Deutsche Treue, deutsche Helden, deutsche Feste

Klaus Schuhmann dokumentiert das Gedenkjahr 1913 am Beispiel Leipzig

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1913, das letzte Friedensjahr vor dem Großen Krieg, war ein ausgesprochenes Jubeljahr. Die Deutschen oder doch zumindest diejenigen, die sich dem offiziellen Deutschland zugehörig fühlten, feierten wie üblich Kaisers Geburtstag und den Sedanstag, diesmal jedoch angereichert durch das 25-jährige Thronjubiläum Wilhelms II., berauschten sich an der einhundertsten Wiederkehr der Völkerschlacht von Leipzig, die im Oktober 1813 die Götterdämmerung der napoleonischen Herrschaft in und über Europa eingeläutet hatte, gedachten ehrfürchtig des hundertsten Geburtstags von Richard Wagner, dem Heros der deutschen Opernwelt. Denkmäler wurden eingeweiht, Grundsteine gelegt, Festschriften veröffentlicht. Dickleibige Sammelbände würdigten das Deutsche Reich als Inbegriff von Prosperität, Stabilität und technologischen Fortschritt, Scharen von Skribenten verneigten sich vor der Dynastie der Hohenzollern, in der sie Symbol und Garantin deutscher Weltgeltung zu erkennen glaubten. Der Mathematiker Karl Düsing, ein Mann aus der zweiten und dritten Reihe deutscher Geistesarbeiter, verbreitete sich 1913 aus gegebenen Anlaß über „Patriotismus und Erziehung“, plädierte für eine energische Politik der Germanisierung im Osten, nannte Polen und Franzosen „unversöhnliche Feinde“, sprach von „Verschlagenheit des Ostens“ und „Falschheit des Westens“.

Hinter solchen Worten steckte die Überzeugung, dass die Deutschen von Natur und Charakter berufen seien, im Konzert der Völker eine herausragende Rolle zu spielen. Dergleichen Stimmen, beheimatet in den bürgerlich nationalen Milieus, lassen ahnen, wie brüchig damals der Friede schon war. Der Leipziger Germanist Klaus Schuhmann hat etliche solcher Zeugnisse, darunter das oben zitierte, zusammengetragen, angelegt als Collage oder, wie er es nennt, als „dokumentarisches Memorial“, um Licht zu werfen auf die geistige Situation der Stadt Leipzig am Vorabend des Krieges. Die abgedruckten Texte sind unterschiedlichen Genres und Zusammenhängen entnommen. Zu lesen sind Gedichte, Auszüge aus Bühnenstücken, Glossen, Kritiken, Essays und Berichte. Nicht alle stammen aus dem Jahr 1913, manche sind früher, manche später erschienen. Wenn der Herausgeber aus Werkausgaben oder Anthologien schöpft, fehlen Datum und Ort der ursprünglichen Publikation, bei den Illustrationen, bei den Karikaturen aus dem „Simplizissimus“ etwa, fehlen solche Angaben völlig, die Kriterien der Auswahl bleiben dunkel, was den Gebrauchswert für diejenigen einschränkt, die nicht nur blättern, sondern mit dem Buch auch arbeiten wollen. Die versammelten Texte gruppieren sich, grob gesprochen, um zwei Eckpfeiler. Der eine steht für Kultur, für Literatur und Theater, der andere für die Inszenierung von eher profanen Feierlichkeiten und den darin aufscheinenden Wilhelminischen Wortbombast. Zwar nicht ausdrücklich auf Leipzig gemünzt, aber für den Geist und den Habitus der Epoche repräsentativ ist die im Schlusskapitel wiedergegebene Einleitung, die der Mediziner David Sarason einer Sammlung von Beiträgen über das „Jahr 1913“ vorangestellt hat. Sie vermittelt auf knappem Raum einen Eindruck von den damals zu beobachtenden Zwiespältigkeiten, in denen sich zukunftsfrohe Gewissheit mit Zeitklage, Besorgnis und zivilisationskritischen Anwandlungen paarte. Die Gegenwart, heißt es da, sei ebenso anregend wie erregend: „überreich an Kulturwerten“, aber „erschreckend arm an Kulturhöhe“. Katastrophen überlagerten sich fortwährend mit „Großtaten in Wissenschaft und Technik“, deren fundamentale Bedeutung aus Mangel an Unterscheidungs- und Urteilsvermögen jedoch zunehmend weniger gewürdigt werde. Kaum ein Ereignis, kaum eine Tat überdauere den Tag: „Das heute noch Überraschendste ist morgen schon durch Banalitäten verdrängt und vergessen. Ewigkeitswerte weichen der Sensation des Tages, und das Epochale sinkt zum Ephemeren herab!“

Ein Leuchtturm in der Stadt war der Kurt Wolff Verlag, der nach der Trennung von Ernst Rowohlt im Februar 1913 ins Handelsregister eingetragen wurde. Er gewann junge, aufstrebende Autoren, darunter Franz Kafka, später auch Heinrich Mann, bediente sich wirksamer Methoden der Werbung, etablierte mit dem „Jüngsten Tag“ eine erfolgreiche Reihe und avancierte rasch zu einem der führenden Repräsentanten der literarischen Moderne. Wolff war befreundet mit Kurt Pinthus, der ihn beriet und für ihn lektorierte, aber auch selbst publizierte. Von seinen Produktionen erlangte das „Kinobuch“ von 1914 einige Berühmtheit. Aus dem kulturellen Leben in Leipzig berichtete er für das linksliberale „Berliner Tageblatt“. Als er im Sommer 1913 über das dort veranstaltete 12. Deutsche Turnfest schrieb, durchaus angetan und das Ereignis rühmend, aber doch ein paar spöttische Bemerkungen einstreuend, empörten sich die Sportsfreunde über mangelnden Respekt. Der Artikel sei „schamlos“, ereiferte sich die Führung der „Deutschen Turnerschaft“, stamme von einem Mann, der „bar“ jeder „vaterländischen Gesinnung“ sei. Blätter und Blättchen von rechts fielen ein in den Chor der Entrüsteten, die ortsansässigen Gastwirte verbaten sich die „Verächtlichmachung der Stadt und der gesamten Leipziger Bürgerschaft“. Für Erich Mühsam, der dies mit spitzer Feder glossierte, waren dergleichen Töne ein Beispiel für die Agitation „patriotischer Kampfhähne“, die immer dann in die Arena stürmten, wenn sie die „heiligen deutschen Empfindungen“ bedroht oder gar verletzt wähnten.

In Fällen wie diesen brach sich der gewöhnliche Nationalismus im Juste Milieu der Wilhelminischen Gesellschaft Bahn. Schärfere Töne schlug der Publizist und Antisemit Heinrich Pudor an, der am 18. Oktober 1913, als das Völkerschlachtdenkmal eingeweiht wurde, in einer eigens aus diesem Anlass konzipierten Fest-Zeitung einen Ressentiment geladenen, mit Polemik gespickten „Aufruf“ veröffentlichte. Darin diente der Krieg gegen das napoleonische Frankreich als positives Gegenbild zu einer negativ gedeuteten Gegenwart: damals heroisches Selbstopfer für „die Sache des Vaterlandes“, heute nichts als Egoismus. Nach einer langen Epoche des Friedens sei den Leuten das Verständnis für „sittliche“ Großtaten abhanden gekommen. 1913 lasse sich daher mit 1813 nicht vergleichen. Pudor machte dafür eine den „Volkskörper zersetzende“ Gesinnung verantwortlich. Unschwer zu erraten, wer damit gemeint war: 1813 habe man die „französische Fremdherrschaft abgeschüttelt“, 1913 sei der „Thron von Juden umstellt“. Die Deutschen, bedauerte der Autor, hätten sich gut eingerichtet in der „Judenknechtschaft“, würden die „Lebensgefahr“, die „in der Existenz des Judentums“ liege, nicht erkennen. Erst wenn hier Remedur geschaffen sei, werde man das rühmliche, 1813 begonnene „Werk der Befreiung“ vollenden können.

Nicht alle dachten so, gewiss. Noch hatte der Antisemitismus die Gesellschaft nicht durchdrungen, aber er war vorhanden, hatte sich ausgebreitet, war vermengt mit Abneigungen, Neid- und Fremdheitsgefühlen, die mit unterschiedlicher Tiefe in der Bevölkerung verankert waren. Jakob Wassermann sollte später von „sprachlosem Haß“ sprechen, der ihm als deutschem Juden während seines Militärdienstes entgegengeschlagen war. Die von Schuhmann zusammengestellten Texte lassen ahnen, wie schwach die Abwehrkräfte gegen die Fantasmen der Antisemiten waren: in einer Umwelt, die sich in Militärfrommheit und Uniformseligkeit gefiel, Juden jedoch nicht Offiziere werden ließ, in einer Zeit, in der ein Mann wie Heinrich Claß, der Vorsitzende des „Alldeutschen Verbandes“, den Krieg „heilig wie das läuternde Schicksal“ nannte, in einem kulturellen Umfeld, in dem sich eher biedere Gemüter nicht scheuten, die Grundsteinlegung für die Deutsche Bücherei in Leipzig zum „Ehrendenkmal deutscher Geistesarbeit“ zu erheben – ein, wie die Jubelredner und Jubelautoren in hochgestimmten Wendungen fabulierten, „kostbares Vermächtnis von unversieglicher Lebenskraft“, ja, ein „stolzes Zeugnis der geistigen Einheit Großdeutschlands“.

Titelbild

Klaus Schuhmann (Hg.): Literaten kontra Patrioten. Das kulturelle Leipzig im Gedenkjahr 1913. Ein dokumentarisches Memorial.
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2013.
393 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783865837554

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