Das Elend der Unsterblichkeit

Arno Schmidts memorialpessimistische Erzählung „Tina“ als Jubiläumsgabe

Von Niels PenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Penke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine schöne Ironie – weniger des Schicksals als des Insel-Verlags – ausgerechnet mit der Erzählung „Tina“ die Erinnerung an Arno Schmidt zu dessen 100. Geburtstag zu forcieren. Zu seinem fünfzigsten Geburtstag erschien bereits eine Sonderausgabe, und nun, fünfzig Jahre später, erneut eine. Dabei ist „Tina oder über die Unsterblichkeit“ ein Plädoyer für das Vergessen.

Die vermeintlichen Vorzüge der Erinnerung, den unvergänglichen Ruhm, das freundliche Angedenken sucht man in der kleinen Erzählung aus dem Jahr 1955 vergebens. Die Memoria als Fluchtpunkt klassischer Literaturkonzeptionen wird hier zum erklärten Feindbild. In der literarischen Fantasie einer angeleiteten Unterweltsreise, die im von Schmidt verhassten Darmstadt ihren Ausgang nimmt, werden zahlreiche Fälle an der ‚Unsterblichkeit’ leidender Schriftstellerpersönlichkeiten vorgeführt. Christian Althing, erkennbar als Christian August Fischer, und Tina Halein (Kathinka Zitz-Halein) begleiten den Protagonisten durch ihr ‚Elysium’, das über eine Litfasssäule betreten wird, aber nur bedingt paradiesische Züge trägt. Es entpuppt sich als Abbild der oberirdischen Gesellschaft, die sich lediglich durch die Zwanglosigkeit der Tätigkeiten unterscheidet. Arbeit erscheint als die einzige Möglichkeit, das unbestimmt lange Dasein erträglich zu gestalten. Denn so lange die Autoren und Autorinnen erinnert werden, ihre Texte gelesen, diskutiert und ihre Namen Bestand haben, sind sie an das Zwischenreich gebunden. Der sehnlichste Wunsch aller auftretenden Figuren ist es daher, das dichterische Nachleben aus den gesicherten Beständen einer Erinnerungs- und Archivkultur ins endgültige Vergessen überführt zu wissen. Um nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden endlich Ruhe zu finden und ins ‚Nichts’ eingehen zu dürfen. Denn in Schmidts Orkus erfahren sie die Schattenseiten ihrer Verdienste als peinigenden Nachruhm, als unnötige Verlängerung ihres Aufenthalts im Sein. Eine negative Dialektik des Dichtens: Literaturschaffende stiften nicht nur Bleibendes, sie gehen in Schmidts Erzählung einen Pakt mit ihren Werken ein, der sie sinnloserweise erhält. Ihre Dichtungen sind Last, Omar (Umar ibn al-Chattab), der zumindest der Legende nach die Restbestände der Bibliothek von Alexandria vernichten ließ, ein Held, der mit Standbildern verehrt wird. „Alles was keinen Namen hat, ist glücklich.“ Doch der historische Prozess arbeitet dem entgegen: „Am Stadtrand wird enorm gebaut“.

Althing/Fischers Konsequenz aus dem erkannten Nachteil der Historie für die Un-Toten heißt Atomkrieg. Oberirdisch versteht sich: „gegen Schreib= und Leseunterricht stimmen, für die Wiederaufrüstung: Atombomben!“ Die Dichter und Dichterinnen im Elysium würde dies ausnahmslos freuen. Aber wem das alles, ebenso wie die vierundzwanzig beigegebenen Radierungen Eberhard Schlotters, zu ‚orplid’ ist, für die hat der Text Verständnis. Implizite/r Leser/in hin oder her – es passt: „Ist mir alles zu hoch. – Aber ne Tasse Kaffee trink ich mit; gern.“

Titelbild

Arno Schmidt: Tina oder über die Unsterblichkeit.
Mit Radierungen und einem Nachwort von Eberhard Schlotter.
Insel Verlag, Berlin 2013.
86 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-13: 9783458193876

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