Ungefährliche Liebschaft?

Thomas Klugkist debütiert mit einem Briefroman

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Klugkist ist in der Germanistik als Experte für Thomas Mann bekannt, hat sich aber auch als Wirtschaftsredakteur beim Rundfunk bewährt. Von dieser Erfahrung profitiert Klugkists Debütroman insofern, als sich sein Protagonist Sebastian immer wieder auch mit der krisenhaften Entwicklung der Finanzmärkte nach der Jahrtausendwende auseinandersetzt. Prägend für Sebastians Charakter ist der Niedergang seiner reichen Familie, die sich durch das Platzen der Dotcom-Blase um ihr Vermögen geprellt sieht. Der erste Teil des Romans umfasst die Zeit vom Sommer des Jahres 2000 bis zum 9. 9. 2001 und enthält den Briefwechsel zwischen den Titelfiguren Hanna und Sebastian. Im zweiten und dritten Teil des Romans sind die beiden umgestiegen auf eine Email-Korrespondenz, die sie im Sommer 2006 aufnehmen und bis zum Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 fortsetzen. Im Epilog, der die Jahre 2009/10 abdeckt, verabschiedet sich Sebastian krankheitsbedingt. Klugkists Roman ist so auch die Anamnese seiner Leidensgeschichte.

Das Cover zeigt Porträtfotos von Hanna und Sebastian. In der unteren Hälfte ist die Silhouette Hannas zu sehen, eine Frau mit materialistischer Bodenhaftung. Darüber der Schattenriss von Sebastian, der auf den Kopf gestellt ist, als hätte ihn eine Camera obscura aus Hannas Kopf projiziert. Schon das Titelbild weist so auf seine Tendenz zur abgehobenen Vergeistigung hin. Der discours amoureux, der sich zwischen diesen Polen entfaltet, fällt ins Genre der hohen Literatur. Die Liebschaft von Hanna und Sebastian bleibt virtuell, empfindsam zwar, doch auf Affektkontrolle bedacht, was sie aber nicht ungefährlich macht.

Parallel-Karrieren zwischen Forum Romanum und Akropolis

Sebastian und Hanna sind Anfang der 1970er-Jahre geboren und haben gemeinsam das bayrische Abitur bestanden. Bevor sie dann getrennte Wege gegangen sind, haben sie ausgemacht, sich zehn Jahre später in Rom zu treffen. Anstatt dort im Jahr 2000 miteinander zu schlafen, besichtigen sie das Forum und das Pantheon. Hier setzt die Basiserzählung ein, und die nächsten zehn Jahre lang schreiben sich Hanna und Sebastian, anfangs mit dem Kugelschreiber, dann fünf Jahre lang gar nicht, dann per Email, und gelegentlich schicken sie sich auch eine SMS. Ihre nächste Begegnung ist für das Jahr 2010 auf der Akropolis in Athen vorgesehen. Die Möglichkeit eines Treffens zwischendurch diskutieren sie zwar, aber will der eine, kann die andere nicht, und umgekehrt. Mehr als die Nähe per Telefon können die beiden einander letztlich nicht zugestehen. Es ist vor allem Sebastian, der eine Begegnung mit Hanna immer wieder aufschiebt. Am Ende erhält sie keine Antwort mehr auf ihre Mails und reist auf den bloßen Verdacht hin nach Athen, um dort ihren Seelenverwandten noch einmal zu treffen.

Der Briefroman entfaltet die Parallel-Karrieren von Sebastian und Hanna, über die sie sich wechselseitig auf dem Laufenden halten. Die studierte Medizinerin, die zunächst in der Pathologie einer Münchner Klinik arbeitet, absolviert in Hamburg eine Zusatzausbildung als Gynäkologin. Sie kündigt ihren Krankenhausjob und investiert in ein Ärztinnenhaus. Sebastian dagegen ist Historiker geworden, der als Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin zu promovieren versucht. Aus der Prekariats-Falle rettet ihn der Programmchef eines Radiosenders, der ihn für zweitausend Mark pro wöchentlicher Sendung anwirbt. Nach seinem Absprung beim Radio lebt Sebastian von den Spenden und Werbeeinnahmen seiner Internet-Plattform bottomupp. Der Name des Projekts ist Programm, es soll die Theorien liefern, um das Leben der Nutzer umzukrempeln.

Unter Geständniszwang

Hanna und Sebastian kultivieren ihren bürgerlichen „Gefühlsreichtum“ in der Tradition Varnhagens und Kleists. Doch erliegen sie dabei dem in ihrem Briefwechsel angelegten Zwang, einander das Intimste zu gestehen. Sebastian erfährt, dass Hanna als Jugendliche von einem Kunstprofessor sexuell missbraucht worden ist. Ihre Beziehung zu einem Zivildienstleistenden bricht sie ab, indem sie diesen über ihr neues Verhältnis mit dem Betreiber einer „Business-Plattform“ aufklärt. Daraufhin erhängt sich der Verlassene mit einem Telefonkabel. Er war es, der Hanna zur Kleist-Lektüre inspiriert hat. Ihre Faszination für Penthesilea weist voraus auf ihr Verhältnis mit einem masochistischen Künstler. Ihn rangiert sie mit einer gekonnten Inszenierung im „Sado-Maso-Laden“ aus. Sie kettet ihn an und übergibt ihn mitsamt ihrer Gerte einer anderen Domina. Wenn kein Mann da ist, masturbiert sie oder experimentiert mit einer lesbischen Beziehung. Hanna ist eine gefährlich heiße Braut, die besser geschwiegen hätte, um den Kleist-Leser Sebastian nicht unnötig abzuschrecken.

Dieser zeugt indes einen Sohn, in einer festen Beziehung mit seiner Kommilitonin Sibylle, die im Zweifelsfall für ihn Priorität genießt: „Ich kann sie lieben“, schreibt er an Hanna, „und ich kann gleichzeitig dich lieben“. Sibylle aber könne er „nichts wegnehmen“ und Hanna „keine Hoffnung“ machen. Dann wird Sibylle erneut schwanger und erkrankt zugleich an Gebärmutterhalskrebs. Bevor sie daran stirbt, erdrosselt sich der Embryo in ihrem Bauch mit seiner Nabelschnur. Im Roman begegnet Sebastian Sibylle noch einmal in einer romantischen, spiritistischen Sitzung. Der Augenblick scheint günstig zu sein, sowohl Hanna als auch Sebastian wären jetzt frei füreinander. Doch dieser lässt sich auf Nachfrage zu dem Geständnis hinreißen, dass er mit seiner Ex-Kollegin Gesa geschlafen habe. Hanna fällt aus der bürgerlichen Rolle: „Fuck“. Die Einsicht, dass sie „das nicht wissen wollte“, kommt zu spät. Danach ist anderthalb Jahre Funkstille zwischen den beiden.

Kritik am Finanzmarktkapitalismus der Jahrtausendwende?

Klugkist hat den Roman zur geistigen Situation der Bourgeoisie in Zeiten verfallender Portfolios geschrieben. Nicht der skeptische Sebastian, sondern dessen Vater ist dem Rausch erlegen, sich am „Börsengang“ (der Telekom) zu beteiligen, in der Hoffnung, sein Vermögen zu vervielfältigen. Stattdessen verliert er so viel Geld, dass der Sohn sein Erbe abschreibt. Das Mitleid darf sich in Grenzen halten. Zwar geht das „Schloss“ der Familie im Gefolge des Kurssturzes am Neuen Markt verloren. Doch Sebastians Rede von einem „Totalverlust“ ist übertrieben, wenn man bedenkt, dass noch eine „Drei-Zimmer-Altbauwohnung in Charlottenburg“ geblieben ist, „gekauft mit dem letzten Rest des Familienvermögens“. Auch ein geräumiges Anwesen in Umbrien, wo der Vater seine letzten Lebensjahre orgiastisch abgefeiert hat, fällt nach dessen Tod Sebastian als Refugium zu. Dass sich der Vater verspekuliert hat, motiviert im Roman das Interesse des Sohns für den Finanzmarktkapitalismus, das mit einer politischen Radikalisierung einherzugehen scheint.

Wenn der Historiker Sebastian am 9. 9. 2001 orakelt, dass eine „Epoche“ zu „Ende“ gehe, dann spielt er damit nicht nur auf die imperiale Überdehnung der USA an, sondern auch auf die Entwicklung der Investments eines Bürgertums, dem eine Deprivation durch die Bankberater droht. Im Rückblick diagnostiziert er seit dem 11. 9. eine Ausbreitung von Wahnsystemen, gegen die er seine „Revolutionsplattform“ bottomupp in Stellung bringt. Dort wird Sebastian zum „radikalen Kapitalismuskritiker“ stilisiert. In der Tat moniert er gegen Ende des Romans, im Mai 2009, mit Blick auf den Bankrott von Lehman Brothers, dass die Banken trotz der Finanzkrise einfach „den Hals nicht vollkriegen“ können, obwohl ihretwegen in den „Entwicklungsländern“ jetzt „rund hundert Millionen Menschen mehr“ hungern. Die Minimalforderungen auf bottumupp lauten: Rückkehr zum Goldstandard, fairer Handel, Finanztransaktionssteuer und Trennung des Investmentbankings vom Kreditgeschäft. Revolutionär ist das nicht. Sebastians Mitstreiter wenden sich auch gegen den „kommunistisch verbrämten Kapitalismus in China“, dessen „ameisenkalte Funktionärsdiktatur“ sie mit rassistischem Unterton verurteilen. Formiert sich hier eine Allianz von Wutbürgern, denen in der globalen Konkurrenz der soziale Abstieg droht? Sebastians Feindbild ist der an die Matrix angeschlossene „Ego-Säugling“, der den „Konsum, die Finanzmärkte, die Machtmaschinen und Korruptionsmechaniken in Gang hält“. Politisch ist er ein erklärter Gegner des „Extremismus“, den er zum Nationalcharakter der Deutschen erhebt. Sie hätten schon „mit Hitler den Vogel abgeschossen“, nun träten sie als antinationale, ökologische oder pazifistische Extremisten auf den Plan, dabei immer noch genauso „ordnungsverliebt“ wie die „wilhelminischen Kolonialherren oder nationalsozialistischen Völkermörder“. – Wenn Hanna Sebastian energisch in die Parade seiner steilen Thesen und Vergleiche gefahren wäre, dann hätte dies dem Roman die Chance einer Zuspitzung und Entwicklung ihres Verhältnisses geboten.

Die platzenden Blasen des Kasino-Kapitalismus

Gemeinsam erliegen Hanna und Sebastian dem nationalen Taumel der Fußballweltmeisterschaft 2006. Im selben Atemzug verkündet Sebastian, dass ihn ein Ökonom vor dem Platzen der Immobilienblase in den USA gewarnt habe. Derselbe weiß im März 2007 schon, dass an den Börsen „die Vernichtung von Werten“ drohe, „die ganze Nationen in Jahren nicht wieder erwirtschaften könnten“. Sebastian kann noch im Juli 2007 nicht erklären, wie der „Finanzsektor“ funktioniert, doch ist er sicher, dass „da etwas im Gange“ sei. Im August sieht der Augur den „Immobilienballon“ im Sinkflug. Wenn Sebastian Hanna die Krise erläutert, bedient er sich kollektiver Symbolik, die den ökonomischen Diskurs so plausibel erscheinen lässt, dass ihn jeder trotz der Bildbrüche spontan zu verstehen glaubt: „Platzende Blasen scheinen ja überhaupt ein Trieb- und Backmittel des Kapitalismus zu sein“. Sebastians Ausführungen über die „Irrationalität der Finanzmärkte“ oder „globale Kasinos“ sind zum Teil auch anschlussfähig an die Sprechblasen von Hans-Werner Sinns Kritik am Kasino-Kapitalismus, aber kaum je kapitalismuskritisch.

An einer Stelle appelliert Hanna an Sebastian, sein Blasen-Delirium aufzugeben, und sich auf andere Bilder einzulassen. Er solle sich den Strömungen anvertrauen, dem „Meer, das mit anderen Meeren zusammenfließt“. Aber Sebastian ist ein Gefangener seiner fixen und der Gesundheit nicht zuträglichen Idee, dass ein Wiedersehen mit Hanna unvorstellbar geworden sei. Für die Botschaft von Hanna, dass nichts „gefährlicher“ sei, als „Gefühle zu vermeiden“, ist er an diesem entscheidenden Punkt nicht aufnahmefähig. Der Mann hat Blut im Stuhl, nimmt rapide ab und droht bald gänzlich zu verschwinden. In seiner letzten Mail gibt er Afrika als Ziel für einen Neubeginn an, dort sei noch „offener Raum“ unter dem „traumhaften Sternenhimmel“. Unbeirrt von diesem salto mortale auf das Niveau eines Hans Grimm schreibt Hanna weiter. Die Deutschen sind sicher kein Volk ohne Platz für Sebastian. Dieser müsste nur sein eigenes ego-problem überwinden und in Hannas Hamburger Penthouse einziehen. Thomas Klugkist aber hat die Ökonomie seines Stoffs unter Kontrolle und bricht an der richtigen Stelle ab, am Tag, als Hanna das Flugzeug nach Athen besteigt.

Titelbild

Thomas Klugkist: Hanna und Sebastian. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
432 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406659607

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