Angst, die Kontrolle über das Leben zu verlieren

Andreas Schäfer lässt den Leser in seinem Roman „Gesichter“ Angst und Schrecken spüren

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Berliner Neurologe Gabor Lorenz verbringt den Urlaub mit seiner Frau und seinen zwei Kindern auf einer griechischen Insel. Auf der Fähre, mit der die Familie „aus der Sorglosigkeit des Sommers“ nach Italien übersetzt, versteckt sich ein Flüchtling. Lorenz hatte beobachtet, wie er am Hafen auf einen Lastwagen aufgesprungen war. Gleichzeitig sah er Polizisten mit locker über den Schultern hängenden Maschinenpistolen und entschloss sich, den Mann nicht zu verraten. Stattdessen sucht er ihn während der Schifffahrt im Autodeck auf, wirft ihm eine Tüte mit Bananen zu und vergisst, dass sich in der Tüte auch Postkarten mit seiner Adresse befinden. Die Postkarten hatte Lorenz geschrieben, um sie nach dem Urlaub schrittweise an seine eigene Familie zu schicken, damit die Erinnerungen an den unbeschwerten Sommer lebendig bleiben. Damit ist die Grundlage gelegt für die aufkommende Beklommenheit in Andreas Schäfers neuem Roman „Gesichter“.

Denn der Flüchtling wird bei der Ankunft am Hafen aufgegriffen, sieht Lorenz „voller Hass an, als wäre Gabor für seine Ergreifung verantwortlich, als hätte Gabor ihn verraten“. Angst steigt in Lorenz auf, „er hatte die Karten mit ihrer Adresse und er kannte seinen Namen“. Tatsächlich kommt nach einer Woche die erste Postkarte bei Familie Lorenz an, abgestempelt in Italien; die zweite Karte wurde in München abgestempelt, der Mann kommt der Familie näher. Schließlich verschwindet Nele, die Tochter von Gabor Lorenz. Ist sie entführt worden? Die Polizei wird eingeschaltet, sie verwandelt das Haus der Familie in einen Tatort und sucht auf den Postkarten nach Fingerabdrücken.

Nicht selten greifen Thriller zur weiteren Steigerung der Ängste des Lesers auf Gewaltdarstellungen zurück. Andreas Schäfer verzichtet auf körperliche Gewalt und schafft es, das Grauen viel intelligenter zu intensivieren. Er stellt sich in die Tradition Alfred Hitchcocks, dem „Master of Suspense“. Die Gefahr des Angriffs ist gegeben. Die suggestive Kraft des Romans liegt in dieser vermeintlich näher kommenden Bedrohung und der aufkommenden Panik. Die den Hals zuschnürende Beklommenheit ist greifbar. Der Flüchtling bleibt schemenhaft im Dunkeln, erreicht das Haus der Familie scheinbar nur in der Nacht und wird nicht gesehen. Schäfer gesteht ihm noch nicht einmal eine Biografie zu.

Auch in der Realität zeigen die Behörden – wie immer wieder von Journalisten berichtet wird – an den Schicksalen der in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge kaum Interesse. Sie werden als Arbeiter ausgebeutet oder weggesperrt. In Lagern ohne Licht und mit Bettgestellen aus Beton warten Tausende von Flüchtlingen auf ihre Abschiebung. Als im Roman ein toter Flüchtling am Strand gefunden wird, machen sich die Anwohner nur Sorgen um die Immobilienpreise und das Image der Insel: „Man müsste ihnen in der Nacht entgegenfahren, ein Boot kentern und alle ertrinken lassen. Das würde dafür sorgen, dass sie unsere Insel in Zukunft meiden“, fluchen sie. Immer wieder sinken Boote vor Griechenlands Küste, zuletzt starben am 20. Januar 2014 etliche Flüchtlinge vor der Küste der kleinen griechischen Insel Farmakonisi. Die Einheimischen bezahlen im Roman Reedereien dafür, dass sie die Flüchtlinge möglichst schnell wieder von der Insel schaffen. Deutlich spürt der Leser die Kritik des Autors an der Flüchtlingspolitik Griechenlands.

Im Zentrum der Handlung steht aber das Misstrauen, das sich in alle Lebensbereiche der Familie frisst. Die Frau des Arztes beginnt, an der Geschichte ihres Mannes zu zweifeln. Gibt es den Flüchtling überhaupt? Gabor Lorenz erinnert sich kaum an das Gesicht des Flüchtlings, er hat Schwierigkeiten, Angaben bei der Polizei zur Erstellung eines Phantombildes zu machen. Ausgerechnet er, der einer Prosopagnosie-Forschungsgruppe angehört, der also Menschen untersucht, die keine Gesichter erkennen können, ist nicht in der Lage, das Gesicht in Erinnerung zu rufen. Hernach verschwimmen Gesichter vor seinen Augen; während seine Frau Berit mit ihm redet „sah er in ihrem Gesicht plötzlich die Züge einer unbekannten alten Dame“. Realität und Träume vermischen sich, zu wenig Schlaf verbindet sich mit der Angst um seine verschwundene Tochter. „Du siehst nur das, was du sehen willst“, klagt Berit ihn an. Schließlich schleichen Gabor und Berit umeinander „wie feindliche Tiere“. Es bringt „ihn fast um den Verstand, […] allein mit seiner Wut und der Ohnmacht und den quälenden Erinnerungen an seine nächtlichen Ausfälle“. Die Angst davor, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren und, dass man die Menschen, denen man bedingungslos vertraut, vielleicht gar nicht kennt, ergreift auch Besitz vom Leser. Indem der Leser sich auf die Achterbahn der Ängste und Schrecken einlässt, erfährt er mehr über seelische Qualen und innere Zweifel – an der Grenze des menschlichen Verstandes.

Das Besondere ist, dass die Spannung bis zum Schluss aufrecht erhalten wird. Die Auflösung wird bis zuletzt nicht erahnt, der Leser sieht lediglich wie Gabor Lorenz „die dräuenden Wolken eines größeren Zusammenhangs näher kommen“. Was tatsächlich passiert ist, lässt die Handlung des gesamten Romans in einem anderen Licht erscheinen und reizt dazu, ihn noch einmal zu lesen. „Gesichter“ ist kein trivialer Thriller. Es ist eine intelligente Komposition von Ängsten und den Fragen um Verantwortung und Schuld mit überraschendem Ausgang. Andreas Schäfer erweist sich als genauer Beobachter und als hervorragender – und auch sprachlich ausgezeichneter – Erzähler, dem es gelingt, dramatische Spannung in der Tradition Hitchcocks zu erzeugen. Es darf gehofft werden, dass der Roman vielleicht einmal verfilmt wird.

Titelbild

Andreas Schäfer: Gesichter. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2013.
253 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783832196646

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