jüdischen Historiografie: den Jerusalemer und Leipziger Historiker Dan Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur in der sächsischen Messestadt. Diner hatte sie als Titel eines eigenen Beitrags im von ihm gemeinsamen mit dem Essener Historiker Dirk Blasius herausgegebenen Sammelband „Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland“ aus dem Jahr 1991 verwendet. Seitdem wurde sie immer wieder zitiert und auch von Gross bereits einmal als Titel eines Textes genutzt, den er im November 2008 anlässlich des 70. Jahrestages der Pogrome in der Frankfurter Allgemeinen veröffentlichte.

Die jetzt bei Beck veröffentlichte Darstellung profitiert stark von einer Quellenedition, die Gross 2008 gemeinsam mit dem Direktor der Wiener Library in London, Ben Barkow, und Michael Lenarz vom Jüdischen Museum Frankfurt am Main bei Suhrkamp vorgelegt hat, und die er in ebenjenem FAZ-Artikel vorstellte. Das von Alfred Wiener – einem der wichtigsten Repräsentanten des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens als Vertreter des deutsch-jüdischen Bürgertums – nach seiner Flucht aus Deutschland zunächst in Amsterdam gegründete „Jewish Central Information Office“ sammelte ab November 1938 weit über 300 Augenzeugenberichte von den Novemberpogromen. 1939 ging Wiener nach London, wo die Sammlung den Grundstock der heutigen Wiener Library bildete. Die Berichte wurden von Gross und seinen Kollegen vollständig editiert und haben nun vielfach Eingang in das vorliegende Buch gehalten. Eindrücklich kommen so Leid und Verzweiflung der deutschen Juden zur Geltung. Auch jenseits der Überlieferungen aus der Wiener Library findet eine Reihe von Selbstzeugnissen Verwendung: Victor Klemperer, Theodor Adorno, Walter Benjamin, Carl Zuckmayer, sie alle kommen in Zitaten zu Wort. Neben den Pogromen selber thematisiert Gross die Rolle und den weiteren Lebensweg von Grynszpan, die Reaktionen im In- und Ausland sowie die Folgen in Form von Vertreibung und Auswanderung. Den Abschluss bilden einige Reflexionen zur Rolle des 9. November als Gedenktag und dessen Überlagerung durch andere Ereignisse der deutschen Geschichte wie vor allem den Mauerfall. Dabei wurden einige kleine Fehler übersehen – so lag Chemnitz im Gau Sachsen, nicht in Magdeburg-Anhalt.

Inhaltlich wird aber eindrucksvoll deutlich, dass die Novemberpogrome für eine Zäsur stehen, „für eine neue Dimension der Gewalt gegen Juden, für den Übergang von der Diskriminierung und Entrechtung zur systematischen Verfolgung, Beraubung und Vertreibung.“ Einmal mehr zeigt sich, welch ungeheurer Verlust für das deutsche Geistesleben mit dieser Zäsur einherging. Dieses Ende der deutsch-jüdischen Epoche knapp und verständlich darzustellen und dabei immer wieder die Stimmen der Opfer zu Wort kommen zu lassen, ist das Verdienst von Gross.

Titelbild

Raphael Gross: November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
128 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-13: 9783406654701

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