Literaturwissenschaft heute?

Ein neuer Sammelband fragt nach Perspektiven einer Disziplin und vergisst dabei zeitweise seinen Gegenstand

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist kaum zu übersehen, dass die Literaturwissenschaften sich seit einigen Jahren in einer Phase der Selbstverortung befinden. In Zeiten der Globalisierung, des medialen Wandels, der zunehmenden Bedeutung digitaler Inhalte und Medien verändern sich der Blick auf und der Umgang mit Literatur. Diesen Veränderungen auch konzeptuell Rechnung zu tragen versuchen sowohl die Nationalphilologien wie auch die Komparatistik mit aktuellen Standortbestimmungen. Die Siegener „Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik“ fragte im vergangenen Jahr, ob die Germanistik eine „germanistische Wende“ brauche,[1] ein Paderborner Kongress war 2010 den Fragen nach der Stellung von Literatur in der Gegenwart nachgegangen[2] und in Mainz fand im Mai 2013 ein Workshop zur „Komparatistik im 21. Jahrhundert“ statt, der Vorschläge zu einer zukünftigen Konturierung der Vergleichenden Literaturwissenschaft zusammentragen wollte. Dergleichen Beispiele ließen sich in großer Zahl anführen und so unterschiedlich die Ergebnisse auch sein mögen, sie alle zeigen doch, dass die Literaturwissenschaft sich selbst und ihren Gegenstand hinsichtlich Relevanz und Perspektiven hinterfragen muss, hinterfragen will.

Im Dezember 2011 fand an der Universität Graz unter der Leitung von Susanne Knaller und Doris Pichler der bis dato vielleicht wichtigste und facettenreichste Versuch einer wissenschaftlichen Standortbestimmung der Disziplin statt, der ausschließlich renommierte LiteraturwissenschaftlerInnen verschiedenster Provenienzen zu Wort kommen ließ. 2013 sind bei V&R Unipress nun die Ergebnisse der Tagung unter dem programmatischen Titel „Literaturwissenschaft heute. Gegenstand, Positionen, Relevanz“ erschienen. Der Band bietet, untergliedert in die schon im Untertitel angesprochenen Kategorien Gegenstand, Positionen und Relevanz, insgesamt 13, teilweise recht umfangreiche Beiträge zur Frage nach der „Literaturwissenschaft heute“ und will damit „eine grundsätzliche Diskussion zu möglichen Bestimmungen eines Faches“ anstoßen, „dessen Selbstverständnis im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zwischen traditionell-philologischen Ansätzen und einer großen Bandbreite unterschiedlichster Zugriffe changiert“.         

Zumindest vom Umfang her im Zentrum des Buches steht Ottmar Ettes rund 40-seitiger Aufsatz zum Begriff des Stolzes, der als eine „Kippfigur der Konvivenz“ herausgearbeitet wird. Der Ansatz des Romanisten ist vor dem Hintergrund seiner Vorstellung von der Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft zu lesen, die versucht, die Kategorie des „Lebens“ in der Literaturtheorie zu verankern, nachdem „die Dimension des Lebens im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend [aus der Literaturwissenschaft] ausgeblendet“ worden sei. Dieser theoretische Ansatz wird nun anhand des Gefühls von „Stolz“ durchbuchstabiert, wobei das Besondere am Stolz für Ette seine „Dynamik“ ist, die impliziert, dass sich „die Gegensätze ständig in ihren Kräftefeldern berühren, wechselseitig anstoßen und folglich mobilisieren“, es ließen sich also „Spannungs- und Konfliktfelder“ erkennen, die als „Aushandlungsräume der Konvivenz die Vermittlung des Individuellen und des Sozialen in ein Erleben und ein Verhalten zu übersetzen vermögen“. Stolz vermag also „in Bewegung zu setzen“ und zugleich „zu immobilisieren“.

Diese Beobachtungen zum Stolz unterfüttert Ette mit Lektüren von nicht-literarischen (!) Texten verschiedener – vornehmlich spanischsprachiger – Autoren wie Mario Vargas Llosa, José Vasconcelos (mexikanischer Erziehungsminister in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts), José Lima, José Ortega y Gasset, Fernando Díaz-Plaja, aber auch von Hans Ulrich Gumbrecht, Roland Barthes, Jürgen Habermas und sogar Norbert Elias. Konfrontiert werden diese Äußerungen von Intellektuellen mit alltagssprachlichen Feststellungen zum Stolz und sonstigen öffentlichen Äußerungen, womit Stolz also zu einer „Kategorie des Zusammenlebens“, ja stilisiert wird zum „Seismograph zur Messung dessen, […] was man als die Gestaltung von Formen und Normen des Zusammenlebens bezeichnen könnte“.

Ettes Aufsatz ähnelt also nicht nur vom Umfang, sondern auch der Anlage her einer kleinen Kulturgeschichte des Stolzes und tatsächlich vermag er einige treffende Beobachtungen zum Stolz in Anschlag zu bringen. Und doch wundert man sich ob des par force-Rittes durch die Zeit und um die Welt: Plötzlich werden Fragen der Übersetzbarkeit und Übersetzungstheorie gestreift, die Benjamins Position aufgreifen und paraphrasieren, dann geht es, im Zuge der Habermas-Lektüre, um die Diskussion um Verfassungspatriotismus in den 1990er Jahren, schließlich findet sich ein leidenschaftliches Plädoyer für ein „transkulturelles Europa“ und das chilenische Grubenunglück 2010 wird auch noch angerissen. Anhand zahlloser expliziter und impliziter Begriffsverwendungen von „Stolz“ zeigt Ette also letztlich, dass der Begriff kulturell in unterschiedlichsten Zusammenhängen und für verschiedenste Gefühlslagen gebraucht wird – inwiefern ihn das aber von anderen Begriffen, die Gefühle bezeichnen, abhebt, bleibt im Dunkeln. Denn die Beobachtung, dass der Begriff des Stolzes gleichsam in Bewegung setzen und immobilisieren könne, ist nichts, was speziell und ausschließlich für Stolz gelten würde, sondern genauso für Liebe, Trauer, Wut und ähnliches, vermutlich sogar für jeden Begriff, der ein Gefühl bezeichnet.

Was Ette also als Proprium der Kippfigur „Stolz“ herausarbeitet, scheint letztlich allgemeines Merkmal von Gefühlen zu sein – und kann damit als Distinktionsmerkmal kaum ausreichen. Wenn Stolz dann final sogar hinsichtlich seines Potentials „zu einer eigentlichen Lebenskraft des Menschen [zu] werden“ befragt wird, die „durch die Ausgestaltung von Konvivenz Zukunftschancen eines Zusammenlebens in Frieden und Differenz eröffnen könnte“, dann muss man sich doch fragen, ob hinter dem bewusst hohen Abstraktionsgrad der Aussage eigentlich noch ein tatsächliches Fundament liegt, oder ob die Argumentation nicht genauso mit einem beliebigen anderen Gefühl funktioniert hätte – der Stolz also eher eine ersetzbare Variable darstellt, die in die Gleichung von der Literatur- als Lebenswissenschaft eingefügt wird. Denn inwiefern der Stolz als heuristisches Instrument für den Blick auf den „Erprobungs- und Experimentierraum für jene Lebensformen und Lebensnormen der Konvivenz“, den in Ettes Vorstellung die Literatur bildet, darstellen soll, das bleibt der Ansatz schuldig. Dieser Einwand soll dem Aufsatz seine kulturwissenschaftliche Relevanz und Ergiebigkeit keinesfalls absprechen, inwiefern der Text jedoch als ein Beitrag zur Frage nach der Literaturwissenschaft heute verstanden werden darf, bleibt allerdings unklar.  

Auch wenn der sich anschließende Essay von Harro Müller über „Genealogie als Herausforderung“ zunächst ähnlich wenig Worte über eine Positionierung der Literaturwissenschaften im akademischen Feld verliert und es sich zum Ziel setzt, Nietzsches „Genealogie der Moral“ einer Analyse zu unterziehen, kommt er zum Abschluss immerhin zu einer Art von Programm, das er den Literaturwissenschaften verordnen möchte. Man solle sich „vorwiegend darauf konzentrieren […], Macht- und Subjektfragen unter heutigen Bedingungen gerade in historisch-systematischer Perspektive zu diskutieren“ – eine Programmatik, die direkt aus den Analysen von Texten Nietzsches und deren Echo bei Foucault entwickelt wird. Allein bleiben, genau wie bei den beiden Philosophen, der Macht- und Subjektbegriff definitorisch unbestimmt. Da hilft es auch wenig, wenn Literaturwissenschaft als eine „Praktik“ definiert wird, „die sich auf Macht/Wissen-Probleme konzentriert, radikal Subjektformatierungsfragen thematisiert und gemäß dem Muster Problematisierung, Problemformulierung, Problembearbeitung verfährt.“ Es stellt sich viel eher die Frage, welche akademische Disziplin nicht nach einem solchen Muster verfahren dürfte, ohne sich selbst den Status der Wissenschaftlichkeit absprechen zu müssen. Der auch hier wieder in Anschlag gebrachte Jargon der Uneigentlichkeit scheint Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit zu sein, die sich genau dann einstellt, wenn es darum geht, über abstrakte Wortschlösser hinaus konkrete Konzepte vorlegen zu müssen, aus denen sich realiter eine Aussage zur Stellung der Literaturwissenschaft in der Hochschullandschaft und Gesellschaft ableiten ließe.

Besonders deutlich wird das in Bernhard Dotzlers Programm einer „Historischen Techno-Logie“ in dem es darum geht, als „Maschinen- und als Diskursanalyse zugleich“ „nach der Erfassbarkeit von Technik durch ihre Logik – ihren logos – zu fragen“, was „methodisch unweigerlich den Rekurs auf eine in diesem Sinne verstandene Literatur-Wissenschaft alias Philologie impliziert“. So interessant seine Ausführungen zur Technikgeschichte auch mitunter sein mögen, an einer literaturwissenschaftlichen Programmatik steuert der Aufsatz so zielsicher vorbei wie an präzisen und klaren Formulierungen. Ähnlich wie Logik im obigen Zitat unhinterfragt und leichtfüßig auf logos zurückgeführt wird, als bezeichneten beide Begriffe ein und dasselbe, mäandert Dotzlers Aufsatz an Begriffsbrocken wie Maschine, Technik, Geistesgeschichte oder Computer vorbei, ohne seinen Gedankenfluss an einer Stelle zu fixieren und zu einer Art von Synthese zu gelangen, die mehr wäre als eine vage metaphorische Bestimmung eines Gegenstandsbereiches. Auch der Ansatz einer „Mediengeschichte als Historische Techno-Logie“ bleibt eine konkrete Konzeptualisierung also schuldig.

Wo Dotzlers Ansatz somit die Konkretisierung fehlt, präsentieren die meisten der direkt am Untersuchungsobjekt arbeitenden Aufsätze in dem Sammelband bedauerlicherweise kaum konzeptuelle Ansätze für eine Zukunftsperspektive der Literaturwissenschaft. Anette Simonis kann in ihrer Rezeptionsstudie des Pygmalion-Stoffes („Literarizität und Medialität zwischen den Künsten“) in der Kunst recht überzeugend zeigen, wie im Medienwechsel mit Verweisen und Zitaten gespielt werden kann und wie jeder Medienwechsel auch immer eine ästhetische Reflektion über Möglichkeiten und Grenzen des jeweiligen Mediums beinhaltet, während Linda Simonis am Beispiel der vielmals doppelbegabten, also Kunst und Literatur gleichermaßen schaffenden, Präraffaeliten für ein „übergreifendes System der Künste“ plädiert, das zwar jeder Kunst einen eigenen Ort zuweise, aber gemeinsame Grundlagen teile. Gerade die Komparatistik sei, so Simonis weiter, dafür prädestiniert, dieses Gesamtsystem zu untersuchen und besonders vor dem Hintergrund der gegenwärtigen „Erweiterung des Kunstbegriffs“ ihren Gegenstandsbereich entsprechend zu erweitern.

So nachvollziehbar und in der Sache präzise beide Aufsätze auch sind, lassen sie doch etwas die übergreifenderen Ansätze vermissen, wie sich eine Literaturwissenschaft im 21. Jahrhundert aufzustellen habe – über die inzwischen Selbstverständlichkeit gewordene Forderung der Berücksichtigung intermedialer Bezugnahmen und Wechselwirkungen hinaus, die schließlich schon Ulrich Weisstein 1968 unter dem Schlagwort der „wechselseitigen Erhellung der Künste“ gefasst hatte.[3]

Dass indes ein Potential für eine zukünftige, medialen und gesellschaftlichen Veränderungen gegenüber sensible Literaturwissenschaft, die weder ihren Gegenstand noch ihre Kernkompetenzen vernachlässigt und dennoch, ohne ins Vage oder Metaphorische abgleiten zu müssen, ihre Relevanz und ihre Funktion argumentativ überzeugend vorzubringen vermag, vorhanden ist, zeigen Beispiele wie die Aufsätze von Matías Martínez oder Rüdiger Zymner in dem Band.

Zymner legt in gewohnt klarer Sprache, argumentativer Schlüssigkeit und theoretischer Präzision einen Vorschlag zur Definition des Gegenstandes der Komparatistik – grundsätzlich als „Weltliteratur“ bezeichnet – vor, der sehr plausibel und pragmatisch dafür argumentiert, als Weltliteratur all jene schriftlichen Erzeugnisse anzusehen,  die innerhalb des Sozialsystems Literatur entstanden und in dessen Kommunikationen und Institutionen verankert sind. Das bedeutet nicht, dass er Volkspoesie oder orale Literatur aus seinem Konzept ausklammern würde, vielmehr schlägt Zymner vor, sie nicht als dem Subsystem ‚Literatur‘, sondern einem System ‚Poetrie‘ zugehörig zu betrachten. Dieses System ‚Poetrie‘ sei auf „enge bzw. distinkte Handlungsräume konzentriert“, d.h. auf kleinere soziale Gruppen beschränkt (die Horde, den Stamm usw.) und entsteht demnach unter anderen Vorzeichen und mit anderen Intentionen. Explizit möchte er beides als „zentrale Gegenstände der Literaturwissenschaft“ verstanden wissen, die jeweilige Untersuchungsmethodik und auch die Fragestellungen an den Gegenstand seien aber in beiden Systemen unterschiedlich. Gerade für die Komparatistik und ihre seit Jahren vehement geführte Diskussion über den Begriff von Weltliteratur ist diese theoretische Neuvermessung von unschätzbarem Wert, macht sie doch deutlich darauf aufmerksam, dass ‚Weltliteratur‘ schon dem Begriffsursprung nach ein europäisches Konzept ist, dass auf einem bestimmten, seit dem 18. Jahrhundert existierenden Konzept von ‚Literatur‘ beruht. So global man also Weltliteratur auch untersuchen mag, man tut es noch immer vor der konzeptuellen Folie eines Literaturbegriffs, der europäischen Ursprungs ist.

Matías Martínez sucht in seiner Skizze einer „Narratologie als interdisziplinäre Forschungsmethode“ das literaturwissenschaftlich-narratologische Instrumentarium der Erzähltheorie zu verbinden mit Ansätzen der Psychologie und der juristischen Forschung zur Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen. Immer hat man es mit Phänomenen des Erzählens zu tun und Erzählen ist immer, so stellt Martínez zu Recht fest, von einem „Konstruktionscharakter“  begleitet. Daraus jedoch eine Gleichartigkeit von fiktionalem und faktualem Erzählen hinsichtlich seines Faktizitätsanspruchs ableiten zu wollen und damit die Grenze zwischen Fakt und Fiktion einzureißen, lehnt er als „unnötige Provokation“ verständlicherweise ab. Vielmehr gelingt es ihm, wenn auch nur skizzenhaft, anhand der vergleichenden Lektüre der Autobiographie von Ruth Klüger und dem Skandal-Buch von Binjamin Wilkomirski narratologisch zu zeigen, inwiefern sich der Konstruktcharakter in beiden Fällen voneinander unterscheidet, ja unterscheiden muss, eben weil es sich im einen Fall um faktuales, im anderen um fiktionales Erzählen handelt. Martínez kann nachweisen, dass im Fall der fingierten Autobiographie erzählendes Ich und erzähltes Ich nur einfach kausal miteinander verbunden sind: das erzählende Ich ist noch immer durch die Erfahrungen des erzählten Ichs beeinflusst – ganz so, wie man es von einem Holocaust-Überlebenden erwarten würde. Die Kausalverbindung im Fall Klügers jedoch ist eine doppelte: nicht nur ist das erzählende Ich durch die Erfahrungen des erzählten Ichs geprägt, umgekehrt verhält es sich ähnlich, immer wieder werden die Erfahrungen des erzählten Ichs aus der Perspektive des erzählenden Ichs problematisiert und hinterfragt. Die Erkenntnis der doppelten Kausalität beim Erzählen vermag tatsächlich das Potential einer literaturwissenschaftlichen Narratologie für Psychologie und Gerichtspsychologie zumindest anzudeuten, inwiefern hier tatsächlich Anknüpfungspunkte bestehen, werden zukünftige interdisziplinäre Ansätze erweisen müssen – aber Martínez Aufsatz eröffnet zumindest eine sehr wichtige und fruchtbare Zukunftsperspektive eines literaturwissenschaftlichen Teilbereichs.

Wo Martínez‘ Skizze praktisch am Gegenstand arbeitet, ergänzt Doris Pichlers Aufsatz zum „Inter- and Transdisciplinary Potential of Literary Studies“ diesen Ansatz theoretisch, wenn sie nach dem Potential literaturwissenschaftlicher Methodik und Theorie für die Ökonomie und die Rechtswissenschaft fragt. In Auseinandersetzung mit den inzwischen, vor allem in den USA, Legion gewordenen Arbeiten zum Thema „Literature and Law“ und den vor allem im Zuge der Wirtschaftskrise stark angewachsenen Äußerungen aus dem Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaften zur Ökonomie schlägt Pichler ein interdisziplinäres Forschungsfeld vor, das alle drei Disziplinen – Literatur, Recht, Ökonomie – verbinden solle. Gemeinsame Grundlagen seien dabei das gesellschaftliche Interesse, Sprache und Text als vorrangige Arbeitsmaterialien, die zumeist partielle Selbstreferenz der Untersuchungsobjekte und schließlich die interpretatorische Methode, die in allen drei Wissenschaften zur Anwendung kommt (vgl. S. 230). Auf Basis der Unterscheidung einer Meta- und einer Objektebene (also dem Text als Beschreibung einerseits und als zu Beschreibendes andererseits) kommt sie zu fünf Arbeitsbereichen des neuen Forschungsfeldes:

(1)  die Etablierung literaturtheoretischer Konzepte in juristischen und ökonomischen Theorien und vice versa,

(2)  der literaturwissenschaftlichen Lesart ökonomischer und juristischer Texte, also der Anwendung literaturwissenschaftlicher Methodik auf nicht-literarische Texte,

(3)  dem Hinterfragen des Nutzwertes literaturwissenschaftlicher Grundkonzepte wie Fiktionalität zur Analyse beispielsweise von Marktmechanismen,

(4)  der Analyse juristischer und ökonomischer Phänomene in literarischen Texten, und schließlich

(5)  die Freilegung ökonomischer oder juristischer Theorien und Konzepte in literarischen Texten.

Dieses Abstecken möglicher Arbeitsfelder bleibt also letztlich etwas abstrakt, weshalb es schwierig ist, konkrete Aussagen über den heuristischen Wert des Modells für die jeweiligen Disziplinen zu treffen. Indes bleibt positiv zu bemerken, dass es Pichler gelingt, gerade auch durch die reichhaltige Unterfütterung mit verschiedensten bereits geleisteten Untersuchungen, den Bereich literature and law als fruchtbares Forschungsgebiet vor allem der deutschen Literaturwissenschaften herauszustellen, ist das doch in den USA bereits seit vielen Jahren gängige Praxis. Und, auch das ist ein wichtiger Punkt, sind es dort gerade die Rechtswissenschaften, die sich bei der Literaturwissenschaft umsehen und es ist nicht umgekehrt die Literaturwissenschaft, die sich anderen Disziplinen anzudienen sucht, um ihre wissenschaftliche Relevanz zu bestätigen. Insofern bleibt abzuwarten, ob und was von Pichlers theoretischem Konzept praktisch umsetzbar ist, das Beispiel USA zeigt jedoch, dass fruchtbare Ansätze durchaus vorhanden sind.

Es sollte aber vielleicht bei der Frage nach der „Literaturwissenschaft heute“ auch um mehr als eine konzeptuelle Positionierung im geistes- und kulturwissenschaftlichen Feld gehen, sondern ebenso darum, welche Bedeutung und Funktion Literatur eigentlich (noch) hat oder haben sollte – also gerade darum, das Proprium der Literatur gegenüber anderen Medien und kulturellen Erzeugnissen herauszustellen; gerade darum, in all den Diskussionen um Interdisziplinarität, Globalisierung und mediale Revolution das Spezifische der Literatur herauszustellen.

Robert Vellusigs Aufsatz „Texte zum Sprechen bringen“ ist hierfür ein interessanter erster Schritt. Er weist eindringlich darauf hin, dass „der schriftliche Text personale Qualitäten besitzt“ und der Rezipient demnach „in der Imagination eine Nähe zu ihm aufbaut […], zu einer sprachlich vermittelten, ihrem Wesen nach anthropomorphen Wirklichkeit, zu der man sich erlebend in ein Verhältnis setzen kann“, weshalb die Literatur eigentlich ein „lebendiger Interaktionskosmos“ sei und jedes Kunstwerk eine „je gegenwärtige Erlebniswirklichkeit, die sich dem Leser im Prozess der Lektüre erschließt; sie ist nichts, was man hat, sondern etwas, was sich je neu bildet“. Man mag diese an Peter Szondi entwickelten Gedanken zur Leistung von Literatur als einem vagen Raum ästhetischen Erlebens als zu nah an Staigers Einfühlungsästhetik oder als existentialphilosophisch abtun, jedoch eröffnet Vellusig immerhin Denkräume einer Zukunft der Literatur. Das Proprium von Literatur scheint gerade in der Imagination zu liegen, an jenem Punkt, wo der Rezipient gefordert ist, kognitiv selbsttätig zu werden um dem Kunstwerk nahe zu kommen. Hinzu kommt, dass Vellusigs Plädoyer für eine Literatur als Interaktionskosmos und Erlebniswirklichkeit (das sich deutlich von Gumbrechts „Präsenz“-Konzept abhebt) durchaus nicht den Subjektivitäts-Vorwurf, den man ihm machen könnte, übersieht – und gerade hierin seine vielleicht besondere Stärke zeigt. Denn in der fortschreitenden „Verwissenschaftlichung der literaturwissenschaftlichen Beschreibungssprache“ liege die Gefahr, den ästhetischen Gegenstand aus dem Blick zu verlieren und die Literatur der Theorie zu opfern.

Damit ist sein Beitrag im Grunde ein Gegenentwurf zu anderen Konzepten in dem Band, fordert er doch gerade zur Rückbesinnung auf dasjenige auf, was eine Disziplin, die im Angesicht regelmäßiger Paradigmenwechsel in „Gestalt modischer Turns“, die einem stetigen „Innovationsdruck“ geschuldet sind und dabei „nur sehr bedingt dem Prinzip des Erkenntnisfortschritts“ gehorchen, manchmal vergessen zu haben scheint: die Literatur. Tatsächlich ist in „Literaturwissenschaft heute“ von Literatur in der Sache nur sehr wenig die Rede. Es geht viel um andere Medien, um Theorie, um Vernetzung und den Anschluss an andere Disziplinen, immer wieder auch um den Literaturbegriff, selten jedoch um Literatur selbst. Und das ist vielleicht am Ende des Bandes das etwas bedrückende Ergebnis der „Literaturwissenschaft heute“: dass ihr im Angesicht gesellschaftlicher und hochschulpolitischer Veränderungen und daraus resultierendem „Innovationsdruck“ der Glaube an und in ihren eigenen Gegenstand und dessen Relevanz verlorengegangen ist. „Literatur“ wird als bedeutsam wahrgenommen nur noch in ihrer Verbindung mit etwas anderem – aber nicht mehr aus sich selbst heraus. Erstaunlich genug, dass es ausgerechnet der letzte Beitrag des Bandes von Werner Wolf ist, der unter dem Titel „A Defence of (the Study of) Literature“ genau diesen Punkt stark macht: „in the long run literary studies will only be able to justify its existence if it remains distinguishable from other disciplines, in particular from Cultural Studies. One of the most obvious ways of ensuring this is for literary scholars to focus on verbal texts as aesthetic constructs of a particular quality requiring a particular approach.“

Wolfs Typologie verschiedener Funktionen von Literatur und ihren Distinktionsmerkmalen allen anderen kulturellen Erzeugnissen gegenüber mag im Detail vielleicht diskussionswürdig sein, bleibt aber in der Stoßrichtung genau das, was man sich für diesen Band in der gesamten Breite erhofft hätte: ein Plädoyer für die Literaturwissenschaft im 21. Jahrhundert, eine Reflektion über ihre Möglichkeiten, Grenzen und Aufgabengebiete, ein Nachdenken darüber, was ihren Gegenstand für sich und aus sich heraus relevant und damit der wissenschaftlichen Erforschung wert macht. So jedoch bleibt der etwas erschreckende Eindruck, wie wenig ausgewiesene Experten ihres Fachs zur Relevanz und zur Konzeptualisierung der Literaturwissenschaften zu sagen haben und wie sehr sie sich hinter rhetorische Schutzwälle zurückzuziehen suchen, um die Auseinandersetzung mit Sinn und Unsinn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur und literarischen Texten in einer zunehmend von anderen Medien bestimmten Welt nicht suchen zu müssen.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Hartmut Bleumer (Hg.): Turn, turn, turn? Oder: braucht die Germanistik eine germanistische Wende? Eine Rundfrage zum Jubiläum der LiLi, Stuttgart 2013 (=Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Jg. 43, Heft 172).

[2] Vgl. Maik Bierwirth (Hg.): Doing contemporary literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen, München 2012.

[3] Vgl. Ulrich Weisstein: Einführung in die vergleichende Literaturwissenschaft, Stuttgart 1968, v.a. Kap. 8.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Susanne Knaller / Doris Pichler (Hg.): Literaturwissenschaft heute. Gegenstand, Position, Relevanz.
V&R unipress, Göttingen 2013.
300 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783899719888

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