Ein Leben lang kämpfen gegen das Vergessen

Zum Tod von Juan Gelman

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Juan Gelman war ein Schriftsteller, dessen Biografie stellvertretend für zehntausende Argentinier gelesen werden kann, die in den 1970er-Jahren Opfer des Militärregimes geworden sind. Schreckliche Verluste von Familienangehörigen. Ein Leben im Exil. Die Unmöglichkeit, selbst in einem demokratischen Argentinien zu leben. Die ständige Anwesenheit der Abwesenheit: der verschwundene Sohn, die verschwundene Schwiegertochter, das in Gefangenschaft und zur Zwangsadoption freigegebene Enkelkind. Die Zusammenführung mit der Enkeltochter nach jahrelanger Suche und Ungewissheit, ob sie sich überhaupt am Leben befindet. Doch einen Unterschied gibt es zwischen Gelman und den meisten anderen Opfern der Diktatur: Gelman war Schriftsteller, Lyriker vor allem, und Sprache konnte ihm als Mittel dienen, einerseits die eigene Trauer zu bewältigen, andererseits die Menschen in seinem Land darauf aufmerksam zu machen, dass man auch inmitten der Freude um den Einzug der Demokratie 1983 nicht die Aufarbeitung einer schrecklichen Vergangenheit aus den Augen verlieren darf, die, wie so oft in postdiktatorischen Gesellschaften, heimlich und leise dem Vergessen anheim fallen sollte.

Leben

Juan Gelman wurde am 3. Mai 1930 in Buenos Aires als dritter Sohn jüdisch-ukrainischer Einwanderer geboren. Von früher Kindheit an schrieb er, bereits im Alter von elf Jahren veröffentlichte er erste Gedichte. Nach einem abgebrochenen Chemie-Studium widmete er sich voll und ganz der Poesie und arbeitete zudem immer wieder als Journalist. Seine politische Gesinnung war früh gegeben: Mit 15 wurde er Mitglied der kommunistischen Jugend, und in den folgenden Jahren beteiligte er sich aktiv am politische Geschehen. 1963 wechselte er zum revolutionären Flügel der Peronistischen Partei. 1967 trat er mit der guevaristisch orientierten FAR (Fuerzas Armadas Revolucionarias) in den bewaffneten Kampf ein. 1973 fusionierte die FAR mit den berüchtigten Montoneros (der radikalen Abteilung der Peronisten), für die er fortan als Pressesprecher agierte. Während einer Europareise, auf der Gelman im Namen der Montoneros auf die demokratiefeindlichen Entwicklungen in seinem Heimatland aufmerksam machen sollte, ereignete sich der Militärputsch in Argentinien, der es dem Lyriker unmöglich machte, in seine Heimat zurückzukehren.

Im August 1976 verschwanden seine Tochter Nora Eva, sein Sohn Marcelo Ariel sowie seine im siebten Monat schwangere Schwiegertochter María Claudia. Während seine Tochter wieder freigelassen wurde, blieben sein Sohn, dessen Frau und das, wie Gelman später erfuhr, in Gefangenschaft geborene Kind verschwunden. Nach der Diktatur suchte Gelman jahrelang nach seinem Sohn und dessen Familie. 1990 wurden schließlich die sterblichen Überreste Marcelos gefunden und 1998 fand der Lyriker heraus, dass seine Schwiegertochter im Rahmen der berüchtigten Operación Condor getötet worden war.

Da Ende der 1990er-Jahre eine zweite Welle der Aufklärung über Argentinien schwappte, während der jene in Gefangenschaft geborenen (und zur illegalen Adoptionen durch regimetreue, kinderlose Bürger freigegebenen) Kinder von Verschwundenen sich aktiv auf die Suche nach ihrer wahren Identität machten, gelang es Gelman, seine Enkelin zu finden, die mittlerweile auf den Namen Andrea hörte. In der Folgezeit suchte Gelman unermüdlich weiter, um auch noch die Überreste seiner Schwiegertochter zu finden, und kämpfte darum, die Schuldigen vor Gericht zu bringen.

Dass ein solch politisiertes Leben auch eine stark politisierte Lyrik hervorbringt, scheint zwangsläufig. Und doch steht Gelman, der nur aufgrund seiner Überzeugungen dieses Leid durchleben musste, wie kein anderer argentinischer Schriftsteller für die grausame Geschichte eines Landes, das bis heute, dreißig Jahre später, den Schatten der Militärdiktatur nicht loswerden kann.

Werk

Seine Lyrik war stets auch politisch, Leben und Poesie wollte Gelman nicht trennen. Bereits 1955 gründete er mit anderen jungen Dichtern die Lyrikergruppe „El pan duro“, die eine an die politische und gesellschaftliche Realität gekoppelte Dichtung forderte und mittels einer einfachen, verständlichen Sprache vom Volk verstanden werden wollte. Poesie sei ein menschliches Grundbedürfnis, wie das Brot, und „El pan duro“ sah diese Poesie als Waffe gegen die sozialen Missstände. Das erste Buch, das von der Gruppe herausgegeben wurde, war zugleich Gelmans erster Gedichtband, „Violín y otras cuestiones“, erschienen 1956. Anfang der 60er Jahre begann sich Gelman mit seinem vierten Gedichtband „Gotán“ (Tango, silbenverdreht, wie man es im lunfardo, der Sprache des einfachen Bonairensers, ausspricht) von „El pan duro“ zu distanzieren, parallel zu seinem wachsenden Engagement in der Kommunistischen  Jugend. „Gotán“ war zudem ein wichtiger Schritt zur nueva poesía latinoamericana, der Neuen Lateinamerikanischen Lyrik, die in den darauffolgenden Jahren den Kontinent literarisch revolutionieren würde. Als weitere Vertreter der nueva poesía latinoamericana sind zum Beispiel die weltweit renommierten Lyriker Nicanor Parra aus Chile, Ernesto Cardenal aus Nicaragua oder Mario Benedetti aus Uruguay zu nennen.

Die Lyrik, die Gelman zu jener Zeit schrieb, ist melancholisch, sentimental, aber auch humoristisch und immer von gesellschaftspolitischer Relevanz. Wenn er seinem wegweisenden Gedichtband den Titel „Gotán“ gibt, so ist dies mehr als nur eine sprachliche Spielerei: Die Melancholie des Tango ist in Gelmans Poesie allgegenwärtig.

Doch Gelman war kein Dichter des Stillstands. Er entwickelte seine Lyrik stets weiter. Mit der 1965 erschienenen (und 1971 zu einer definitiven Version überarbeiteten) Gedichtsammlung „Cólera buey“ verfeinerte er seinen experimentellen Umgang mit Sprache, ohne jedoch die Geschichten des ‚kleinen Mannes’ zu vernachlässigen, die für seine Gedichte so zentral waren.

Zwischen 1973 und 1980 plötzlich das große lyrische Schweigen: Während der ersten Jahre im Exil erschienen keine neuen Gedichtbände. Dann, 1980, publizierte Gelman den Gedichtband „Hechos“, vielleicht sein wichtigstes Werk, mit dem seine Lyrik eine entscheidende Wandlung genommen hat. Plötzlich waren Schmerz, Verlust und Leiden allgegenwärtig: Gelman hat in diesem Band einen hochemotionalen Ton angeschlagen, wie er, so erfüllt von Schmerz, in der zeitgenössischen Poesie seinesgleichen sucht.

In „Hechos“ findet sich auch eines seiner eindringlichsten Gedichte, „Carta Abierta“ („Offener Brief“):

am 24. August 1976
wurden mein Sohn Marcelo Ariel und
seine schwangere Frau Claudia
in Buenos Aires von einer
Einheit des Militärs
entführt.

wie in zehntausenden
anderen Fällen erkannte
die Militärdiktatur niemals
ihr „Verschwinden“ offiziell an.

Sie sprach von den
„für immer Abwesenden“.
Solange ich nicht ihre Leichen zu Gesicht bekomme,
oder ihre Mörder, werde ich sie niemals
für tot halten.

Vielleicht kann diese Zeit als die produktivste, eindringlichste in Gelmans langem Leben als Lyriker gelten. Ein weiteres Gedicht aus jener Zeit, „Notiz IX“, beschreibt das Leid der Menschen während der Diktatur auf weniger persönliche Weise als „Carta abierta“:

so sehr regnete es Blut/
Blut regnete es in meinem eigenen Land
aus den Adern, die der Henker schnitt/
aus dem Herzen, das sich erinnert an sie/

Brüder segeln durch das Blut
jeden Tag jeden Tag jeden Tag/
diese Reise führt uns nicht
ins Paradies nicht in die Hölle/

wir fahren nicht ins Paradies/
wir fahren nicht in die Hölle/
wohin fahren wir / Blut/
singst du, geliebtes, bei Nacht?

oder fliegst du wie ein Vogel
von Blut zu Blut/erinnernd/
das heißt ein Spatz in Widerstand
gegen das Vergessen/dass kein Tropfen trockne?

so segelten wir/blind/
dass niemand getrocknet wäre/
oder geflogen von Blut zu Blut
und singen könnte/singen

Ende der 1990er-Jahre schrieb Gelman verstärkt Gedichte an seine wiedergefundene Enkelin Andrea („Andreíta“). Schon bevor er sie 1998 wiederfand, erschien ein Prosaband mit dem Titel „Ni el flaco perdón de Dios/Hijos de desaparecidos“, in dem er dafür plädiert, stumm zu werden, um das Wort den Kindern der Verschwundenen zu übertragen.

Bis kurz vor seinem Tod veröffentlichte der mittlerweile in Mexiko lebende, und mit zahllosen Literaturpreisen ausgezeichnete Juan Gelman Lyrik – und – erst seit Ende der 1990er-Jahre – vermehrt Prosabände. Mit seinem Tod am 14. Januar 2014 ist nicht nur ein bedeutender Lyriker von uns gegangen, sondern auch ein großer Kämpfer für Menschenrechte und Demokratie, der sein Leben lang einen Kampf gegen das Vergessen geführt hat.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz