Gesellschaftskritik und Lesevergnügen

Edith Whartons belletristische Analyse der Upperclass

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die New Yorker High Society in den Goldenen Zwanzigern ist Schauplatz des Romans „Dämmerschlaf“ der amerikanischen Schriftstellerin Edith Wharton (1862-1937). Im Mittelpunkt der Handlung steht die wohlhabende Pauline Manford, die alles daransetzt, mit ihrer Familie zu den besseren Kreisen zu gehören.

Diese eherne Zielstrebung ist äußerst stressig und zeitaufwändig: mentales Verjüngungstraining, Maniküre, Gesichtsmassage, Besprechung mit der Köchin – Mrs. Manford Terminkalender ist randvoll. Dazu noch die gesellschaftlichen Verpflichtungen, denn sie engagiert sich gleichermaßen für die uneingeschränkte Mutterschaft wie für die Geburtenkontrolle.

Mrs. Manford hat ihren ersten Ehemann verlassen, weil er ihrem Ehrgeiz zurückblieb und mehr Alkohol konsumierte, als in ihren Kreisen schicklich ist. Ihrem zweiten Ehemann, einem Anwalt, hängen diese ewigen Partys und Empfänge aber auch zum Hals heraus. Deshalb hängt sich Pauline an einen inspirierenden Psychoguru, der sich jedoch als Scharlatan entpuppt. Und dann ist da noch die Schwiegertochter, die von einer Karriere in Hollywood träumt. Ihr Konterfei auf Plakaten? – so tief ist noch kein Familienmitglied gesunken.

Wie soll man da bei dieser Ruhelosigkeit und gesellschaftlichen Erwartung als High-Society-Gastgeberin ein normales Leben führen? Auf Partynächte und Schönheitschirurgie folgen die Ernüchterung und eine innere Leere. In Whartons Schilderung spürt man die Verachtung für eine Gesellschaft, die mit Alkohol und Drogen eine Betäubung vor dem Alltag sucht. Kritisch hinterfragt die Autorin das Lebensgefühl und die schöne Scheinwelt der oberen Zehntausend und hat damit ein Thema angerissen, dass in jeder Gesellschaft aktuell ist. „Dämmerschlaf“ erschien 1927 und bereits vier Jahre später in deutscher Sprache. Nun liegt der satirische Gesellschaftsroman in einer neuen deutschen Übersetzung vor. Komplettiert wird er durch ein Nachwort, das dem Leser einige Informationen zu Edith Wharton und ihrem Werk vermittelt. Nach fast neunzig Jahren immer noch eine unterhaltsame Lektüre.

Titelbild

Edith Wharton: Dämmerschlaf. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott.
Manesse Verlag, Zürich 2013.
313 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783717521723

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