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Sebastian Schmideler zeigt das Mittelalter in der älteren Kinder- und Jugendliteratur

Von Marc-André KarpienskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc-André Karpienski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gewichtig und rot wie ein Ziegelstein liegt die Studie Sebastian Schmidelers vor einem. Auf 700 Seiten entrollt sich dem Leser das Panorama der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein Überblick über alle Inhalte und Darstellungsformen kann auch ein so langes Werk nicht geben, sodass der Schwerpunkt der Betrachtungen auf dem Mittelalter liegt.

In mehreren Kapiteln werden dabei unterschiedliche Zugänge gewählt, um ein breit gefächertes Spektrum an Erkenntnissen zu gewinnen. Zu Beginn stehen Personen des Mittelalters, die in der Kinder- und Jugendliteratur relevant sind. Hier seien als Beispiele Karl der Große, als fast schon mythisch überhöhter Kaiser, aber auch Johannes Gutenberg genannt. Im nächsten Schritt wird die Darstellung von Phänomenen untersucht, darunter das Rittertum und Fragen der regionalen Identität. In einem mit „Fokussierungen“ überschriebenen Kapitel wird dann anhand jeweils weniger Schriften der Blick für weitere Phänomene geöffnet. Zum Beispiel schaut Sebastian Schmideler in einem Abschnitt auf die Verwendung des Mittelalters in Balladen und Gedichten, oder widmet sich dem Spannungsverhältnis zwischen deutscher Geschichte und Weltgeschichte. Im letzten Kapitel werden Wandel und Konstanz bestimmter Charakteristika der Kinder- und Jugendliteratur dargestellt. Die sprachliche Ausgestaltung der Texte als Wanderung oder Entdeckung ist solch ein Element.

Das sehr umfangreiche Material und die verschiedenen Zugriffe darauf eröffnen einen sehr detailreichen Blick. Wer zu populären Mittelalterdarstellungen oder zur Jugendliteratur forscht, wird zu diesem Buch greifen. Einer Enzyklopädie gleich kann man immer wieder etwas Neues entdecken.

Sebastian Schmideler hat mit dieser Leipziger Dissertation wahrlich ein materialgesättigtes Werk abgeliefert, was sich auch darin ausdrückt, dass das Quellenverzeichnis mehr als 70 Seiten lang ist. Auch zwischendrin werden dem Leser immer wieder kürzere und längere Passage als Zitat geboten, sodass ein guter Nachvollzug der Argumentation gegeben ist. Wie von einer germanistischen Forschungsarbeit fast schon zu erwarten, bedient sich der Autor einer gehobenen Wissenschaftssprache. Manches Mal schießt er über das Ziel hinaus, wenn er dem Leser Sätze über acht Zeilen zumutet. Der Lesefluss wird so zumindest nicht gefördert.

Manche Wortwahl ist unglücklich, wenn zum Beispiel die Rede davon ist, dass die Kinder durch das besprochene Buch in den Grundlagen der Geschichtswissenschaft unterrichtet werden sollen. Aus dem Kontext kann man schließen, dass eher die Geschichte als die Methodik ihrer Erarbeitung gemeint ist. Später wird vom Heiligen Römischen Reich im Frühmittelalter gesprochen. In der gängigen Einteilung des Mittelalters spricht man erst im Hochmittelalter dem Reich diese Heiligung zu.

Das Buch hat aber auch inhaltliche Schwächen. So werden in der Einleitung (ökonomische, kulturelle und weitere) Forschungsfelder entfaltet, die für die Studie eine Rolle spielen. Die Analyse geschieht zwar entlang dieser Dimensionen, aber ein wenig mehr Präzision bei der Darstellung der (nicht-)betrachteten Elemente, wäre hilfreich gewesen. Es werden Erwartungen geschürt, die dann nicht eingelöst werden.

Die starke Konzentration auf die Kinder- und Jugendbücher lässt an einigen Stellen eine Perspektiverweiterung auf den Forschungsstand vermissen. So wird die Darstellung Heinrichs I. sorgsam herausgearbeitet und charakterisiert, aber dabei nicht auf die modernste Heinrich-Biografie von 2008, in der auch seine Rolle in der Geschichtskultur behandelt wird, verwiesen. Auch sonst fehlen historische Kontextualisierungen, die das am Beispiel der Kinder- und Jugendliteratur Erarbeitete einbetten in historische Entwicklungen. So kann man das Karlsbild zur Zeit des Nationalsozialismus detailliert verfolgen, aber eben nur anhand der Kinder- und Jugendbücher. Fundierte Verweise auf veränderte Sichtweisen in der Geschichtswissenschaft und Populärkultur unterbleiben und erschweren so die Einordnung der Erkenntnisse in einen größeren Rahmen.

Auch einzelne Aussagen hätten aus wissenschaftlicher Sicht einen Verweis auf weitere Forschungen vertragen können. Von einem untersuchten Buch heißt es beispielsweise, dass es „authentisch populäres zeitgenössisches Denken“ wiedergibt. Ob das stimmt, muss mangels Vergleichsbeispielen an dieser Stelle fraglich bleiben. An anderer Stelle sind verkürzte und plakative Vergleiche „einprägsamer für das kindliche Fassungsvermögen“ oder es wird von einer kindgerechten Darstellung gesprochen. Leider werden keine Beispiele aus der Entwicklungsforschung gebracht, um dies zu untermauern.

Etwas irritierend ist die Entscheidung, nach dem Text die Abbildungen zu präsentieren, dann das Literatur- und Quellenverzeichnis folgen zu lassen und an das Ende das Verzeichnis jener Abbildungen zu setzen. Zusammengefasst wäre es bedeutend übersichtlicher gewesen. Tatsächlich wären weitere Abbildungen zum Verständnis des Kapitels „Der visualisierende Diskurs“ empfehlenswert gewesen, statt nur der vorhandenen Beschreibungen.

Der Autor scheint kein Freund knapper Synthesen zu sein, denn viele Betrachtungen bleiben unverbunden nebeneinander stehen. Das kann sich aus der Differenz der in einem Kapitel gebündelten Informationen ergeben, aber trotzdem wären Zwischenzusammenfassungen leserfreundlich gewesen. Als eine Art Zusammenführung des Materials und der Forschungsergebnisse fungiert das 120 Seiten starke Schlusskapitel, sodass kein weitergehendes Fazit oder eine Zusammenfassung am Ende steht. Ein schneller Überblick über die Ergebnisse ist so nicht möglich.

Das Buch hat, wie aufgezeigt, ein paar kleinere und größere Schwächen, dennoch ist es ein fast schon unverzichtbares Nachschlagewerk, wenn man sich über die Darstellung des Mittelalters in der älteren Kinder- und Jugendliteratur informieren möchte.

Titelbild

Sebastian Schmideler: Vergegenwärtigte Vergangenheit. Geschichtsbilder des Mittelalters in der Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
807 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783826046759

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