Stahlgewitter

Ernst Jünger und der Erste Weltkrieg

Von Helmuth KieselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmuth Kiesel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erste Weltkrieg begann in den Tagen um den 1. August 1914 mit der Mobilmachung in verschiedenen Ländern und den rasch folgenden Kriegserklärungen. Er dauerte im Osten bis zu den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk am 3. März 1918 und Bukarest am 7. Mai 1918, im Westen und Süden bis zum Inkrafttreten der Waffenstillstandsvereinbarung am 11. November 1918. In diesen fast 52 langen Kriegsmonaten verloren ungefähr 10 Millionen Soldaten und Zivilisten ihr Leben und weitere 18 Millionen ihre körperliche Unversehrtheit. Auf deutscher Seite fielen fast zwei Millionen Soldaten, und über vier Millionen wurden verwundet. 60 Prozent der Gefallenen kamen aus der Altersgruppe der Neunzehn- bis Neunundzwanzigjährigen; im letzten Kriegsjahr lag das Durchschnittsalter der Gefallenen bei 19½ Jahren. Der 1895 geborene Ernst Jünger, der sich 1914 freiwillig gemeldet hatte, war 1918 mit seinen 23 Jahren der zweitälteste Kompanieführer seiner Einheit, des hannoverschen „Füsilier“- oder Infanterie-Regiments Nr. 73. Mit ihm hatte er den zermürbenden Grabenkrieg in der Champagne und im Artois mitgemacht, ebenso die großen Schlachten an der Somme, in Flandern und bei Cambrai, zuletzt die sogenannte Michaeloffensive und die nachfolgenden Abwehrkämpfe. Jünger war vom „gemeinen“ Soldaten zum Leutnant und Kompanieführer aufgestiegen, er war mehrfach verwundet und mit hohen Orden ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem höchsten preußischen Kriegsorden, dem „Pour le Mérite“.

Als Ernst Jünger am 30. Dezember 1914 in Hannover einen Eisenbahnwagen bestieg, der ihn zu seinem Regiment an die Westfront bei Reims bringen sollte, führte er ein fünfzig Blätter zählendes Notizheft bei sich, in dem er von der Abfahrt an festhielt, was ihm bemerkenswert erschien. Wie aus dem Tagebuch hervorgeht, zog Jünger nicht etwa aus nationaler Begeisterung in den Krieg, sondern um der Schule zu entkommen und endlich in ein lebenswertes, nämlich abenteuerliches und gefährliches Leben einzutreten. Als ein ähnlich desinteressierter und schlechter Schüler wie Thomas Mann litt er wie dieser unter dem militaristisch angehauchten Zwang der „Pressen“, las unter dem Pult Reise- und Abenteuerbücher und hatte nur eins im Sinn: möglichst bald nach Afrika zu gelangen, um im Urwald ein freies Leben „im großen Stil“ zu führen. Als Achtzehnjähriger unternahm er einen ersten Versuch, diesem Ziel näherzukommen, indem er im Oktober 1913 illegal nach Frankreich überwechselte und sich in Verdun zur „Fremdenlegion“ meldete. Tatsächlich wurde er auch angenommen und unverzüglich über Marseille nach Sidi-Bel-Abbès gebracht: in die etwa 75 Kilometer südlich von Oran gelegene Zentrale oder „Mutter“ der Legion. Statt Freiheit und Abenteuer gab es dort allerdings Kasernenzäune und täglichen Drill. Nach einigen Wochen versuchte der enttäuschte Ausreißer, sich dem durch eine weitere Flucht zu entziehen, doch endete diese nach wenigen Tagen in der nordafrikanischen Steppe mit dem Rücktransport in die Kaserne. Inzwischen hatte aber Jüngers Vater mit diplomatischer und juristischer Unterstützung eine Auslösung seines ältesten Sohnes erreicht und sogar dafür gesorgt, dass er straffrei blieb. Nach Weihnachten 1913 war Jünger wieder zu Hause und musste dem Vater versprechen, endlich so intensiv zu lernen, dass er mit Aussicht auf Erfolg zur Reifeprüfung zugelassen würde. In die Vorbereitungsphase fiel jedoch der Beginn des Kriegs.

Die Debatten zur Kriegsschuldfrage sind noch heute nicht beendet. Nachdem in den 1960er Jahren der Historiker Fritz Fischer im Anschluss an ausländische Forscher und auf der Basis intensiver Quellenstudien mit zwei voluminösen Büchern, Griff nach der Weltmacht (1961) und Krieg der Illusionen (1969), die deutsche Reichsregierung für die Eskalation der Julikrise und den Schritt in den Krieg verantwortlich machte, wurde es unter Historikern mehr und mehr communis opinio, dass die deutsche Regierung mit dem Kaiser an der Spitze auf dem Weg in den Krieg eine „zentrale und ausschlaggebende Rolle“ (Imanuel Geiss) spielte und zwar nicht die „Alleinschuld“, wohl aber die „Hauptschuld“ (Heinrich August Winkler) am Krieg trug. Indem die deutsche Regierung die österreichische Regierung am 6. Juli zum sofortigen Einschreiten in Serbien ermutigte und ihr zugleich die unumstößliche deutsche Bündnistreue zusicherte, befürwortete und erleichterte sie den Weg in einen europäischen Krieg, weil abzusehen war, dass ein Angriff auf Serbien Russland auf den Plan rufen würde. Der Krieg wurde, wie Sönke Neitzel in seinem 2002 erschienenen Buch Kriegsausbruch resümierend feststellt, durch den vielberufenen deutschen „Blankoscheck“ zwar „nicht unumgänglich“, aber „doch sehr wahrscheinlich“: „Mit dem ‚Loslassen’ Wiens bürdete sich Berlin ohne Zweifel einen erheblichen Teil der Schuld am Kriegsausbruch auf.“

Indessen haben britische Historiker – genannt seien vor allem David Stevenson mit seiner monumentalen History of the First World War (2005) und Christopher Clark mit seinem ebenfalls voluminösen Buch The Sleepwalkers: how Europe went to war in 1914 (2013) – deutlich gemacht, welchen Anteil die anderen Großmächte an der längerfristigen Vorbereitung eines Kriegs und an der Eskalation der Julikrise hatten. Auch die russische und die französische Regierung nahmen das Kriegsrisiko bewusst in Kauf, rechneten sich gewisse Chancen aus und verhielten sich keineswegs deeskalierend. In jeder Hinsicht – in kultureller wie politischer, in nationaler wie europäischer – gilt, was Max Weber 1919 in seinem berühmten Vortrag Politik als Beruf mit einer beiläufigen, aber doch gewichtigen Bemerkung sagte: dass es „die Struktur der Gesellschaft“ war, die „den Krieg erzeugte“. Oder mit den Worten von Christopher Clarks Schlafwandler: „Der Kriegsausbruch von 1914 ist kein Agatha-Christie-Thriller, an dessen Ende wir den Schuldigen im Wintergarten über einen Leichnam gebeugt auf frischer Tat ertappen. In dieser Geschichte gibt es keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Beweis, oder genauer: Es gibt sie in der Hand jedes einzelnen wichtigen Akteurs. So gesehen war der Kriegsausbruch eine Tragödie, kein Verbrechen. Wenn man dies anerkennt, so heißt das keineswegs, dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten, die zu Recht die Aufmerksamkeit Fritz Fischers und seiner historischen Schule auf sich zog. Aber die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten, geschweige denn die einzigen, die unter einer Art Paranoia litten. Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne, und eben deshalb geht die Diskussion um den Ursprung des Ersten Weltkriegs weiter, selbst ein Jahrhundert nach den tödlichen Schüssen Gavrilo Princips an derFranz-Joseph-Straße.“

Kein (deutsches) Verbrechen, sondern eine (europäische) Tragödie! Eben diese Auffassung des Ersten Weltkriegs erlaubte es Jünger, seinen militärischen Einsatz in eben den Monaten, in denen der ‚Krieg der Deutungen’ einsetzte, als Heldenbericht zu schildern und an diesem Bericht zeitlebens prinzipiell festzuhalten. Dabei übersah er nicht, dass es einzelne Momente gab, in denen die deutsche Kriegsführung Formen annahm, die mit herkömmlichen kriegsethischen Vorstellungen nicht mehr zu vereinbaren waren. Die völlige Räumung und Zerstörung des Somme-Gebiets beim deutschen Rückzug im März 1917 hat Jünger in seinem Kriegstagebuch mit einem erstaunten Interesse kommentarlos beschrieben. In der ersten Fassung der Stahlgewitter ergänzte er diese Schilderung durch drei Abschnitte, die zwischen Rechtfertigung und Scham oszillieren. Für die vierte Fassung von 1934 hat er diese Abschnitte ersatzlos gestrichen. In die sechste Fassung von 1961 fügte er einen Abschnitt ein, der diese „planmäßige Zerstörung“ als erstes Beispiel eines epochalen Destruktionswillens deklariert und zugleich als widersinnig und ehrlos verurteilt. Dies gilt aber weder für die übrigen militärischen Offensiven, die mit Zerstörungen verbunden waren, noch für den Ersten Weltkrieg insgesamt.

Bis zum Kriegsende schrieb Jünger fünfzehn Hefte (unterschiedlichen Umfangs) voll, insgesamt fast 1.800 Seiten. Dieses „Kriegstagebuch“ entstand nicht in den Quartieren von Stabs- oder Presseoffizieren, sondern in Kampfgräben, beschossenen Unterständen – und in Lazaretten. Es erstreckt sich nicht nur, wie die meisten Aufzeichnungen dieser Art, über ein paar Monate, sondern über fast die ganze Kriegsdauer bis zu Jüngers letzter und schwerster Verwundung gegen Ende August 1918. Das Tagebuch bildete später die Basis für die komprimiertere Darstellung seines Kriegseinsatzes, die Jünger im Winter 1918/19 zu schreiben begann und im Frühjahr 1920 unter dem Titel „In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers“ zum Druck brachte. Auch bei den späteren Überarbeitungen der Stahlgewitter griff Jünger immer wieder auf sein Kriegstagebuch zurück, um die Darstellung einzelner Situationen und Vorgänge durch Details anzureichern und zu präzisieren.

Jüngers Kriegsbuch geht dem berühmtesten deutschen Anti-Kriegsbuch, Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues (1928/29), voraus. Dessen Verfasser hat sich an den Stahlgewittern geschult und hat sie in einem 1928 publizierten Artikel dafür gerühmt, dass sie die Kriegserfahrung „ohne jedes Pathos“ und mit „einer wohltuenden Sachlichkeit“ vergegenwärtigen: „präzise, ernst, stark und gewaltig, sich immer wieder steigernd, bis in ihnen wirklich das harte Antlitz des Krieges, das Grauen der Materialschlacht und die ungeheure, alles überwindende Kraft der Vitalität des Herzens Ausdruck gewinnen“. Das würde Remarque heute wohl anders formulieren; aber was er ehedem gemeint hat: Jüngers eindringliche und schonungslose, zugleich leiderfüllte und frivole, ebenso schockierende wie ergreifende Kriegsdarstellung, ist als schriftstellerische Leistung und als Dokumentation einer epochalen Disposition und Erfahrung anzuerkennen, auch wenn man den Krieg verabscheut.

Das langsame Sterben eines durch einen Kopfschuss niedergestreckten Kameraden beobachtet er bis zu den letzten Zuckungen und beschreibt es im Kriegstagebuch in allen, auch indiskreten Einzelheiten, die in den Stahlgewittern allerdings reduziert sind. In der Beurteilung dieser Fähigkeit zur distanzierten oder ›kalten‹ Beobachtung und Beschreibung gehen die Meinungen auseinander. Während die einen darin einen Vorzug des Autors Jünger und seines Werks sehen, sprechen die andern von einer Verengung des menschlichen Empfindens, die auf einen grundsätzlichen und breiten Mangel oder Verlust an Humanität hindeute. Es gebe, so bemerkte Helmut Lethen in einem aufschlussreichen Gespräch über Jüngers „kalten“ Blick, im Kriegstagebuch einige „seltene Inseln humanitärer Gedanken“, daneben aber, so ist zu ergänzen, vorwiegend die brutale Logik des Militärs (veröffentlicht im (Marbacher Katalog 64/2011: Ernst Jünger). Man kann das freilich auch anders sehen. Über weite Strecken hinweg sprechen das Kriegstagebuch und die Stahlgewitter davon, wie nicht nur das eigene Leben, sondern auch das der Kameraden zu sichern ist, wie unnötige Opfer vermieden werden können, wie Verwundete geborgen und versorgt werden können und immer wieder auch, wie Gefangene sicher aus der Kampfzone ins Hinterland geleitet werden können. Dazwischen gibt es Ausbrüche unreflektierter Tötungslust und rauschhafter Vernichtungswut. Aber selbst in solchen Momenten ist, wie die ‚Fotoepisode’ im Kapitel „Die Große Schlacht“ erkennen lässt, das humanitäre Denken erfolgreich aufrufbar. Insgesamt zeigt das Kriegstagebuch einen zwar unerschrockenen und psychisch hochgradig belastbaren, dabei aber extrem wahrnehmungs- und empfindungsfähigen jungen Mann, der auf die meist gefährlichen oder destruktiven Vorgänge, denen er mit seinen Kameraden an der Front ausgesetzt ist, sehr differenziert reagiert und selbstverständlich auch ethische Bedenken, Angstzustände und Nervenzusammenbrüche kennt. In den Stahlgewittern sind diese Momente zugunsten des heroischen Duktus, den Jünger seinem Helden-Gedenkbuch geben wollte, etwas reduziert.

Vielfach wurde Jünger vorgeworfen, er habe mit den Stahlgewittern die Schrecken des Krieges, das Töten und Sterben (oder Morden und Krepieren) an der Front ästhetisiert und damit eine Gesinnung zum Krieg begünstigt, ja sogar Begeisterung für den Krieg geweckt und geschürt. Tatsächlich hat Jünger den Krieg als einen naturgegebenen Modus des menschlichen Zusammenlebens und der geschichtlichen Entwicklung betrachtet und zeitweilig sogar bejaht. Erst in den dreißiger Jahren wurde ihm der Glaube an die vermeintlich konstruktiven Seiten des Krieges fragwürdig; die Erzählung Auf den Marmorklippen (1939) ist ein Abgesang auf Kriegertum und Waffendienst. Auch dem Befund der Ästhetisierung ist nicht zu widersprechen. Ästhetisierung findet sich bei Jünger nicht nur in dem Maß, in dem sie für alle Kunst unabdingbar ist und der optimalen Darstellung der Gegenstände dient; sie zeigt sich in den Stahlgewittern auch als überschießende Glorifizierung des Kampfes und als weitgehende Ausklammerung des Elends der Verbandsplätze und Lazarette, das Jünger sehr wohl kannte. In nationalistischen und militaristischen Kreisen hoffte man darauf, dass diese Darstellungsweise „den Geist des Großkampfs und des Sturmtrupps“ lebendig erhalte (so das Militär-Wochenblatt am 15. Mai 1924).

Ob und in welchem Maß die Stahlgewitter in diesem Sinn gewirkt haben, bleibt indessen offen. Als 1929/30 eine Debatte über die Qualität und die Wirkung der vielen damals erscheinenden Kriegsbücher entbrannte und auch die Stahlgewitter wieder ins Blickfeld speziell interessierter Leser gerieten, gab es durchaus auch andere Meinungen: Remarque sagte 1929 in einem Interview mit der Pariser Revue dAllemagne, dass Jüngers Bücher einen „noch stärkeren pazifistischen Einfluß ausüben als alle anderen“ / „que ces livres exercent une influence encore plus pacifiste que tous les autres“. Der ehemalige KPD-Vorsitzende Paul Levi, der seit 1924 der SPD-Fraktion des Reichstags angehörte, schrieb am 11. Januar 1930 im Berliner Tagebuch, einer renommierten linksbürgerlichen Zeitschrift, über Jünger und dessen erstes Kriegsbuch: „Den Schrecken des ganzen Erlebens hat vielleicht keiner so geschildert, kaum ist eine furchtbarere Anklage gegen den Krieg geschrieben als dieses Buch eines Mannes, der zum Kriege ›positiv‹ eingestellt ist […]“. Und der pazifistische deutsch-jüdische Schriftsteller Hans Sochaczewer, der 1929 einen vielbeachteten Roman über die deutsche Nachkriegsgesellschaft vorgelegt und für dessen Vorbereitung auch Jüngers Kriegsbücher gelesen hatte, befand, dass dessen Werke „am meisten pazifistisch wirken“ und „den Wunsch ‚Nie wieder Krieg!’ eingeben“. Ob ein Buch bellizistisch oder pazifistisch wirkt, hängt offensichtlich nicht nur vom Text ab, sondern auch von den ethischen Prädispositionen und ästhetischen Sensibilitäten seiner Leser. Wer durch das entsetzliche Leid, von dem in den Stahlgewittern fortlaufend berichtet wird, nicht gegen den Krieg eingenommen wird, muss starke Abwehrkräfte besitzen und braucht Jüngers Buch gewiss nicht mehr, um zum Bellizisten zu werden; er muss es schon vorher gewesen sein.

Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Jünger in den Stahlgewittern in durchaus rühmenden Worten von eigenen Taten berichtet, die heute abstoßend und empörend wirken. Ein Beispiel ist die im Kapitel „Der Somme-Rückzug“ geschilderte Tötung eines englischen Soldaten, die nicht etwa durch eine von ihm ausgehende Bedrohung geboten war, sondern nur durch die militärische Logik, die die Vernichtung des Gegners unter allen Umständen verlangte. Auf den ersten Blick erscheint dieser Vorgang als ein Akt monströser Boshaftigkeit. Und doch zeigt die internationale Kriegsliteratur, dass dergleichen zur ganz ‚normalen’ Brutalität jener Zeit gehörte.

Der englische Offizier und Dichter Robert von Ranke-Graves, der im selben Jahr 1895 wie Jünger geboren wurde und diesem an der Somme und in Flandern mehrfach gegenüber gestanden haben dürfte, schreibt im 14. Kapitel seiner 1929 publizierten Kriegserinnerungen, dass „die bloße Verringerung der Zahl der Feinde“ ein Ziel gewesen sei, für das man durchaus ein Risiko einging, und fügt hinzu: „Nur einmal unterließ ich es, einen Deutschen, den ich gesichtet hatte, abzuschießen […]. Ich lag auf einer Kuppe im Bereitschaftsgraben an einer verdeckten Schießscharte auf Scharfschützenposten, als ich durch das Zielfernrohr in einer Entfernung von etwa 600 Meter einen Deutschen ausmachte. Er befand sich in der dritten Linie der Deutschen und war dabei, ein Bad zu nehmen. Der Gedanke, auf einen nackten Menschen zu schießen, war mir unangenehm; also reichte ich das Gewehr dem Feldwebel neben mir: ‚Hier, nehmen Sie es, Sie schießen besser als ich.’ Er traf, aber ich war nicht dageblieben, um zuzusehen.“

Jünger hat die Stahlgewitter sechsmal überarbeitet, 1923/24, 1933-35 und um 1959 eingreifend. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Fassungen, insbesondere zwischen der dritten (1924) und vierten (1934) sowie der sechsten (1961), sind so beträchtlich, dass sie sich auf die Wahrnehmung sowohl der ideologischen Einstellung als auch der stilistischen Fähigkeiten Jüngers deutlich auswirken und – je nach rezipierter Fassung – zu unterschiedlichen Einschätzungen führen. Über die Beweggründe und Ziele der Überarbeitungen ist viel geschrieben worden. Jünger selbst hat mehrfach betont, es sei ihm darauf angekommen, das Ephemere zu tilgen, um das Essentielle der Kriegserfahrung durch inhaltliche Anreicherung und sprachliche Präzisierung zu verdeutlichen. Die Jünger-Forschung hat indessen gezeigt, dass Jünger insbesondere mit den Fassungen von 1924, 1934 und 1961 auch auf die unterschiedlichen politischen Verhältnisse und auf den geschichtlichen Erfahrungszuwachs reagierte. Die historisch-kritische Ausgabe von 2013 kann dies im Einzelnen zeigen.

Noch einmal hat Jünger die Stahlgewitter in den Jahren von 1958 bis Frühjahr 1961 einer eingreifenden Bearbeitung unterzogen. Leitend war zum einen die Absicht, das Essentielle der Kriegserfahrung noch stärker herauszuarbeiten, zum andern aber auch die Absicht, den Ersten Weltkrieg im Lichte der weiteren geschichtlichen Erfahrungen und zugleich mit jener gesteigerten Bereitschaft zum Mitleid und zur Trauer zu reflektieren, die sich bei Jünger während des ‚Dritten Reichs’ und des Zweiten Weltkriegs eingestellt hatte. Erstmals ist in den Stahlgewittern denn auch ausdrücklich von „Trauer“ die Rede. Anlass ist die Erinnerung an einen englischen Offizier, den Jünger in der „Großen Schlacht“ vom März 1918 getötet hatte, ein „blutjunges Kerlchen“, mit dem vor Jüngers seelischem Auge nun wohl auch sein „Ernstel“ auftauchen mochte, sein erster Sohn, der im November 1944 im Alter von achtzehneinhalb Jahren gefallen war.

Trotz der erneuten Überarbeitung unter den Aspekten des geschichtlichen Unheils und menschlichen Leids behielten die Stahlgewitter den Charakter eines Heldenbuchs, in welchem ein „Krieger“, wie Jünger gerne sagte, von seiner heldenhaften Bewährung im Krieg berichtet: die Strapazen schildert, die er durchgestanden hat; seinen Mut, seine kämpferischen Leistungen und seine Führungsfähigkeit herausstreicht; die Gegner nennt, die ihm zum Opfer gefallen sind; am Ende seine Verwundungen aufzählt und nicht vergisst, darauf hinzuweisen, dass elf von vierzehn Geschossen, die ihn trafen, auf ihn „persönlich gezielt waren“. Dieser Heldenton liegt uns heute fern, wirkt an manchen Stellen schockierend und ruft oft Empörung hervor. Man muss aber sehen, dass sich die Einstellung zum Krieg seit dem Ersten Weltkrieg grundlegend geändert hat. In früheren Zeiten fragte man nicht, wie Kriege zu vermeiden, sondern wie sie siegreich zu führen seien. Die große europäische Literatur ist zu einem guten Teil Kriegsheldenepik. Unter ihrem Eindruck trat Jünger, wie er am 29. März 1995 in seiner Ansprache zu seinem 100. Geburtstag bemerkte, in den Krieg ein, und sie bildete das Muster für Jüngers Kriegsbuch von 1920. Unter dem Eindruck der weiteren geschichtlichen Entwicklung hat sich aber auch Jüngers Blick auf den Krieg gewandelt. Das zuvor heldenhaft Scheinende wurde durch die Wahrnehmung des Destruktiven verdunkelt. Mit den späteren Überarbeitungen hat Jünger versucht, diesem Einstellungswandel Rechnung zu tragen – ohne indessen den ursprünglichen Charakter der Stahlgewitter und die Gesinnung, die sich in ihm manifestiert, zu verraten. In der Fassung letzter Hand aus dem Jahr 1978 sind die Stahlgewitter das Dokument einer fast lebenslangen Auseinandersetzung des Autors mit dem Ersten Weltkrieg – und mit dem Problem seiner sowohl authentischen als auch historisch reflektierten Darstellbarkeit.

Anmerkung:

Der Beitrag greift, mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klett-Cotta, zurück auf das Nachwort „Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg“ in der vom Verfasser 2010 herausgegebenen Historisch-kritischen Ausgabe von Jüngers „Kriegstagebuch 1914-1918“, auf die Einleitung zum Kommentarband der vom Verfasser 2013 herausgegebenen Historisch-kritschen Ausgabe der „Stahlgewitter“ und auf sein Nachwort zu der am 21. Februar 2014 erscheinenden separaten Ausgabe der „Stahlgewitter“.

Titelbild

Helmuth Kiesel (Hg.) / Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914-1918.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
450 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783608938432

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Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe.
Herausgegen von Helmuth Kiesel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013.
924 Seiten, 84,00 EUR.
ISBN-13: 9783608939460

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Ernst Jünger: In Stahlgewittern.
Hg. von Helmuth Kiesel.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2014.
320 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783608960662

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