Wenn Liebe verhallt

In „Ein Abend bei Claire“ erzählt Gaito Gasdanow von der Empfindsamkeit einer russischen Seele

Von Matthias SchliekerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Schlieker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der russische Exilschriftsteller Gaito Gasdanow war bereits 40 Jahre verstorben, als ihn Rosemarie Tietze im August 2012 erstmals nach Deutschland hinüberholte. Selten ist die Kritik der Feuilletons so einstimmig ausgefallen. Gasdanows Roman „Das Phantom des Alexander Wolf“, im Pariser Exil 1946/47 entstandenen, galt als die Entdeckung des Jahres. Die russische Literatur hätte wieder einmal bewiesen, so war der Tenor, dass sie die großen Erzähler der Weltliteratur hervorbringe; und unter ihnen am größten sind jene, die der eigene Bürgerkrieg von 1917 ins europäische Exil gezwungen hat, nach Berlin, Paris, und später nach Amerika.

Der junge Gasdanow tritt leiser auf. Erst wenige kleinere Erzählungen waren seinem Debütroman „Ein Abend bei Claire“ vorausgegangen. Zwar löste die Veröffentlichung 1929 unter den Exilanten Begeisterung aus (und in seiner Erzählung „Träger Rauch“ stellte Vladimir Nabokov den Roman sogar zwischen seine Lieblingsbücher); doch leben ließ sich davon nicht. Die Kunstfertigkeit, Inhalt und Idee in die Struktur des Romans einzuarbeiten, beherrscht Gasdanow – im Gegensatz zu seinem Spätwerk – noch nicht. Handlung und Form sind so einfach gehalten, dass man über sie hinwegsehen möchte. Der junge Gymnasiast Kolja lernt die etwas ältere Französin Claire kennen, verkennt den Augenblick, da er sich in sie verliebt, und verliert sie in den Unruhen des Bürgerkrieges aus den Augen. Nach zehn Jahren will er sie im Pariser Exil ausfindig machen – und sie haben sich wiedergefunden, das nehmen die ersten Seiten vorweg. In einer Abfolge von Bildern erinnert sich Kolja, neben der eingeschlafenen Claire im Bett liegend, an die Jahre, die zwischen den beiden Begegnungen vergangen sind: „Ich dachte an Claire, an die Abende, die ich bei ihr verbracht hatte, und nach und nach kam mir alles in den Sinn, was ihnen vorausgegangen war; und mich bedrückte, wie unmöglich es war, das alles zu begreifen und in Worte zu kleiden“.

Doch Gasdanow zeichnet weniger den Gang einer wiedergefundenen Zweisamkeit nach als vielmehr die Unmöglichkeit, sie im gegenwärtigen Moment empfinden zu können. Koljas introvertierte Seele verleidet ihm jede äußerliche Regung. Er lebt nicht in der Gegenwart, sondern in den Erinnerungen und Vorstellungen, die er aus den Ereignissen zieht: „Die Krankheit, die mich so unangemessen zwischen Wirklichem und Eingebildetem verharren ließ, bestand darin, dass ich zwischen den Früchten meiner Einbildungskraft und echten, unmittelbaren Gefühlen, hervorgerufen durch äußere Ereignisse, nicht zu unterscheiden wusste“. Mitunter vergehen Jahre, bis er den Wert eines Augenblicks erkennt. So ist die Liebe zu Claire schon in dem Moment einem Gefühl von Traurigkeit gewichen, als er endlich neben ihr liegen darf, aber über einen Gedanken nicht einschlafen kann: „Ich [bedauerte] jetzt, dass ich nicht mehr von Claire träumen konnte, wie ich immer von ihr geträumt hatte; und dass noch viel Zeit vergehen würde, bis ich mir ein anderes Bild von ihr geschaffen hätte“. Denn für Kolja ist die Erfüllung einer Sehnsucht auch das Ende einer Empfindung. Nur die „zauberische, dem Augenblick verhaftete Daseinsweise“ der Musik ist in der Lage, diese Kluft zu überwinden; nur sie kann „die schönsten, ergreifendsten Gefühle“ in ihm auslösen. Was für Kolja die Musik ist, ist Gasdanows Sprachmelodie für den Leser, der synästhetische Aufbau seiner Szenen und die Vielzahl von Semikola, die nicht Satz-, sondern Klangzeichen für die der russischen Literatur eigenen Sprachharmonie sind.

Auch wenn man gleich zu Beginn weiß, dass die Suche nach Claire erfolgreich verlaufen wird, weiß man auch die Hoffnungen Koljas zu trüben, die er am Schluss äußert, wenn er im Begriff ist, in Frankreich an Land zu gehen, und seinen Entschluss gefasst hat: „Aber der wunderbarste Gedanke war, Claire, deren Schatten mich beschirmte, und wenn ich an sie dachte, tönte rings um mich alles leiser und gedämpfter – dass diese Claire mir gehören würde. Wieder nahm ihr unerreichbarer Körper, noch unerreichbarer denn je, auf dem Heck des Dampfers vor mir Gestalt an […] [dieser] wunderbare Traum von Claire“. Gleich von welchem Anfang aus betrachtet, es bleibt der Kreislauf einer traurigen Wiederbegegnung.

Titelbild

Gaito Gasdanow: Ein Abend bei Claire. Roman.
Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze.
Carl Hanser Verlag, München 2014.
190 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446244719

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