Gebe, o Gott! daß sie wenigstens lustig wird, meine Klage

Martin Rectors Anthologie der LiteraTour Nord

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Roman „Hundstage“ (1988) schildert Walter Kempowski eine bewegende Jurysitzung. In Hamburg soll der neue Barthold-Hinrich-Brockes-Preisträger gekürt werden, und die 15.000 Mark, die zu vergeben sind, deuten auf einen Preis der mittleren Kategorie – nicht ganz viel, aber auch nicht ganz wenig.

In köstlicher Manier porträtiert Kempowski die Schriftsteller, die hier zur Wahl stehen: Allesamt „gestandene Talente“, für die der Brockes-Preis eine „schöne Ermutigung“ wäre. Da ist zum Beispiel Adolf Schätzing, der mit „kargen Gedichten“ in der Bense-Heißenbüttel-Mon-Nachfolge aufwarten kann: „Definitionen I“ lautet der Titel des „geschmackvoll“ aufgemachten Bändchens, und dieser Titel scheint weitere „kostbar-schöne Vierzeiler“ in nicht allzu langer Ferne zu avisieren. Ja, um Gottes willen! („Mehr nicht erschienen“ lautet da der beglückende Titel eines „Marbacher Magazins“, vom besonnten Friedrich Pfäfflin kostbar ediert.)

Oder da wäre Ellen Butt-Prömse, die grün-alternative Verfasserin von „Pferdelyrik“ – was Brockes wohl zu ihr sagen würde? Nun, auch ihn mitentscheiden zu lassen, diese Gefahr besteht nicht: Der Dichter liegt schon lange in seinem kühlen, kühlen Grab – der Nachwelt entzogen, die ebenfalls was zu verlieren hat.

Überhaupt die Juroren. Sie werden von Kempowski feinsinnig-ironisch und mit viel Nachsicht in Szene gesetzt: Schließlich haben sie das alles lesen müssen, was jetzt zur Begutachtung ansteht. Da ist beispielsweise Neelsen, ein älterer Hamburger, dem schon die Haare aus den Ohren sprießen; da ist der Kritiker Achilles, ein „dicker, fleischiger Mann mit herunterhängender Unterlippe“, Mitglied in dreizehn solcher Auswahlgremien – ein Literaturpapst, lesesatt bis obenhin, der seine Feindschaften pflegt und gerne mal einen Autor abserviert. Schließlich Helga Klincke nicht zu vergessen, die „unkündbare Rundfunkredakteurin“, die für ihr unverzagtes Schweigen geschätzt wird.

Kempowski thematisiert auch die fadenscheinigen Argumente, die schließlich den Ausschlag für Schätzing geben. Und während der Juryvorsitzende den unrasierten Lyriker in seiner Berliner Hinterhaus-Wohnung anruft und ihn anfleht, den Preis doch bitte anzunehmen, machen sich die übrigen Juroren über die bereitgestellten Törtchen her.

Der Preis der LiteraTour Nord wird ähnlich, und doch wieder ganz anders vergeben, spektakulärer. Auch er ist mit 15.000 dotiert, die Währung freilich in Euro, und es wird (fast) ausschließlich Prosa gekürt. (Auf die eine Ausnahme komme ich noch zu sprechen.) Der Preis der mittleren Kategorie kann auf bislang 21 Preisträger zurückblicken, und nicht wenige von ihnen gereichen ihm und der Jury zur Ehre, darunter Jenny Erpenbeck, Wilhelm Genazino, Iris Hanika, W. G. Sebald. Von vielen anderen glücklichen Gewinnern freilich hat man „nie wieder was gehört“: Liane Dirks, Bernd Eilert, Josef Haslinger oder Emine Sevgi Özdamar.

Nach zwanzig Jahren hat Martin Rector, Jury-Sprecher seit den Anfängen, eine Jubiläumsanthologie aller Preisträger herausgegeben, eine Bilanz durchweg unveröffentlichter Texte, die uns einen Eindruck vermitteln soll von der Tour de Force, die eine solche Reise mit dem eigenen Buch bedeuten kann: hässliche Städte („Hässliches, du hast so was Verlässliches“), unbequeme Hotelbetten, eines wie das andere, dazu garstige Gastgeber, ständig sprotzende Technik. Wie klagte kürzlich ein deutscher Literat in Frankreich: „Alles mir zu Ehren, aber alles ohne mich“. (Wie gut, dass er schon lange nicht mehr eingeladen war, sonst hätte dem Norden auch das noch geblüht.)

Überhaupt, die Autoren – weltfremd und unerfahren. Erst hinterher wissen sie, worauf sie sich eingelassen und welche Strapazen sie auf sich genommen haben. Für 500 Euro Abendgage, die erst noch versteuert werden muss! Und auch Walter Hedinger, der jede Lesung besucht und seinen Eintritt entrichtet, weiß erst danach, worüber er sich erzürnen darf, all die Abende –  war er doch den Autoren geradezu „machtlos ausgeliefert“. Und wenn sie nun ihr Gedicht gezückt hätten wie ihr Messer? Mit einer zotigen Ansammlung von Wörtern? („Sonette find ich sowas von beschissen.“)

„Ich saß nun in Fahrtrichtung“, schreibt Anne Duden, und das ist wohl wörtlich ebenso wie metaphorisch gemeint. Ist es doch Kennzeichen der LiteraTour Nord, dass jeweils bis zu sechs Autoren angefragt werden, sich auf die strapaziöse Lesereise durch fünf (mittlerweile sechs) Universitätsstädte „des Nordens“ zu begeben. Daher der Name: Eine Art Nordic Walking mit den Stationen Oldenburg, Bremen, Lübeck, Rostock (die bislang einzige Osterweiterung!), Lüneburg und Hannover. Was, Lüneburg hat eine Universität?

Hinterher ist man restlos fertig. Denn auf jeder Station der TorTour haben sich Buchhändler, Literaturvermittler und Universitätsprofessoren zusammengeschlossen, um die anreisenden Autoren zu begrüßen und zu betreuen, und das heißt eben auch: peinlich zu befragen. Sie sollen nicht nur ihr Buch vorstellen, sie sollen es auch gleich erklären und also interpretieren helfen. Und dabei soll es sogar vorgekommen sein, dass Schriftsteller gezwungen waren, den Klappentext – ausgerechnet! – zu ihrem eigenen Buch vorzutragen, wo sie dann (erstmals?) über sich lesen mussten, dass sie „schonungslos“ und „ergreifend“ zu erzählen wüssten. Für jeden Autor mit Sprachgefühl eine Angstvision.

Grausames von der LiteraTour Nord 2013/14 berichtet Marion Poschmann in der „Welt“: „Im Moment bin ich auf Lesereise. Die Literatour Nord hat mich eingeladen, in sechs Städten Norddeutschlands meinen neuen Roman vorzustellen, und in den freien Stunden, die vor und nach den Lesungen bleiben, werde ich von den Veranstaltern betreut. […] Eine studentisch-professorale Gruppe, dick in Survival-Outfit gehüllt, holt mich ab. Unterwegs schwelgt die Gruppe in Gewaltfantasien und häuft einen starken Reiz auf den anderen. Themen sind Inzest im Plattenbau, prügelnde Väter, heimtückische Vergiftung lärmender Nachbarn, […] Todesarten verschiedener Schriftsteller, Kindsmord in Literatur und Realität sowie die Schlachtung von eigenem Vieh. Ob sie ahnen, dass wir zu einem faden Ort unterwegs sind, und instinktiv mit einem Gegenprogramm kontern?“

Genauso ist es. Erst tagen die Seminare und brüten über unverständlichen Texten (zu denen es noch nicht einmal Sekundärliteratur gibt), dann werden die Autoren „betreut“, und schließlich müssen sie in der örtlichen Buchhandlung (wahlweise im Literaturhaus) lesen und diskutieren. Mit Lesern, die ihr Buch kennen – eine ganz neue Erfahrung. Irgendwann dann tagt die Jury, und Kritiker Achilles, der „dicke, fleischige Mann mit herunterhängender Unterlippe“, Mitglied in dreizehn solcher Auswahlgremien, ist natürlich auch wieder mit dabei. Hat Kempowski hier gegen die Political Correctness verstoßen?

Eine Publikumsstimme übrigens gibt es überdies: Wer, wie Walter Hedinger, alle Lesungen aller Autoren besucht hat, darf mit abstimmen. Am Ende wird der Scheck der VGH-Stiftung in feierlicher Zeremonie in Hannover überreicht. Ein Laudator singt feurig das Loblied seines Schützlings, und dann strömt die Menge zu den bereitgestellten Törtchen.

Die Bilanz nach zwanzig Jahren stimmt heiter: Fast alle Preisträger leben noch – auch dies ein Indikator dafür, dass der Preis noch jung ist und sich an „gestandene“ Talente richtet, nicht an Büchner- und Nobelpreisträger, die schon alles abgeräumt haben. Die LiteraTour Nord kann damit quasi als „mittlere Station“ in der Preisgeschichte der Literaten gelten – nur in den seltensten Fällen, wenn überhaupt, dürfte sie Anfang und zugleich Ende der Reise zu den Literaturpreisen  der Gegenwart (gewesen) sein. (Dann war die Wahl vielleicht ein Griff ins Klo?) Das wäre doch einmal ein schönes Thema für eine Seminararbeit? Denn auch Studenten kommen in den Genuss der LiteraTour Nord, lernen – erstmals in ihrem Leben – Schriftsteller kennen („Das sind auch nur Menschen…“), verfassen ihre erste Rezension und entwickeln ein Gespür für die Nöte des fahrenden Volks. Einige Youngster schreiben sogar eine Kritik und veröffentlichen sie in der örtlichen Tageszeitung (der jeweils zweitbesten Zeitung der Welt). Und wer weiß, vielleicht arbeiten sie dereinst für www.literaturkritik.de. Und lassen ihren Fantasien freien Lauf.

Den Autoren mag es ähnlich gehen. Thomas Hürlimann, Preisträger des Jahres 2007, thematisiert die „existenzielle Geworfenheit“ seiner Schriftstellerexistenz. Muss es nicht heißen: existentiale? Sitzt da über einem leeren Blatt Papier, und es bleibt leer. In trostlosen Absteigen vor leeren Bahnhöfen des Nordens zappt er sich durch die Programme (die Auslagen für Pay-TV werden nicht erstattet). Ausgerechnet am „Tag der Jogginghose“ muss er vor Bremischen Honoratioren lesen – „das geht gar nicht“ (wie unsere eiserne Kanzlerin sagen würde): Wer erinnert sich nicht an Lichtenhagen und die „beschiffte Hose“ (entlehnt bei Kempowski, der sein Rostock kannte), von der Zeitschrift „Titanic“ als Abo-Geschenk verbreitet?

Unter den Preisträgern der LiteraTour Nord sind auch zwei Repräsentanten der Neuen Frankfurter Schule, von denen freilich nur einer noch von Interesse ist: Robert Gernhardt. Er ist der einzige Preisträger, der mit Gedichten auf die Reise gegangen war. Sein Tourbericht, den unveröffentlichten „Brunnenheften“ entnommen, die in des Dichters Nachlass in Marbach ruhen, vermittelt den lebendigsten Eindruck von diesem Wettbewerb, der in der literarischen Welt „ohnegleichen“ ist. Gernhardt gab alles: denn nicht nur der Text musste überzeugen, auch die Lesung, die sogenannte Performance, ging in die Wertung mit ein. Gernhardts Tour-Tagebuch liest sich wie folgt:

11. November, Bremen
„Warst du gestern bei der Gernhardt-Lesung?“
„Ja, war ich.“
„Und? Worum ging’s?“
„Darum, wie er fast gestorben ist.“
„Und? Wie war’s?“
„Lustig.“

Nicht lustig war es für jene, die leer ausgingen – oder etwa doch? Klaus Modick beispielsweise klagte, dass Bernd Eilert ihm zuvorgekommen und den „Oldenburg-Bonus abgegriffen“ habe. In diese Klage könnte Jochen Schimmang mit einstimmen, und Gerhard Seyfried soll sogar versehentlich nach Oldenburg in Schleswig-Holstein statt nach Oldenburg in Oldenburg gefahren sein („Wenn einer eine Reise tut…“).

Lustig oder nicht lustig, das ist hier die Frage. Jedenfalls ergäbe sich eine völlig andere Preisgeschichte, wenn die folgenden Namen aus dem Hut gezaubert worden wären – Namen von Schriftstellern, die ebenfalls mit auf Tour waren: Herta Müller, Wolfgang Hilbig, Durs Grünbein, Hans Joachim Schädlich, Ingo Schulze, Felicitas Hoppe, Marcel Beyer, Georg Klein, Ursula Krechel, Daniel Kehlmann, Peter Stamm, Sibylle Lewitscharoff, Feridun Zaimoglu, Marlene Streeruwitz, Helmut Krausser, Monika Maron.

Nagt da irgendwo ein Gewissen? Wohl nicht. Muss es auch nicht: Solche Entscheidungen im großen Kollektiv sind dynamische Prozesse, und die Schwachstelle bei Achilles ist eben nicht unbedingt seine Ferse: Wo also will man ihn treffen, und wo soll man? Am Ende reibt man sich die Augen und grübelt nach, jeder für sich und jeder auf seine Weise. Doch das geht ein jeder Findungskommission so: Die Liste derer, die den Büchner- oder Nobelpreis nicht bekommen haben, ist lang und unfasslich reich bestückt. Schön, dass sie wenigstens im Gespräch waren.

Titelbild

Martin Rector (Hg.): Wie etwas in die Welt tritt. Die Anthologie der LiteraTour Nord.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
214 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313668

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