Zu dieser Ausgabe

15 Jahre literaturkritik.de – Mit Vorbemerkungen zur Februar-Ausgabe 2014 und zum Schwerpunkt Erster Weltkrieg

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Rückblicke und Aussichten

Vor 15 Jahren, im Februar 1999, in der Atmosphäre einer beginnenden Internet-Euphorie, die gegenwärtig in eine Depression mit zuweilen paranoiden Symptomen umzuschlagen droht, erschien die erste Ausgabe von literaturkritik.de. Mehrere ausführliche Rückblicke auf die ersten zehn Jahre haben wir im Februar 2009 veröffentlicht und in zum Teil sehr persönlichen „Erinnerungen, Bilanzen und Blicken in die Zukunft“ nicht zuletzt Einblicke in das damalige Aussehen der Zeitschrift ermöglicht. Wer darin liest, sieht sich, auch in medientechnischer Hinsicht, in eine andere Zeit versetzt. In den vergangenen fünf Jahren hat sich dieses Aussehen erneut verändert – und einiges andere auch. Der Umfang der Ausgaben ist ständig gewachsen, und wir fragen uns und unsere Leserinnen und Leser, ob das zugunsten der Vielfalt unseres Angebotes gut oder der Konzentration auf das Beste und Wichtigste abträglich ist.

In dieser Ausgabe stehen 115 Beiträge, in der Ausgabe vor 15 Jahren waren es 35. Die Belastungsfähigkeit der kleinen Redaktion und des Herausgebers stößt da an ihre Grenzen. Und ihre Stärkung ist auch eine Kosten-Frage. Bei den Konferenzen der Redaktion wird deshalb wiederholt ein Thema aufgegriffen, das viele andere Publikationsorgane im Internet ständig beschäftigt: Möglichkeiten eines Bezahlsystems. Mit der Einrichtung eines Online-Abonnements, das den Abonnenten erweiterte Rechte zur Nutzung unserer Angebote einräumt, haben wir eine dieser Möglichkeiten früh erprobt. Die Zahl unserer Online-Abonnenten, die unsere Arbeit unterstützen, ist zwar seit Jahresbeginn deutlich gestiegen (wir sind jedem alten und neuen Abonnenten dankbar dafür!), aber wir brauchen viel mehr, um unsere Arbeit so wie bisher fortzusetzen, zu verbessern und die Beiträge in unserer Zeitschrift weiter frei zugänglich zu halten.

Zu den jüngeren Neuerungen unserer Zeitschrift und des Verlages LiteraturWissenschaft.de, in dem sie erscheint, gehört, dass unsere Ausgaben von den Abonnenten inzwischen als E-Books gelesen werden können. Die Bücher, die in unserem Verlag erscheinen, sind ebenfalls zum Teil als E-Books erhältlich. Dass in diesem Verlag seit einigen Wochen ein Interviewfilm über die Unterschiede zwischen professioneller Literaturkritik und „Laienkritik“ angeboten wird (als DVD oder zum Download), ist symptomatisch für die Erweiterung unseres medientechnischen Spielraums.

Eine inhaltliche Horizonterweiterung wiederum erfährt unser „Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaften“, das am Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg beheimatet ist, durch die Zusammenarbeit mit anderen Instituten und Fächern an zum Teil anderen Universitäten. Für die Literatur und Kultur des Mittelalters ist seit November 2011 eine eigene Redaktion am Institut für Deutsche Philologie des Mittelalters der Universität Marburg unter der Leitung von Jürgen Wolf zuständig. In dieser Ausgabe hat sie den Schwerpunkt „Das Mittelalter im Hörbuch“ betreut. Eine Komparatistik-Redaktion ist seit Juni 2013 unter der Leitung von Dieter Lamping am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Mainz aktiv und hat zu dieser Ausgabe unter anderem den Schwerpunkt „US-amerikanische Literatur“ beigetragen. Die seit Januar 2012 in unserer Zeitschrift erscheinenden Film-Kritiken haben sich auch durch die Kooperation mit der Redaktion in Mainz inzwischen so vermehrt, dass wir sie ab sofort unter der eigenen Adresse www.film-kritik.net gesammelt anzeigen. Im April dieses Jahres beginnt die Zusammenarbeit mit der neuen Redaktion „Gegenwartskulturen“ unter der Leitung von Alexandra Pontzen an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Weitere Kooperationen dieser Art sind vorgesehen und bieten wir an. Das Angebot richtet sich vor allem an kulturwissenschaftliche Institute, die in Forschung und Lehre mit ihren Studiengängen, ähnlich wie das Institut für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg, deutliche Akzente auf Prozesse der Literatur- und Kulturvermittlung in den Medien setzen und dabei den Studierenden Qualifikationen ermöglichen wollen, die ihnen den Zugang zur Berufspraxis vor allem in Bereichen des Kulturjournalismus und des Buchhandels erleichtern können.

Die Gründung dieser Zeitschrift und bald darauf auch des Verlages LiteraturWissenschaft.de sowie der Buchhandlung Kultur-Wissenschaft.de stand vor 15 Jahren in engem Zusammenhang mit der Einrichtung des praxisorientierten Studienschwerpunktes „Literaturvermittlung in den Medien“. Zeitschrift, Verlag und Buchhandlung gehören in Marburg zur Infrastruktur dieses Studienschwerpunktes, bieten Praktika an oder beziehen die Studierenden in anderer Weise in die hier zu gewinnenden Praxiserfahrungen der Literaturvermittlung mit ein. Ab April 2014 wird dieser Studiengang maßgeblich von Jürgen Joachimsthaler betreut, der kürzlich den Ruf der Universität Marburg auf eine Professur für Neuere deutsche Literatur angenommen hat. Joachimsthaler, der neben seinen wissenschaftlichen Qualifikationen auch Erfahrungen in der Verlags- und Redaktionsarbeit sammeln konnte, hat sich bereit erklärt, die Redaktion der Zeitschrift mit den ihm dann zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Wir danken dafür, freuen uns auf die Zusammenarbeit mit ihm und hoffen, dass der Standort Marburg weiterhin ein zumindest virtuelles Zentrum literaturkritischer und kulturjournalistischer Aktivitäten bleiben kann.

„Virtuell“ deshalb, weil schon jetzt, mehr als noch vor einigen Jahren, ein großer Teil der Arbeit des seit Jahren gut eingespielten Redaktionsteams an unterschiedlichen und auch wechselnden realen Standorten geleistet wird. René Lori, seit 2008 nach seinem Studium der Informatik und Medienwissenschaft in Marburg für die technische Redaktion verantwortlich, ist mittlerweile in Würzburg fest verwurzelt. Jan Süselbeck, der, als Nachfolger von Lutz Hagestedt (2004 an die Universität Rostock berufen, der Zeitschrift als Mitarbeiter aber weiter verbunden), 2005 die Redaktionsleitung übernommen hat, bewegt sich pendelnd hin und her zwischen Marburg, Tübingen und Siegen, wo er gerade eine Professur vertritt und an einem Forschungsprojekt beteiligt ist. Relativ sesshaft in Marburg ist André Schwarz, der, mit Unterbrechungen, schon seit 2001 die Arbeit in der Redaktion koordiniert. Doch ob das so bleibt, ist ungewiss. Die Situation Wissenschaftlicher Mitarbeiter an Universitäten ist vielfach prekär. Die Anstellung von Jan Süselbeck an der Universität Marburg ist vorerst bis 2015, die von André Schwarz bis Juli dieses Jahres einigermaßen gesichert. So kann es also durchaus sein, dass das bisherige Redaktionsteam in den kommenden Jahren von verschiedenen Haupt-Standorten aus agiert.

Offen ist die Zukunft von literaturkritik.de auch deshalb, weil zwei seit 15 Jahren beteiligte Personen inzwischen im „Ruhestand“ für die Zeitschrift arbeiten und dies nicht unabsehbar lang fortsetzen werden. Bianca Schimansky, im Sekretariat seit 1999 Managerin an den Schnittstellen zwischen Redaktion, Verlag, Buchhandlung, Mitarbeitern, Kunden und der in Gießen ansässigen, von mehreren mittelhessischen Hochschulen betriebenen TransMIT GmbH (die sich um die ökonomischen und rechtlichen Belange der Zeitschrift und ihres Verlags kümmert), führt ihre Aufgaben weitgehend an ihrem häuslichen Arbeitplatz fort – bis diese von jemand anderem übernommen werden können. Für mich selbst ist der neue Status zunächst mit dem Gewinn verbunden, in der Umgebung von München noch mehr Zeit und Energie als vorher ohnehin schon der Arbeit für die Zeitschrift und den Verlag zu widmen. Doch zu meinen Aufgaben gehört es in den kommenden fünf Jahren nicht zuletzt, mich als Herausgeber der Zeitschrift und als Leiter des TransMIT-Zentrums für Literaturvermittlung in den Medien um eine geeignete Nachfolge und den Fortbestand der Zeitschrift mit Hilfe anderer zu kümmern.

Dass die Redaktion und der Herausgeber über derartigen Überlegungen und Planungen nicht die Gegenstände aus den Augen verlieren, mit denen sie hauptsächlich befasst sind, nämlich literarische und kulturwissenschaftliche Neuerscheinungen, und über sie immer wieder angeregte Gespräch führen, kann die Aufzeichnung einer Diskussion über Romane von Helene Hegemann, Daniel Kehlmann und Terézia Mora zeigen, die unlängst unter dem Titel „Das literaturkritische Quartett“ stattfand und dem Andenken Marcel Reich-Ranickis gewidmet ist. Mit der Aufzeichnung stellt sich unser Team in dieser Ausgabe ausnahmsweise auch optisch und akustisch vor.

Schwerpunkt Erster Weltkrieg

Mit dem ersten der drei Schwerpunkte in dieser Ausgabe knüpft literaturkritik.de an einen Themenkomplex an, mit dem wir uns wiederholt intensiv auseinandergesetzt haben und den wir noch einmal in der Juli-Ausgabe aufgreifen. Dem Ersten Weltkrieg widmete die Zeitschrift bereits mehrere Ausgaben: im August 2004 und im November sowie im Dezember 2008. Die dort und in etlichen weiteren Ausgaben veröffentlichten Beiträge zu dem Thema erscheinen in Kürze gesammelt als E-Book. In dieser Ausgabe hinterfragt der erste Beitrag ein Stichwort, das sich in den gegenwärtigen Rückblicken auf und Auseinandersetzungen mit den Ereignissen vor 100 Jahren auffälliger Beliebtheit erfreut: die Rede von der „(Ur-)Katastrophe“ des Ersten Weltkriegs. Der zweite Beitrag trägt im Rückgriff auf neuere Perspektiven kulturwissenschaftlicher Emotionsforschung (die in unserer Zeitschrift von Beginn an viel Beachtung fand) dem Sachverhalt Rechnung, dass der Krieg und seine Darstellungen ohne die Gefühle, die mit ihnen verbunden sind, nicht angemessen verstanden werden können.

Historiker wie Christopher Clark haben zwar in jüngerer Zeit mit einigem Recht darauf hingewiesen, dass die kollektive Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkrieges keineswegs von allen geteilt wurde, aber ohne sie wäre dieser Krieg kaum möglich gewesen, und unter Schriftstellern und Intellektuellen war zweifellos jene Euphorie typisch, die Thomas Mann, einer der schon damals angesehensten Vertreter der literarischen Intelligenz, im Spätsommer 1914 mit dem Ausruf bekundete: „Wie die Herzen der Dichter sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde!“ Beifällig präzisierte er: „Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung.“ Der expressionistische Dramatiker Ernst Toller, später einer der engagiertesten Kriegskritiker, schilderte in seiner Autobiographie rückblickend die damaligen Empfindungen der Jugend in Deutschland so: „Ja, wir leben in einem Rausch des Gefühls. Die Worte Deutschland, Vaterland, Krieg haben magische Kraft, wenn wir sie aussprechen, verflüchtigen sie sich nicht, sie schweben in der Luft, kreisen um sich selbst, entzünden sich und uns.“

Dieser „Krieg ist groß und wunderbar“, schrieb Max Weber im August 1914 in einem Brief. Die Begeisterung der Dichter und Intellektuellen richtete sich gegen den „faulen Frieden“ der Vorkriegsjahre im schwer erträglichen Spannungsfeld zwischen permanenter Kriegsgefahr und lähmender „Ruhe und Ordnung“, zwischen protzigen Drohgebärden des Kaiserreichs nach außen und den Parolen biedermeierlicher Selbstzufriedenheit im Innern. Ernst Tollers Erinnerungen versuchten etwas von dieser Erregtheit zu vermitteln: „Ein deutsches Kriegsschiff ist vor Agadir erschienen. Alle reden vom Krieg zwischen Frankreich und Deutschland. […] Wir Jungen wünschen den Krieg herbei, der Friede ist eine faule, und der Krieg eine große Zeit, sagen die Professoren, wir sehnen uns nach Abenteuern, vielleicht werden uns die letzten Schuljahre erlassen, und wir sind morgen in Uniform, das wäre ein Leben. Aber der Friede bleibt erhalten, die Lehrer auf dem Katheder vergessen die kriegerische Haltung, uns wird nicht eine Schulstunde geschenkt.“ Ähnlich war für Ernst Jünger, der in seinem Frühwerk den Krieg zur „Feier des Lebens“ stilisierte, der Krieg die große Alternative zur Schule. 1914 wollte er nach Afrika reisen. „Afrika war für mich der Inbegriff des Wilden und Ursprünglichen, der einzig mögliche Schauplatz für ein Leben in dem Format, in dem ich das meine zu führen gedachte“. An der Reise hinderte ihn der Kriegsausbruch. Doch der Krieg wurde ihm zu einem vollwertigen Ersatz. „Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen“, so heißt es in den „Stahlgewittern“, „und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. […] Der Krieg mußte es ja bringen, das Große, Starke, Feierliche.“

Von solchen emotionalen Konfusionen handeln in dieser Ausgabe die Essays über Ernst Jünger, Robert Musil und Max Weber. Ein weiterer befasst sich mit der in Deutschland und Frankreich sehr unterschiedlich gearteten literarischen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg und zeigt, wie sogar der 1916 in Frankreich erschienene und später als pazifistisch missverstandene Fortsetzungsroman „Le Feu“ von Henri Barbusse von quasi revolutionärer Begeisterung geprägt war: „Wenn ich mein Leben geopfert habe und wenn ich mit Freuden in diesen Krieg ziehe, dann nicht nur als Franzose, sondern vor allem als Mensch.“

Ankündigungen

Die Juli-Ausgabe von literaturkritik.de wird mit anderen Akzentsetzungen, die auch auf Traditionen entschiedener Kriegskritik und einer sich im Krieg formierenden pazifistischen Bewegung eingeht, das Thema wieder aufnehmen. Für die April-Ausgabe bereitet die Mainzer Komparatistik-Redaktion einen Schwerpunkt zu Shakespeares 450. Geburtstag vor. Und im April beginnt mit einem Beitrag zu einem der Sonette Shakespeares eine neue Reihe mit dem Titel Lyrik aus aller Welt. Übersetzungen, Kommentare, Interpretationen, die von Dieter Lamping und mir herausgegeben wird. Ausgewiesene Kenner laden wir ein, sich in dieser Reihe mit bedeutenden Gedichten der Weltliteratur auseinanderzusetzen. Die Reihe ergänzt die in literaturkritik.de seit einigen Jahren mehr oder weniger regelmäßig erscheinenden Glossen, die Dirk Kaesler seit 2009, Luise F. Pusch seit 2012 und Dieter Lamping seit 2013 in literaturkritik.de veröffentlichen, und soll (wie eben Lampings Lyrik-Kolumne) in unserem Verlag später auch in gedruckter Form erscheinen. Und sie entspricht ganz der Absicht, die zum erklärten Profil von literaturkritik.de gehört: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Möglichkeiten zu geben, die Ergebnisse ihrer Arbeit an ein Publikum zu vermitteln, das sie in Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Verlagen nicht erreichen, und interessierte Leserinnen und Leser teilnehmen zu lassen an dem, was die Literatur- und Kulturwissenschaften an den Universitäten bewegt.

Das Internet bietet dazu nach wie vor hervorragende Möglichkeiten. Für die anfangs angesprochene Internet-Depression mit paranoiden Symptomen eines Verfolgungswahns, die sich nach den Enthüllungen Edward Snowdens verbreitet, sind jene besonders anfällig, die entweder das Internet maßlos überschätzt haben oder sich selbst so wichtig nehmen, dass sie sich bereits als Opfer geheimdienstlicher Überwachungspraktiken fühlen. Beides liegt uns fern, auch wenn wir die Empörung über diese einschüchternden Praktiken teilen.

Mit Dank an alle, die sich bisher aktiv an literaturkritik.de beteiligt oder die Zeitschrift auf andere Weise unterstützt haben, besten Wünschen für die gemeinsame Arbeit und Lektüre in den kommenden Jahren und herzlichen Grüßen

Thomas Anz