Gefühle im Wandel der Zeit

Jutta Stalfort untersucht in „Die Erfindung der Gefühle“ den historischen Wandel von Emotionalität zwischen 1750 und 1850

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Emotionsgeschichte gilt als relativ junge Disziplin der Historiographie. Auch wenn zuvor schon emotionsgeschichtliche Aspekte thematisiert worden waren, so gilt gemeinhin der Aufsatz von Lucien Febvre „La sensibilité et l’histoire“ von 1941 als Initialzündung für die Erforschung der Entstehung und des Ausdrucks von Gefühlen. Bemerkenswerterweise setzen die meisten emotionsgeschichtlichen Studien in der Neuzeit ab circa 1600 an. Doch die Thematisierung von Gefühlen und ihre Ergründung reicht bis in die Antike zurück und wird zum Beispiel von Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik diskutiert, lässt sich in Mittelaltertexten nachweisen – hierzu gibt es eine etablierte Forschung – oder findet sich unter anderem in der Rhetorik wieder, weil der Rhetoriker davon ausgeht, dass er die emotionale Disposition seines Gegenübers kennen und berücksichtigen muss, wenn er eine rhetorische Wirkung erzielen möchte.

Bei der Datierung des Untersuchungszeitraumes bildet die Studie von Jutta Stalfort „Die Erfindung der Gefühle“ keine Ausnahme. Sie untersucht wissenschaftliche Texte hauptsächlich von 1750 bis 1850 im Hinblick auf die unterschiedlichen Definitionen von Gefühlskategorien im Rahmen des jeweiligen soziokulturellen Kontextes. Dass die inhaltliche Definition dessen, was Gefühle ausmacht, dass die Thematisierung von Emotionalität und die Reflexion darüber kulturspezifisch bedingt sind und damit auch dem Wandel unterliegen, ist dabei die Grundannahme emotionsgeschichtlicher Forschung. Trotzdem, oder gerade deshalb, ist es interessant zu verfolgen, wie Jutta Stalfort genau dazu den Nachweis führt.

Im theoretischen Teil ihrer Studie legt sie dar, dass emotionale Konzepte in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich entstehen. Gefühlsregungen und –wahrnehmungen werden Stalfort zufolge verschiedenartig begriffen und hängen stark vom jeweiligen kulturellen und historischen Rahmen ab. Stalfort untersucht diverse emotionale Kategorien – etwa Liebe, Furcht, Trauer – und macht mit Hilfe der Natural Semantic Metalanguage Gefühlskategorien vergleichbar.

Im zweiten, empirischen Teil ihrer Arbeit untersucht sie die Erfassung und Definition von Gefühlskategorien in wissenschaftlichen Texten, die vom Universalgelehrten René Descartes über den Philosophen Immanuel Kant bis zum Psychologen Franz Xaver Biunde reichen. Dabei kann sie nachweisen, dass Gefühlsdarstellungen und -interpretationen dem historischen Wandel unterliegen, wobei sie die „Erfindung der Gefühle“ auf circa 1750 datiert; noch in den 1730er-Jahren war Gefühl als Tastsinn interpretiert worden. Um 1750 differenzieren sich Gefühlsereignisse im Sinne von psychophysiologischen Phänomenen aus, indem zum Beispiel „Affekt“ und „Leidenschaft“ eigene Bedeutungsbereiche zugewiesen werden.

Nicht zufällig fällt das, was die Autorin als „Erfindung der Gefühle“ bezeichnet, in die Epoche der Entstehung eines bürgerlichen Selbst- und Weltverständnisses, in welchem emotionale Kategorien in Abgrenzung zu einer überkommenen höfischen Kultur, aber auch als beginnende Emanzipation von einem religiösen Diktat hinsichtlich Emotionalität entstehen. In direktem Zusammenhang steht die moderne Ausbildung des Konzepts von Emotionalität daher mit soziokulturellen Phänomenen wie der Entstehung von Privatheit, der im 18. Jahrhundert aufkommenden Geschmacksdebatte oder der Ausbildung der Freundschaftskultur.

Die Crux von Studien, die einer wissenschaftlichen Disziplin verpflichtet sind, aber interdisziplinäre Fragen anschneiden, ist es, dass sie sich in Methodik und Fragestellung beschränken müssen, wollen sie nicht ins Uferlose mäandern oder sich durch inadäquates Methodenwissen in fremden Disziplinen im Oberflächlichen verlieren. Insofern hat Stalfort gut daran getan, sich auf den rein historisierenden Zugriff zu beschränken, auch wenn die Auswahl der wissenschaftlichen Texte quer durch alle Disziplinen ein wenig beliebig erscheint.

Die aufschlussreichen Ergebnisse von Stalforts Untersuchung wären in einem weiteren Schritt in einen breiteren interdisziplinären Kontext zu stellen, etwa indem man die Affektenlehre der Musik oder literarische Texte hinzuzieht; letztere klammert Stalfort ausdrücklich für ihre Untersuchung aus. Dabei könnte beispielsweise die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehäuft erscheinende Tagebuchliteratur, in der es um Selbstbespiegelung und emotionale Reflexion geht, wichtige Hinweise geben, aber auch weitere Texte des Zeitraums, der die Emotionalisierung der Literatur unter dem Epochenbegriff „Empfindsamkeit“ archetypisch spiegelt.

Der Wert von Stalforts Studie liegt deshalb weniger darin, überraschend Neues zu Tage gefördert zu haben. Mit ihren validen Ergebnissen bildet sie vielmehr eine willkommene Ausgangsbasis für weitere, spannende Studien im Schnittpunkt von Medizin, Psychologie, Literaturwissenschaft, Anthropologie und Sozialgeschichte.

Titelbild

Jutta Stalfort: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750 - 1850).
Transcript Verlag, Bielefeld 2013.
460 Seiten, 36,80 EUR.
ISBN-13: 9783837623277

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