Nächste Ausfahrt Erlösung

Die US-Amerikanerin Mary Miller schickt in ihrem Roman-Debüt „Süßer König Jesus“ ein Mädchen und ihre Familie im klapprigen Ford dem Himmelreich entgegen und schreibt dabei eine berührende Coming-of-Age-Geschichte

Von Laslo ScholtzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laslo Scholtze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jess ist 14 und soll sich auf das Ende der Welt, das jüngste Gericht und ihre eigene „Entrückung“ vorbereiten. Doch in der Zwischenzeit hat sie noch jede Menge anderer Dinge im Kopf wie etwa Filmstars, Süßigkeiten und vor allem die entscheidende Frage: Was macht mich attraktiv für Jungs?

Gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Elise lümmelt sie auf der Rückbank des altersschwachen Ford Taurus, den ihre streng religiösen Eltern von Alabama quer durchs Land Richtung Kalifornien steuern. Dort nämlich wird die Wiederkunft des Herrn erwartet. „King Jesus Returns!“ steht auf den T-Shirts der Mädchen. Der Vater hat sie ihnen verpasst, als wolle er jeden Zweifel im Keim ersticken. Doch die beiden tragen sie widerwillig. Während die 17-jährige Elise ihre Ablehnung der elterlichen Werte offen zeigt, ist Jess hin- und hergerissen, möchte glauben, weiß aber nicht wie und auch nicht recht, wer an ihrem diffusen Seelenzustand schuld ist. Während sie fremde Menschen noch mit der offensiven Bekehrungsrhetorik ihres Vaters angeht, wird ihr selbst das erlernte Gottesbild zunehmend suspekt:

„Zum tausendsten Mal las ich: Gott schuf Adam und Eva perfekt, aber ER wollte keine stumpfsinnigen Roboter, also gab ER ihnen den freien Willen, und sie nutzten ihn, um ungehorsam zu sein. Das Ergebnis war, dass uns Gott, dieses Experiment absoluter Freiheit fortdauern ließ […], nur um uns zu demonstrieren, dass wir ihn brauchten. […] Die Logik kam mir lückenhaft vor.“

Auf ihrer Fahrt gen Weltende kämpft sich die Familie Tag für Tag durch die gleichen seelenlosen Tankraststätten, Motels, Softdrinks und Snacks. Jess jedoch ist mit Lebenstatsachen ganz anderer Größenordnung konfrontiert: Ihre Schwester Elise ist schwanger, von einer flüchtigen Affäre. Nur Jess ist eingeweiht.

Sie entdeckt weitere Risse im Familiengefüge: Der rigide Vater verbirgt seine Probleme mehr schlecht als recht hinter dem evangelikalen Brustton der Überzeugung. Die stets auf den „guten Ruf“ der Familie bedachte Mutter erträgt ihn passiv-mitleidig. Während vor den Autofenstern eine heruntergekommene texanische Plastikwelt an den Mädchen vorbeizieht, lässt sich das Drängen der sexuellen Neugier nur noch notdürftig mit klebriger Instant-Nahrung vertrösten.

Wie Mary Miller diese Konstellation literarisch in einen Roadtrip zwischen apokalyptischer Heilserwartung und familiärer Trostlosigkeit verwandelt und zugleich in eine berührende Coming-of-Age-Geschichte ihrer Heldin verwandelt, ist bemerkenswert. Die Einfühlung in die adoleszente Wahrnehmung und Lebenswelt ihrer Erzählerin ist dabei zweifellos die große Leistung ihres Romandebüts.

Jess zieht den Leser mit jeder Seite tiefer in die Geschichte: Diese kleine Person, beladen mit allen Zweifeln eines Teenagers, eingeklemmt zwischen Bibelvers, TV-Show, Kein-Sex-vor-der-Ehe-Party und SMS-Chat, ist auf ihre pubertierende, verunsicherte Mädchenart doch unbestechlich und ehrlich. Ohne Genie und auch ohne großes Selbstbewusstsein, aber zunehmend entschlossen, sich nicht auf das bigotte Niveau der Eltern stutzen zu lassen.

Mary Miller, 1977 in Texas geboren, aufgewachsen in ähnlichen Verhältnissen wie Jess, war in den USA bereits 2009 mit dem Short-Story-Band „Big World“ aufgefallen. Dass „Süßer König Jesus“ („The Last Days of California“ im englischen Original) die erste deutsche Übersetzung sei, wie der Klappentext behauptet, ist nicht ganz richtig. Die Literaturzeitschrift „Krachkultur“ präsentierte bereits drei ins Deutsche übertragene Erzählungen Millers.

Dort wie auch im aktuellen Buch schreibt Miller einen kraftvollen, schnörkellosen Stil, unverkennbar an US-amerikanischer Erzähltradition geschult. Figurenzeichnung und szenische Passagen beherrscht sie scheinbar mühelos und mit sparsamen Mitteln. Kritiker stellen bereits Vergleiche mit Autorengrößen wie Carson McCullers oder gar J. D. Salinger an – doch diese Messlatte ist zu hoch für die Debütantin. Miller hält ihren Text zwar phasenweise in einer subtilen Spannung zwischen jugendlich-übermütigem Abgedrehtsein und einer düsteren Vorahnung. Doch daneben stehen erzählerische Durststrecken, in denen die Autorin versucht, ihr Narrativ vorwiegend über industrielle Produkte und Markennamen aufzubauen. So etwas mag bei Bret Easton Ellis faszinieren, in „Süßer König Jesus“ gerät es eher monoton.

„Alles Leiden wird bald enden“ steht auf den bunten Errettungs-Flyern, die Jess’ Vater unters Volk bringt. Für Jess wird dieses Versprechen nicht gelten. Ihre Entjungferung vollzieht sich en passant im Motelbadezimmer. Sie nimmt es ernüchtert, aber nicht unglücklich zur Erkenntnis. Mit ihren Voraussetzungen, so ahnt man, könnte sie Demütigungen und Verletzungen nur um den Preis vermeiden, sich eingeschüchtert vom Leben abzuwenden. Vorerst hat sie dieser Realitätsflucht jedoch eine Absage erteilt: „Der Hauptunterschied zwischen Elise und mir war, dass ich log. Ich tat Dinge, die unsere Eltern nicht billigten, aber ich tat sie leise.“

Titelbild

Mary Miller: Süßer König Jesus.
Metrolit Verlag, Berlin 2013.
256 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783849303112

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