Die Dinge preisen, weil es sie gibt

Über einen Band mit ausgewählten Gedichten von Czeslaw Milosz

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im kommenden August wird man in Polen und überall da, wo man die Poesie liebt, den zehnten Todestag von Czesław Miłosz begehen. Der Schriftsteller und Dichter mit Jahrgang 1911 war Zeuge eines langen und ereignisreichen Jahrhunderts. Geboren im kleinen litauischen Flecken Šeteniai (polnisch: Szetejnie) – damals zu Russland gehörig –, hat Miłosz die Verwerfungen und Umbrüche des 20. Jahrhunderts aus nächster Nähe miterlebt. Seine „kleine Heimat” sollte sich im Verlauf der Jahrzehnte mehrere Male in einem anderen Land wiederfinden: nach dem Zarenreich in Polen, später in der Sowjetunion, schließlich im unabhängigen Litauen, dessen Beitritt zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 Miłosz gerade noch miterleben konnte. Nach einem Studium in Wilna war Miłosz während dem Zweiten Weltkrieg im von Deutschland besetzten Warschau im Untergrund aktiv; später stand er für einige Jahre im diplomatischen Dienst der Volksrepublik Polen, bis er sich 1951 nach Frankreich absetzte und dort politisches Asyl erhielt. Seit 1960 unterrichtete er in Berkeley, Kalifornien, slawische Literaturen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hielt er sich öfter in Polen auf, bis er im Jahr 2000 in Krakau Wohnsitz nahm. – In diesen knappen biografischen Angaben lassen sich die Themen bereits erahnen, die Miłosz’ literarisches Werk prägten, vielleicht sogar prägen mussten. Es sind dies neben anderen der Verlust der Heimat und die Erfahrung des Exils sowie die damit verbundene Frage nach der eigenen Zugehörigkeit, die sich der – im Übrigen fast auschließlich polnische schreibende – Dichter immer wieder stellte; dann der Krieg, der Holocaust und die Frage nach der Schuld, schließlich aber auch der Widerstreit der großen Ideologien während des Kalten Kriegs zwischen Ost und West.

Miłosz’ Werk ist auch im Hinblick auf die Gattungen vielgestaltig: Neben Gedichten umfasst es Romane, Erinnerungen und Essays (darunter beispielsweise über Wilna und Amerika), aber auch Analysen des Totalitarismus. Wir verdanken ihm überdies eine auch ins Deutsche übersetzte Geschichte der polnischen Literatur (1969) mit unverkennbar persönlichen Zügen, die er zwar seinerzeit an ein amerikanisches Publikum richtete, die aber seit 1993 auch in Polen mit großem Interesse rezipiert wurde – vor kurzem wurde sie auf Deutsch neu aufgelegt. Miłosz’ Lebenswerk wurde 1980 mit dem Nobelpreis für Literatur gewürdigt.

Adam Zagajewski hat nun für die Edition Akzente beim Carl Hanser Verlag eine Auswahl aus Miłosz’ dichterischem Werk vorgenommen und in einem kurzen Nachwort kommentiert. Obschon er selber eine Generation jünger ist, teilt Zagajewski (*1945) doch zumindest zwei wichtige Urerfahrungen mit Miłosz: nämlich den Verlust der ursprünglichen Heimat – Zagajewskis Familie musste kurz nach seiner Geburt aus dem nunmehr sowjetischen gewordenen Lemberg fliehen –, sowie später das Exil, das Zagajewski Anfang der 1980er Jahre ebenfalls nach Frankreich und in die USA führte.

Zagajewskis Auswahl aus Czesław Miłosz’ Werk hält sich im Großen und Ganzen an ein chronologisches Prinzip, wobei es freilich lohnen könnte, den Gründen für die kleinen Abweichungen bei der zeitlichen Anordnung der Gedichte nachzugehen. Doch letztlich scheint dies eher nebensächlich zu sein. Die knapp 80 im Band versammelten Gedichte verraten immerhin Zagajewskis deutliches Bemühen, ein möglichst repräsentatives Bild von Miłosz’ dichterischem Schaffen zu vermitteln. Dass dabei mancher Berührungspunkt mit Zagajewskis eigenen literarischen Vorlieben und Themen entsteht, überrascht wohl nicht – auch hier wäre es gewiss reizvoll, solche Querbezüge im Detail aufzuspüren.

Miłosz’ Lyrik orientiert sich an einem Prosastil, in dem sich deskriptive Passagen mit kontemplativen und philosophischen Elementen abwechseln. Seine mitunter sehr langen Verszeilen mögen dabei ins Auge fallen. Bei all dem bleibt Miłosz’ Sprache doch meist transparent, klar und einfach. Reime und sprachliche Assonanzen finden sich in den frühen Gedichten noch häufiger – hier erkennt man denn auch die literarischen und formalen Traditionen, in denen Miłosz’ Schaffen wurzelt. In seinen Gedichten tritt meist ein lyrisches Ich in Erscheinung, das natürlich vom Autor zu unterscheiden ist, das aber gleichwohl näher an letzerem zu verorten ist, als dies bei manch anderem Dichter der Fall ist. Eigentliche Rollenpoesie ist bei Miłosz dagegen seltener anzutreffen. Bisweilen tritt in den Gedichten auch ein „Er“ auf; dabei scheint es, als wolle der Dichter eine gewisse, distanzierte Ironie zum Ausdruck bringen. So betreibt Miłosz etwa im Gedicht „Einklang“ über die Rolle des Dichters eine Art Verteidigung der Poesie und des Poeten, deren leicht ironischer Unterton aber dann gleichwohl wieder auf Miłosz selbst zurück verweist.

Wendet man sich dem Inhalt von Miłosz’ Gedichten zu, so lassen sich ein paar wichtige Themenkomplexe hervorheben: Neben dem Handwerk des Schreibens selbst sind dies beispielsweise die Geschichte, und zwar im Großen wie im Kleinen, sodann die Erfahrung des Exils und der Diskurs über die Heimat, im Weiteren die Vergänglichkeit des irdischen Lebens sowie die Erinnerung und schließlich die uns umgebende Wirklichkeit samt ihrer sinnlichen Seite.

Czesław Miłosz zeigt ein ausgesprochenes Interesse für das Verhältnis zwischen der Wirklichkeit und dem Geschriebenen. Immer wieder befragt er sein Metier; er versucht zu ergründen, was die Literatur bezweckt und ob sie ihrer Aufgabe zu genügen vermag. Dabei äußert Miłosz durchaus auch Zweifel an der „Berufung“ des Dichters. Das Schreiben wird manchmal als Auftrag und Gabe empfunden, kann mitunter aber auch als Qual aufgefasst werden. Um solchen Fragen nachzugehen, horcht Miłosz auch die literarische Tradition und das Werk seiner Zeitgenossen ab: In Übereinstimmung oder in Polemik damit versucht er, seine eigene Position zu schärfen. Auch auf philosophische Traditionen greift er zurück („Was habe ich von Jeanne Hersch gelernt?“). In diesem Sinn muss man wohl annehmen, dass Miłosz’ „Ars poetica“ letztlich über sein ganzes lyrisches Werk hinweg verstreut ist. Sie muss demnach in ihrer Summe – und auch mit den ihr innewohnenden Widersprüchen – durch den Leser überhaupt erst konstituiert werden. Zu den schönsten poetologischen Gedichten zählen zweifellos „Mittelbergheim“ (1951), das ganz von Optimismus angesichts der verliehenen dichterischen Gabe erfüllt ist, sowie Miłosz’ wunderbare neue Version von „Orpheus und Eurydike“.

Oft drehen sich Miłosz’ Gedichte um die Erfahrungen, welche die Geschichte den Menschen bereithält. Dabei geht es ebenso um die abstrakten, allgemeinen Zeitläufte wie auch um deren Auswirkungen auf das konkrete Leben des je einzelnen Menschen. In den Wolken scheint Miłosz eine Metapher für das gleichgültige Vergehen der Zeit gefunden zu haben. Denn mitunter geht die Geschichte weiter, als sei nichts geschehen: Im berühmten Gedicht „Campo di Fiori“ (1943) zeigt sich das lyrische Ich verstört darüber, dass auf dem Platz Campo de’ Fiori in Rom nach der Hinrichtung von Giordano Bruno als Ketzer das alltägliche Marktreiben sofort wieder aufgenommen wird. Gleich darauf wechselt das lyrische Ich Ort und Jahrhundert und berichtet vom Warschau unter deutscher Okkupation: Während im Ghetto Schüsse fallen, vergnügen sich die Warschauer auf dem Karussell und bei lustigen Liedern. Der Dichter legt daher in Miłosz’ Verständnis immer auch Zeugnis über sein Jahrhundert ab – über den Krieg, den Holocaust oder das Exil.

Immer wieder, ganz besonders aber im Spätwerk, evoziert Miłosz seine litauische Heimat. In intensiven Darstellungen der Landschaft und ihrer Menschen beschwört er sie herauf. Dabei wird der Kindheitsort bisweilen dem späteren Wohn- und Lebensort Kalifornien gegenübergestellt. Auch wenn Amerika immer der Ort des Exils bleibt, versucht Miłosz in ihm doch auch so etwas wie eine neue Heimat zu sehen. Eine eigenes Kapitel hätten wohl die Flüsse verdient, die Miłosz in seinen Gedichten immer wieder anruft: „Ich segne euch, ihr Flüsse, ich spreche eure Namen aus, so wie meine Mutter es tat, respektvoll und zärtlich“. Die „geographische“ Thematik in Miłosz’ Gedichten bleibt allerdings nicht beim Gegensatz Heimat versus Exil stehen; sie wird in jenen zahlreichen Gedichten durchbrochen und erweitert, in denen das lyrische Ich seine Reisen schildert: Guadeloupe, die Schweiz, Capri oder Paris bieten zusätzlich Anlass, um über den Ort des Menschen in der Welt zu reflektieren.

Manche Gedichte handeln von der Vergänglichkeit der Welt und der Endlichkeit des Menschen. Miłosz’ fragt danach, was bleibt, was überdauert, und er tritt in einen Dialog mit den toten Freunden, den Opfern des Kriegs, den ermordeten Juden. Dass hier auch eine metaphysische Dimension ins Spiel kommt, überrauscht kaum, denn Miłosz verstand sich zeitlebens als gläubigen Katholiken. Mit zunehmenden Alter treten die Erinnerungen noch deutlicher in den Vordergrund. Das lyrische Ich blickt zurück und sinnt über die Frage nach, ob es richtig gelebt habe. Das kontemplative Moment in Miłosz’ Gedichten verstärkt sich, auch wenn die Vergänglichkeit bei Miłosz natürlich schon sehr früh ein Thema gewesen ist – sicherlich auch bedingt durch die Erfahrung des Kriegs. Im frühen „Lied vom Weltende“ (1943) verlagert Miłosz den Weltuntergang gewissermaßen ins Kleine, in den Alltag hinein, wenn er postuliert, jeder einzelne Augenblick sei im Grunde genommen das Weltende:

Am Tag des Weltendes
Summt um die Kapuzinerkresse eine Biene,
Flickt der Fischer das glitzernde Netz,
Springen im Meer die lustigen Delphine,
Junge Spelinge krallen sich an der Rinne fest,
Und die Haut der Schlange ist golden, wie sich das gehört.
[…]

Nur der grauhaarige Greis, der ein Prophet sein könnte,
Doch er ist keiner, denn er hat anderes zu tun,
Sagt beim Anbinden der Tomaten:
Es gibt kein anderes Ende,
Es gibt kein anderes Ende.“

Trotz der Vergänglichkeit allen Seins, und dies besonders auch im Alter, vergisst Czesław Miłosz die ihn umgebende Wirklichkeit nicht, die sichtbare Welt mit ihren sinnlichen Zügen („Capri“). Das Vermögen, zu staunen, sich dem Moment hinzugeben, bleibt dem Dichter erhalten – ja, es scheint sich mit der Zeit noch zu akzentuieren. Das lyrische Ich in diesen Gedichten anerkennt die Wirklichkeit, es nimmt den „Realismus“ der Welt an. Gerade die Endlichkeit der Dinge und der Menschen macht diese für den Dichter eigentlich erst ewig. Spätestens hier wird dann verständlich, wozu sich Czesław Miłosz berufen fühlt: nämlich „die Dinge zu preisen, weil es sie gibt.“

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Czeslaw Milosz: Gedichte. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Adam Zagajewski.
Übersetzt aus dem Polnischenvon Doreen Daume, Karl Dedecius, Gerhard Gnauck und Christian Heidrich.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
175 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241817

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