Weltprovinz Bamberg

Über Thomas Krafts autobiografischen Roman „Alles Tarnung“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte kennt wohl jeder: Da war man mit jemandem in seiner Kindheit oder Jugend eng befreundet. Konnte sich nie vorstellen, dass diese Freundschaft jemals enden würde. Und irgendwann verlor man sich dann doch aus den Augen. Heutzutage findet man sich dann vielleicht irgendwann über Stayfriends oder Facebook wieder. Oder auch nicht.

In Thomas Krafts Roman „Alles Tarnung“, dem ersten des Literaturvermittlers, Herausgebers und Veranstalters, sucht Protagonist Robert Tehling seinen alten Freund Little. Ein Lehrauftrag beschert dem freien Publizisten und Familienvater ein paar Tage in seiner Heimatstadt – Tage, in denen Tehling praktisch unentwegt durch die Straßen und Gassen dieser Stadt streift, die Gedächtnisorte seiner Kindheit und Jugend aufsucht und seinen Erinnerungen nachhängt oder mit alten Bekannten und einigen Zufallsbegegnungen Gespräche führt: über Little und über die Stadt. Vor allem über die Stadt. Womit die Handlung des Romans im Grunde schon umrissen ist.

Der Name dieser kleinen, geschichtsträchtigen Universitätsstadt wird zwar nie genannt, doch unzählige Details verraten, dass es sich dabei um Bamberg handelt, die Geburtsstadt des Autors. „Alles Tarnung“ ist, daraus macht Kraft, Jahrgang 1959, kein Geheimnis, ein „autobiografischer Roman“, trotz diverser Verfremdungen und einigen Ausflügen ins Fantastische. So gibt es für „Little“ ein reales Vorbild, den Gitarristen Waldemar Karmann, doch soll dessen Biografie mit der des fiktiven Littles wenig gemein haben.

Letzterer, der Roman-Little, war von Kindheit an ein Nonkonformist und „Anarchoclown“. Anders als der etwas angepasstere Tehling ging Little vorzeitig vom Gymnasium ab, kam später über seine ältere Schwester mit den Protagonisten von Studentenbewegung und RAF in Berührung und verstrickte sich noch später – wovon der Protagonist aber nur noch gerüchteweise weiß – in Anlagebetrügereien. Bei einem zufälligen Wiedersehen zehn Jahre zuvor auf dem Bamberger Spezi-Keller (für Nicht-Bamberger Leser: in einem Biergarten namens „Spezial“) hat Little einen recht heruntergekommenen, auch gesundheitlich angeschlagenen Eindruck gemacht. Seitdem plagt Robert Tehling das schlechte Gewissen: „Eines Tages, so hatte sich Robert geschworen, werde er ihn ausfindig machen, auch wenn er ihn im Gefängnis, in der Psychiatrie oder auf dem Friedhof aufspüren würde.“

Welche Bedeutung Schauplätze für literarische Werke haben, weiß man nicht erst seit Barbara Piattis Grundlagenstudie „Die Geographie der Literatur“ (2008): Zwischen bloßer, letztlich austauschbarer Kulisse, die nach dem Ready-made-Verfahren mit Hilfe von Toponymen abgerufen wird, und einem Schauplatz, der wie ein zusätzlicher Protagonist in die Handlung eingreift, besteht ein weites Spektrum. Krafts Roman gehört tendenziell ans zweite Ende des Spektrums – will jedoch zugleich über seinen besonderen Schauplatz hinausweisen und die Lebenswege einer ganzen Generation auf den Prüfstand stellen, der Generation, die in den Siebzigern ihre meist Politik-, Musik- und Umwelt-bewegte Jugend erlebte.

Was aber nicht gelingt. Genau genommen weist der Roman noch nicht einmal über seine Zeit hinaus und verschenkt somit sein fraglos vorhandenes Potenzial. Der auf immer neue nostalgische Spaziergänge durch Bamberg mitgenommene Leser fühlt sich von den ständigen Rückverweisen auf die Vergangenheit, dem permanenten impliziten „Weißt du noch?“-Modus, zunehmend genervt, ja ausgeschlossen: An den zwei, drei Tagen, an denen Robert Tehling sein Blockseminar hält, wird von ihm alles abgeklappert und erinnert, was seine Biografie und was Bamberg zu bieten hat: Von Tehlings einstigen Spielplätzen unter den Wäschestangen-Wiesen in Bamberg-Ost mit seinen Genossenschaftsbunkern der Kant- und Hegelstraße über das Dientzenhofer-Gymnasium, auf dessen Pausenhof er sich mit zwei seiner ehemaligen Lehrer unterhält, bis zum Gelände des Buger Schwimmvereins, auf dem einst Fußballschlachten stattfanden und wo er einst vom Tod seines Vaters erfuhr.

Keine Kneipe, die auf seinen Wegen nicht längst verblichene Erinnerungen wachruft, sei es die Künstlerkneipe Pizzini, der Torschuster oder die Drehorgel; keine Straße – Sandstraße!, Eisgrube!, Austraße! –, keine Buchhandlung (Collibri!), kein Kino (Luitpoldsäle!). Auch laufen dem Protagonisten fortwährend Bamberger Originale über den Weg wie der „Zinser“, der legendäre Gastwirt des Stöhrenkellers, und nahezu sämtliche Künstlergrößen, die in dieser Stadt einmal gelebt haben, und sei es auch nur vorübergehend. Und die nun alle ihre Ansichten über diese Stadt und das Leben in ihr ausbreiten. „Die Stadt hat ein Janus-Gesicht“, lässt Kraft etwa Hans Wollschläger verkünden. „Hier fristen viele ihr Dasein im Bierdunst und im Weihrauch und kommen irgendwie über die Runden. Eine Weltprovinz, wenn Sie so wollen, aus toten Glocken geläutet.“

Dabei verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart – literarisch das Reizvollste an diesem im Übrigen wenig anspruchsvoll erzählten Roman, sind doch die meisten dieser Gestalten wie auch Wollschläger längst verstorben. Kraft montiert die Dialoge größtenteils gekonnt aus Zitaten: von dem Künstler Mike Rose, von Hegel, der hier einst als Chefredakteur der „Bamberger Zeitung“ nebenbei an seiner „Phänomenologie des Geistes“ schrieb, von Ludwig Feuerbach oder, natürlich, von E.T.A. Hoffmann.

Unter denen, die Tehling über den Weg laufen, finden sich aber auch so illustre Gestalten wie „Fritz und Dieter“. Tatsächlich hatten auch Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann in der Realität ihre denkwürdigen Auftritte in Bamberg: beim „Knastcamp“ im nahe gelegenen Ebrach 1969, ein von den Beteiligten später zum fränkischen Woodstock verklärtes Happening zur Unterstützung des dort inhaftierten APO-Aktivisten Reinhard Wetter. In Krafts Roman sind die beiden in Bamberg untergetaucht, wofür sich gerade diese Stadt glänzend eigne, wie Tehling von den beiden alt gewordenen Revoluzzern erfährt. Mit Krafts Protagonisten trinken sie gegen Ende fröhlich ihr Bierchen im Mahrsbräu und erinnern sich gern an Little, seinerzeit „einer unserer Nachwuchskräfte“ – alles sehr romantisch-nostalgisch und weit, weit entfernt von Fragen wie etwa der, was Dieter Kunzelmann mit dem Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin am 9. November 1969 zu tun hatte.

Das alles ist für den, der dieser Generation entstammt und seine Jugend in dieser Stadt verbrachte, gewiss reizvoll zu lesen. Und vielleicht auch für eingefleischte Literaturtouristen, die anhand von Krafts Roman Bamberg entdecken wollen und dabei nebenbei auch noch von einigen Tipps des Protagonisten profitieren können, etwa wo man in dieser Stadt den besten Käsekuchen, die beste Pizza oder den besten Cappuccino bekommt. Aber schon für den, der – wie der Rezensent – zwar die Orte teilt, sogar eine Kindheit im tristen Bamberg-Ost, nicht aber die Zeit beziehungsweise Krafts Generation, wird es schwer. „Den Freunden“ ist Krafts Roman gewidmet – das Motto sollte man ernstnehmen.

Titelbild

Thomas Kraft: Alles Tarnung.
Maro Verlag, Augsburg 2013.
224 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783875122992

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